Der Glaube an die eigene Kraft

Manchmal, wenn ich einen Beitrag verfasse, zweifle ich am Grundton meiner Texte. Soll ich das Tao, das überall präsent ist, weiterhin so betonen, wie ich es mache – oder wäre es sinnvoller, das Tao als Quelle aller Energie einfach vorauszusetzen und in den Aufsätzen die Eigenleistung stärker zu betonen. Ich habe probeweise zwei Versionen zum gleichen Zitat verfasst – und Ihre Stellungnahme dazu wäre mir eine Hilfe für meine kommenden Arbeiten.

I.

Wenn es einen Glauben gibt, der Berge versetzen kann, dann ist es der Glaube an die eigene Kraft
Marie von Ebner-Eschenbach

Lassen Sie uns den Glauben an die eigene Kraft Selbstvertrauen nennen. Dann ist es leichter festzustellen, ob sie da drinnen in uns wohnt oder nur eine gelegentlich auftretende Begleiterscheinung unserer emotionalen Tagesform ist. Jeder von uns kennt vermutlich Leute, die vor Kraft und Selbstbewusstsein förmlich zu bersten scheinen – aber das sind meist nur gute Schauspieler, die am Syndrom der Erhabenheit leiden und von deren Kraft wenig übrig bleibt, wenn erst mal die Luft heraus ist.

In Ihrem vertrauten psychischen Zustand leben Sie in dem Gefühl, sich als einem Individuum vertrauen zu müssen, das unabhängig von der Bewegung der Welt seine Probleme und Konflikte mit Hilfe der engen Rinne eigener Erfahrung und eigenen Wissens lösen muss. Sobald Sie aber ein Gefühl für Ihre untrennbare Verbundenheit mit dem Geschehen draußen gewinnen, zieht die Energie das Tao bei Ihnen ein. Sie sind dann zwar noch immer allein, aber nicht mehr einsam. Sie sind immer noch Sie selbst, aber Sie erleben sich frei von den alten, isolierenden Reflexen Ihres Geistes als den Verursacher, die Verursacherin Ihres Lebens.

Dieses Selbst, dem zu vertrauen ich Sie ermutigen möchte, bezieht alle Ereignisse Ihres Lebens in Ihre Identität ein. Wenn Sie in diesen emotionalen Standort hineinfinden, wird Selbstvertrauen, also der Glaube an die eigene Kraft zum Grundgefühl eines Geistes, in dem alle Regungen, Ihr Denken, Ihr Wissen, Ihre Erfahrung, aber auch Ihre Instinkte, Ihre kreativen Impulse und Ihre Intuition zusammenfließen.

II.

Wenn es einen Glauben gibt, der Berge versetzen kann, dann ist es der Glaube an die eigene Kraft
Marie von  Ebner-Eschenbach

Wo war sie, diese eigene Kraft während Ihrer letzten Krise? Hat der Glaube an sie, wie die Ebner-Eschenbach betont, Ihnen herausgeholfen aus dem Lebensproblem? Spüren Sie überhaupt die Kraft des Siegers in sich, wenn Probleme nahen? Schauen Sie zurück in Ihre Kindheit: als diese berühmte eigene Kraft in Ihnen heranzuwach-sen begann, wie haben Ihre Eltern darauf reagiert? Solange Sie brav waren und nicht auffielen, ist Ihnen nichts passiert, wurde nichts unternommen, um Sie auf die richti-ge handliche, pflegeleichte Größe zurechtzustutzen. Aber wehe, wenn die innere, einst so unverwüstliche kindliche Kraft in eine Richtung zielte, die vom Erziehungs-konzept (oder vom Bedürfnis nach Bequemlichkeit der Eltern) abwich? Da wurde der kleine Mensch dann auf der Stelle auf die scheinbar richtige Größe zurechtge-stutzt. Was ist nach der Pubertät von Ihrer eigenen Kraft, von diesem Potenzial an Lebensenergie übrig geblieben, das Berge versetzt? Wenig? Oder überhaupt nichts? Fühlen Sie sich oft oder selten als Verlierer, als ein Mensch der von den Umständen gelebt wird, statt selber zu leben? Hat man Ihnen beigebracht, für ein kleines Quäntchen Sicherheit ein Universum an Freiheit aufzugeben. Wohnen noch Mut und Tatkraft in Ihnen, nachdem einige Misserfolge die Thesen Ihrer Erzieher und Lehrer als richtig bestätigt haben? In vielen Erwachsenen ist nicht mehr viel da von dieser eigenen Kraft, die Berge versetzen kann. Was übrig blieb, reicht gerade noch aus, sich im Beruf an der Oberfläche zu halten, ohne unterzugehen.

Also weg mit dem hübschen Spruch und weiter mit einem Dasein voller chronischer Probleme und Lebensangst? Das muss nicht sein. Gut, uns wurde der Glaube an die eigene Kraft zwar gepredigt, aber sobald wir sie einsetzen wollten, kam der Dämpfer von oben. Trotzdem ist nicht alles verloren, gleich, was in Ihrem Leben bisher ge-schehen ist. Ich möchte Ihnen andeuten, wie ein Mensch fühlt und handelt, der sich der noch immer vorhandenen eigenen Kraft bewusst ist, der noch immer daran glaubt, dass in ihm ein Potenzial an Energie wohnt, das weit über alles hinaus reicht, was er bisher im Alltag eingesetzt hat. Mit dieser Kraft, an die zu glauben, der zu vertrauen uns viel zu früh abgewöhnt wurde, verhält es sich vielleicht ähnlich wie mit einem wahnsinnig gewordenen Menschen: es ist bekannt, dass geistig Gestörte, wenn sie zu randalieren beginnen, plötzlich über gewaltige Körperkräfte verfügen. Es sind noch die gleichen Knochen, Muskeln und Sehnen – und doch explodiert hier eine Energie, die nur möglich wird, weil keine emotionalen oder intellektuellen Hemmungen sie mehr bremsen. Analog schlummern in uns die Energien des Univer-sums, in jedem Menschen wohnt die Lebenskraft, die Grashalme durch Betondecken wachsen lässt und Felswände zertrümmert. Diese Kraft, die Berge voller Nöte und Sorgen versetzt, wohnt in uns. Wir sollten uns das bewusst machen – und es glauben. Wir müssen einfach die Hemmungen einer verkehrten Erziehung samt ihrer Folgen für unser Selbstvertrauen abwerfen, alle schwächlichen Bedenken beiseitefegen, wie der Wahnsinnige seine alte, normale Körperkraft.

Wenn ich an die eigene Kraft glaube, wird sie aktiv, wenn sie gebraucht wird. Lassen Sie uns von dieser Stunde an aufhören, in Kategorien der Schwäche und Unterlegenheit von uns zu denken. Der wesenhafte Mensch powert los, wie ein selbstbewusster Jugendlicher heute sagen würde.

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13 Antworten zu Der Glaube an die eigene Kraft

  1. gitti sagt:

    Lieber Herr Fischer!

    Ich persönlich fühle mich wohler und mehr angesprochen von der 1.Version, denn darin sehe ich wesentlich mehr als einen psychologischen Ratgeber(2.Version).
    Spielt jedoch das TAO eine zentrale Rolle, entsteht dieses einzigartige Grundgefühl der Sicherheit das von nichts Äußerem abhängig ist.
    Ich hoffe, ich habe mich einigermaßen klar ausgedrückt.
    Liebe Grüße
    Gitti

  2. Also für mich war die erste Version kraftvoller. Die zweite Version hat mich zu stark an meine Kindheit erinnert und ein Gefühl der Hilflosigkeit hinterlassen, das sich bis zum Schluss nicht mehr gelegt hat. Damals wusste man noch nichts vom Tao, das so kraftvoll ist, dass es einem sogar aus Kindheitsfallen befreien kann. deshalb werde ich gerne mit dem Tao konfrontiert, das mich als Kind, weil ich es damals leider noch nicht kannte, leider nicht retten konnte. Aber jetzt im Alter habe ich Kenntnis davon und ich werde gerne daran erinnert, dass sogar das Wort Tao alleine schon ein Gefühl der Hoffnung und Sicherheit auslösen
    kann. Bitte nicht aufhören damit!

  3. Andrea sagt:

    Lieber Herr Fischer,

    die erste Version ließ mich frei, gelöst und heiter sein. Die zweite Version machte mich schwer, bedrückt und traurig.

    Liebe Grüße
    Andrea

  4. Taononymus sagt:

    Lieber Herr Fischer,

    ich kann mich Gitti, Petra Schuster und Andrea nur anschließen. Emotional wirken die beiden Versionen auf mich im wesentlichen genau so wie diese Drei es schon beschrieben haben.

    Und auch den von Petra Schuster schon angerissenen Gedanken, dass eine vom Tao „mitgestaltete“ Sicht auf das eigene Leben für viele relativ neu und ungewohnt ist und daher noch mehr herausgestellt werden sollte, kann ich nur unterschreiben.

    Im Gegensatz dazu hat das Herausstellen der zweifellos vorhandenen Eigenverantwortung zumindest für mich mittlerweile sogar gleich mehrere „Geschmäckle“, wie der Schwabe sagen würde.
    Beispielsweise wude in der westlichen Welt beim Thema Eigenverantwortung mittlerweile jahrzehntelang ANDEREN Wasser gepredigt und SELBST Wein getrunken.
    Als Folge davon sind im gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bereich die Nachrichten seit Jahren dominiert von Krisen, die durch Leute verursacht werden, die sich selber nichts und niemandem gegenüber verantwortlich fühlen, während sie anderen ständig DEREN Eigenverantwortung predigen.
    Und im privat-zwischenmenschlichen Bereich macht sich dieses Phänomen als Gleichgültigkeit bis hin zur Verweigerung des durchaus vorhandenden Einfühlungsvermögens unter Hinweis auf die „Eigenverantwortung“ des Anderen genauso massiv bemerkbar.

    Klar, es gibt schon noch viele Menschen, die in manchen oder gar allen Bereichen ihres persönlichen Lebens in einer Opferhaltung feststecken und damit sich und anderen das Leben schwer machen.
    Nur, dieses Ausleben einer „bequemen Opferrolle“ wird nach meinem persönlichen Eindruck mittlerweile von mindestends ebenso vielen Menschen sehr wohl durchschaut und abgelehnt.
    Und damit ist die „Opferrolle“ auch nicht mehr besonders „salonfähig“, ganz im Gegensatz zum nach wie vor grassierenden gesamtgesellschaftlichen Selbstbetrug mit der Eigenverantwortung.
    Diese wird nämlich immer dann hervorgezerrt, wenn ein eigentlich Verantwortlicher sich unter Hinweis auf die Eigenverantwortung ANDERER aus seiner EIGENEN Verantwortung herausstehlen will.

    Viele Grüße,
    Taononymus

  5. Michael sagt:

    Lieber Theo Fischer,

    mich hat doch die 2.Version mehr angesprochen.
    Sie ist konkreter und trifft den wunden Punkt auch bei mir.
    Im Grunde sieht man ja auch aus den bisherigen Antworten, dass mit dieser Version „ein Nerv getroffen wurde“.
    Warum sollten wir uns nicht mit der Wahrheit konfrontieren, wenn sie traurig, bedrückt oder hilflos macht?
    Sicher, das ist nicht so erbaulich wie die 1.Version, die etwas abstrakter ist.
    Aber durch das Anschauen der Probleme, die uns aus unserer Kindheit geblieben sind, ergibt sich auch eine Lösung!
    Einfach dadurch, dass ich die Prägungen erkenne und daraus resultierende Verhaltensweisen loslasse!
    Liebe Grüße
    Michael

    • gitti sagt:

      Lieber Michael!
      Ich habe erkannt, im Schutze des TAO läßt es sich wesentlich leichter auf die alten Prägungen zu schauen. Hier passiert dann eine hohe Form der Selbsterkenntnis.
      Man braucht auch nicht mehr Alles endlos zu hinterfragen, und Vieles löst sich von selbst.
      Liebe Grüße Gitti

      • Michael sagt:

        Liebe Gitti,
        ja, ich stimme Dir zu!
        Ich sehe auch gar keinen Widerspruch zwischen uns.
        Wenn in der 2.Version von der „eigenen Kraft“ die Rede ist, dann meint das doch die Kraft, die aus dem Tao kommt.
        Das Tao wird lediglich nicht explizit genannt.
        Wo soll die Kraft sonst herkommen, die durch die Wahrnehmung der Situation bereits Veränderung bewirkt?
        Die Kraft des Tao ist meine eigene Kraft!
        Liebe Grüße
        Michael

  6. JE sagt:

    Lieber Theo,
    liebe Teilnehmer/-innen dieses Blogs,

    mich sprechen beide Versionen an, aber ich tendiere sehr stark zur zweiten Version, denn meine Stimmungen, gerade, was das Thema Selbstvertrauen und Kraft betrifft, sind doch einem starken Wandel unterworfen –zumindest kann ich das aus meinen Erfahrungen und für mich so feststellen.

    Ich denke es ist auch mit entscheidend, in welcher Lebens-Situation der betreffende Leser in diesem Moment gerade ist.
    Die erste Version trifft es besser, in den Lebensphasen, in denen ich über diese Kraft verfüge, die zweite Version hingegen geht tiefer…gleichzeitig ist sie aber auch hilfreicher, in Situationen, in denen man an sich zweifelt und diese Kraft überall zu sein scheint, nur nicht in mir. Als ich die zweite Version gelesen habe, war ich „sofort dabei und mitten drin“, ich konnte dem nur beipflichten: „Stimmt, das Gefühl kenne ich….“.

    Lieber Theo, Du beschreibst dieses Gefühl, das viele von uns sicher auch (und vor allem) aus der Kindheit kennen, sehr treffend, gleichermaßen baust Du hieraus sehr trostreich und aufbauend den Weg auf, den jeder -aus sich selbst heraus- dann finden kann…-einfach wunderbar.

    Herzliche Grüße
    JE

  7. Lieber Herr Fischer,

    beide Textversionen mag ich, wenngleich mir die Zweite mehr zusagt…
    Erstere entspricht mir immer dann eher, wenn ich mich in meiner
    Kraft/Mitte befinde, die zweite Version kommt mir entgegen, wenn ich zu
    zweifeln beginne und mich als von der Welt abgeschnitten begreife,
    wenn ich also nicht „im Fluss“ bin.
    Leider ist letztgenannter Zustand bei weitem überwiegend und somit ist mir das persönliche Angesprochen-sein der zweiten Version lieber!

    Vielen Dank für Ihren Blog und die vielen anregenden Texte!

    mit liebem Gruß

    Dorothea Klauser

    • Taononymus sagt:

      Lieber Herr Fischer,

      habe die zweite Version jetzt nochmal etwas länger auf mich wirken lassen und muß sagen, daß ich mich mehr und mehr dafür erwärmt habe. Was bei mir anfänglich als abweisend und kraftmeiernd ankam, empfinde ich nun zunehmend als stärkend und klärend…. muß also gestehen: ich konvertiere 😉

      Ganz platt statistisch gesehen steht es ja nun unentschieden, was den Zuspruch Ihrer Leser zu den beiden doch sehr Versionen des Textes angeht.
      Sie hatten eingangs eine typische Entweder-Oder-Frage gestellt („Soll ich das Tao oder die Eigenleistung stärker betonen…“) … und nun eine recht „taogemäße“ Sowohl-Als-Auch-Antwort erhalten.

      Falls Sie sich hier überhaupt darüber äußern möchten, würde mich interessieren, was Sie mit diesem Resultat nun anfangen?

      Viele Grüße ins Piemont,
      Taononymus

      • Theo Fischer sagt:

        Zur Diskussion um den Glauben an die eigene Kraft möchte ich noch einen Kommentar abgeben: Die erste Version entspricht etwa dem Stil, mit dem ich einst Wu wei geschrieben habe, das heute noch immer neue Anhänger findet. Nichts von dem, was in Fassung eins steht, müsste ich zurücknehmen, weil es vielleicht falsch wäre. Ich spreche damit freilich stärker die Gefühle als den nüchternen Verstand an. Version zwei dagegen drückt die Art und Weise aus, die Lebenshilfe aus dem Tao nüchterner und verstandesbetonter darzustellen. Im Entwurf für meinen neuen Titel DIE UMDENKWERKSTATT neige ich stark dazu, die Texte ähnlich der zweiten Version zu verfassen – was ich im Übrigen auch in meinen jüngeren Werken bereits getan habe, und dies nicht unbedingt mit rauschendem Erfolg beim Publikum. Das Echo auf meinen Versuch im Blog ist geteilt, bestätigt aber immerhin statistisch mindestens zur Hälfte meine eigenen Überlegungen. Ich habe mich inzwischen klar und unmissverständlich dafür entschieden, mein nächstes Buch im Geiste der zweiten Version zu verfassen und eben auch zu riskieren, dass die Hälfte meiner Stammleser enttäuscht sein wird. Dafür wird vielleicht ein erweiterter Kreis von Menschen auf der Suche nach Lebenshilfe auf meine Arbeiten aufmerksam. Warten wir es ab – nichts im Leben ist frei von Risiko. Also, danke für eure Stellungnahmen.
        Euer Theo Fischer

        • gitti sagt:

          Lieber Herr Fischer!
          Danke für Ihre klare Antwort. Ich habe daraufhin den Artikel „Umdenkwerkstatt“ aus dem Tag und Tao Heft
          noch einmal genau gelesen.
          Jetzt verstehe ich auch was Sie meinen mit der 2. Version.
          Dieser neue Zugang den Grund der Dinge zu verstehen erinnert mich an Erich Fromm.
          Über den Verstand berührt zu werden und die Dinge klar zu sehen ist mindestens genauso wertvoll als über Gefühle.
          Besonders freue ich mich, daß Sie ein neues Buch schreiben werden.

          Viele liebe Grüße auch an Ihre Frau Sabine
          Gitti Haas

  8. Kathi sagt:

    Hallo Herr Fischer,

    ich mag die zweite Version. Sie ist klar und erreicht mich sofort.
    Die erste Version ist trotzdem sehr schön geschrieben. Also warum immer den gleichen Grundton? 🙂 Ich würde es vom jeweiligen Thema und der (Ihrer) Tagesstimmung abhängig zu machen.
    Manchmal möchte man klare Worte und manchmal lieber zwischen den Zeilen lesen… 😉

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