Lebenskunst

manchmal nehme ich morgens ganz wahllos eines der TagundTao-Hefte aus dem Regal und schlage irgendeine Seite auf.  Heute war es eine ziemlich aktuelle (finde ich), vom Juni 2009. Weshalb ich sie auch gerne mit euch teile.                                                                                                              Sabine

 

in einem Staat, in dem Zustände wie im Schlaraffenland herrschen, wäre Lebenskunst kein besonders gefragter Artikel. Angesichts der Krisen, die in diesen Monaten unsere Länder erschüttern, wäre die Verpflichtung an Jedermann, an einem staatlich verordneten Lehrgang in Sachen Lebenskunst teilzunehmen, vielleicht gar keine so üble Idee. Ein Kurs, in dem den Menschen die Lebensangst genommen wird, indem man sie ermutigt, ohne Rücksicht auf das Geschwätz der sensationslüsternen Medien, ihre Träume zu realisieren. Würde ein ganzes Volk nach einem solchen Lehrgang sein normales Konsumverhalten weiter kultivieren und sich seine Wünsche erfüllen, könnte die Krise gar nicht eskalieren. Aber weil dem Volk an Stelle eines Seminars in Lebenskunst einzig und ausschließlich Lebensangst gepredigt wird, so lange, bis die Gänsehaut nicht mehr weichen will, lösen diese verantwortungslosen Verkünder des Unglücks exakt jene verhängnisvolle Entwicklung aus, die sie für die Zukunft in Aussicht stellen. So unfähig ist der Mensch nun einmal, sobald er als Masse gefordert ist. Die Natur, oder meinetwegen die Evolution, hat den Homo Sapiens offensichtlich nicht mit der Gabe ausgestattet, Krisen intelligent zu begegnen. Ich glaube nicht, dass die Masse dies jemals lernen wird. Als Laotse seine Sprüche schrieb, hatten die Menschen im antiken China gewiss nicht viel zu lachen (ob das heute viel besser ist, erscheint mir fraglich). Die Lebenskunst des Tao te king war wie ein eingeschriebener Brief an Individualisten adressiert, an jene Menschen, die sich aus den Strömungen der Zeit und der anonymen Masse herauslösten und ihren eigenen Weg, die DEN WEG gingen. Sie befinden sich heute in einer ähnlichen, vielleicht sogar in der gleichen Situation wie einst die ersten Menschen des WEGES. Sie stehen vor der Wahl, sich entweder von der allgemeinen Panik vollends aus den Geleisen Ihres vertrauten Verhaltens hebeln zu lassen – oder aber sich auf eine Lebenskunst zu besinnen, die, unberührt von den Zeitläufen und ihren Verschiebungen, nichts von ihrer Magie eingebüßt hat.

Untersuchen wir doch den Begriff Lebenskunst im Hinblick auf seine Brauchbarkeit in Krisenzeiten ein wenig. Kunst kommt von Können, ein Mensch, der Lebenskunst praktiziert ist folglich jemand, der sein Metier beherrscht. Jedes Handwerk hat sein Lehrprogramm und bringt Meister hervor, die wiederum anderen durch Belehrung zu Meisterschaft verhelfen. Manche Könner sind Naturtalente, andere wieder, die Mehrheit, verdanken ihr Können intensivem Lernen, und einer Fülle von gesammelter Erfahrung. Wäre Lebenskunst ein Lehrberuf, träfen die hier beschriebenen Kriterien auch auf den Lernstoff zu, den uns Männer wie Laotse oder Chuang tzu liefern. Dann würden Meister gebraucht, wie beim Zen-Buddhismus, die selbst bei anderen Meistern in die Lehre gegangen waren, bevor sie selber ein Kloster oder eine Schule leiten durften. Zum Glück kann man aus dem Taoismus keinen Beruf machen. Natürlich kann er gelehrt werden. Aber er braucht keine Meister, die unter Berufung auf einen höheren Auftraggeber ihres Amtes walten. Das Schöne an der taoistischen Philosophie – und für viele suchende Menschen auch das am meisten Irritierende – ist die Tatsache, dass Einführungen in das Wesen des taoistischen Denkens einzig als Wegweiser funktionieren, als behutsame Hinweise auf die Richtung, die ein Mensch einschlagen sollte, der den WEG sucht. Niemand beruft Sie, es findet keine Wahl statt, in der eine „Höhere Macht“ mit dem Geistfinger auf Sie weist und Sie auffordert, ihr nachzufolgen. Und natürlich fehlen jene Leute, deren fleischlicher Finger auf Sie deutet und die sich als Statthalter dieser Macht auf Erden ausgeben. Nichts von alledem gibt es in der reinen Lehre vom Tao. Der Mensch ist absolut auf sich selbst gestellt. Er hat die Chance, einen Meistergrad in Lebenskunst zu gewinnen – aber den muss er sich ohne fremde Hilfe, allein aus sich heraus, erarbeiten.

Allen Aussagen zum Trotz wohnt in der Tiefe des menschlichen Bewusstseins eine Keimzelle, aus der sein Geist die Impulse zu echter Lebenskunst gewinnen könnte, wenn er diese Zelle nur entdecken würde. Die Problematik besteht nicht in der Frage, ob denn jeder so etwas in sich trägt – das Problem sind die unzähligen falsch aufgestellten Überzeugungen zu diesem Phänomen. Entgegen aller Logik sind es gerade die Theorien vieler so genannter Meisterschulen der Lebenskunst, welche dafür sorgen, dass diese Keimzelle grundsätzlich missachtet wird. Sie wird überlagert vom Lärm und vom Ringen, dem Problem des Lebens mit Methoden beizukommen. Jedes System zur Förderung der Lebenskunst wird zum Totengräber für die in dieser metaphorischen Keimzelle schlummernde wirkliche Kunst, dem Leben intelligent und kraftvoll zu begegnen. Sie können diesem Keim des Wohlseins in sich nur auf eine einzige Weise begegnen: indem Sie auf alle Theorien in Sachen Lebenskunst verzichten. Indem Sie sich allen diesbezüglichen Einflussnahmen verweigern. Indem Sie nichts davon, absolut nichts, glauben, geschweige, es befolgen. All dieser so schön anmutenden Verheißungen für ein besseres Dasein beraubt, bleibt in Ihnen nichts als Leere zurück. Und Einsamkeit. Sie sind allein mit sich in Ihrem Mikrokosmos von Sorgen und Herausforderungen. Doch in dieser scheinbaren inneren Wüstenlandschaft rühren sich die Impulse, die sich Ihnen aus dem Urgrund der Dinge mitteilen. Den Keim in sich entdecken und ihn in der Stille absoluten Alleinseins wie ein zartes Pflänzlein zu hegen und zu pflegen – das ist der Weg zur Meisterschaft in Sachen Lebenskunst.

 

                                            

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7 Antworten zu Lebenskunst

  1. Walther L. P. von Gottberg sagt:

    DANKE für die Erinnerung.
    Vieles durch Theo Gelerntes wird im Alltag z.B. durch Trump’sche beispiellose Leere übertüncht! Es sind eben diese schlechten Beispiele mit großer Wirkung die es doch tatsächlich schaffen, mich abzulenken vom WEG. DANKE für das gelungene Zurückführen zum Wesentlichen, dem TAO‘tischen von Theo!
    Herzliches aus Hamburg

  2. Damals wie Heute, dürfte der Verantwortliche der eigenen Geist sein,
    der uns auf dem Weg immer wieder Steine in den Weg legt.
    Zu groß scheint die Versuchung, mit den Gedanken abzuschweifen
    und aus diesen zu Handeln.

    Es scheint eine große Herausforderung im Moment zu bleiben
    und dem Augenblick die völlige Aufmerksamkeit zu schenken.
    Lediglich zu beobachten und somit das Steuer abzugeben,
    an eine Instanz, die das Lenken besser beherrscht.
    Wohl dem, der dies beharrlich umzusetzen vermag und somit
    wahre Lebenskunst praktiziert.

    Viele Grüße
    Rainer Schwenkkraus

    • Sabine sagt:

      vielleicht ist es ja grade die Beharrlichkeit, die uns immer wieder eine Falle stellt. Der Wunsch, die Steine ein für alle mal aus dem Weg zu räumen, die uns unser Geist immer wieder in den Weg schmeißt. Vielleicht sollten wir einfach glücklich sein über jeden Moment, in dem wir loslassen und uns dem Lauf des Wassers überlassen können. dann wär die Sachen zumindest etwas weniger frustrierend 😉 Sabine

      • Liebe Sabine,

        hier dürfte sich der Unterschied zwischen einem Taoisten und einem Zen-Praktizierenden ausdrücken.

        Es freut mich sehr, diese Zeilen von dir zu lesen,
        denn genau darüber, habe ich mit Theo auch einmal philosphiert.

        Viele Grüße in das wunderschöne Piemont
        Rainer

        • gitti haas sagt:

          Ich denke es liegt tatsächlich daran, daß wir glauben die Steine ein für alle mal aus dem Weg räumen zu müssen.
          Immer wieder möchten wir eine endgültige Lösung.Doch die gibt es nicht, komme ich immer mehr drauf.
          Nach dieser Erkenntnis kann man entweder in Resignation fallen, oder aber es als Chance begreifen und mit den Dingen gehen, uns dem Lauf des Wassers überlassen. Dies zu verstehen (in hellen Momenten) bedeutet Freiheit.
          Liebe Grüße Gitti

  3. Karla Müller sagt:

    Mit 87 Jahren habe ich nach langem Suchen eine Sicherheit gefunden, die mich ruhig und unbesorgt den letzten Teil meines Lebens bestehen lässt. Alt-Sein ist nicht leicht! Ich nehme dankbar alles an, was mir begegnet- dank Theo Fischers Publikationen!
    Wie leicht kann Leben sein, wenn man Vertrauen in die „Keimzelle“ hat, die einem geschenkt ist. In Ruhe und möglicher Gelassenheit einfach da sein!
    Schwerer fällt es dagegen, den geistigen Wirren zusehen zu müssen, denen die Kinder und Enkelkinder ausgesetzt sind, weil sie diese Vertrauen noch nicht gefunden haben. Dazu ist ein langer Weg vonnöten!
    Zum Abschluss ein kleines Gedicht von Angelus Silesius (1624-1677)
    Die Ros‘ ist ohn‘ warum,
    sie blüht, weil sie blüht.
    Sie acht nicht ihrer selbst,
    fragt nicht, ob man sie sieht.

    • gitti haas sagt:

      Liebe Frau Müller!
      Ihre Zeilen haben mich berührt. Bewußt alt zu werden, durch tiefe Selbsterkenntnis, ist wohl unsere Aufgabe. Ich bin 67 Jahre und auch auf dem Weg; mit so manchen Rückschlägen.
      Alles Gute für Sie Gitti Haas

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