Sinnsuche

Zwischen Vergehen und Wiederbeginnen
liegt das Unmögliche. Und es geschieht.
Wie und warum waren nie zu ersinnen.
Neu klingt dem Neuen das uralte Lied.
Geh nicht zu Grunde, den Sinn zu ergründen.
Suche du nicht. Dann magst du ihn finden.
Mascha Kaléko

Die Wurzel unserer Ängste ist die Vergänglichkeit. Und diese Furcht bezieht sich nicht allein auf das Ende unseres irdischen Daseins – sie entsteht viel zu oft bei viel zu vielen Anlässen. Da gibt es zahllose Möglichkeiten uns mit trüben Gedanken zu belasten: Der Fortbestand unserer Beziehungen zum Beispiel, gesundheitliche Störungen, Sorgen um Hab und Gut und unser Einkommen, wir sehnen uns nach Ruhe und Frieden, aber unsere phasenweise auftretenden Ängste lassen dies nur selten zu. Ruhe und Stille stellen sich in den Sternstunden unseres Bewusstseins ein, wenn wir aufgegeben haben. Dann teilt der Sinn sich uns auf seine eigene, magische Weise mit, indem er uns unsere zweite, zeitunabhängige Identität mit ihrem unendlichen Radius spüren lässt.

Solange wir denken, fühlen, handeln und leben wird es die Polarität von Entstehen und Vergehen geben. In allem, was wir tun, findet – verglichen mit dem Universum – im Miniaturformat kontinuierlich ein Prozess von Schöpfung und Auflösung statt. Ohne diese Bewegungen wäre das menschliche Dasein vielleicht ohne Ursachen für Ängste, aber dafür auf eine penetrante Weise öde und monoton. Dann lieber den Tendenzen des Wandels und Vergehens mit einem unbeschwerten Sinn ins Auge blicken. Die alten Taoisten empfehlen einfach, dass wir uns ohne Widerstand mit den Dingen bewegen. Als ob wir in einem mächtigen Strom schwimmen würden, der uns ohne Anstrengung voran trägt. Wir folgen seinen Wirbeln und Windungen und Stromschnellen, im Wissen, dass wir nicht nur das treibende Wesen da drin im Wasser sind – sondern der ganze Strom!

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9 Antworten zu Sinnsuche

  1. Der Andere sagt:

    Dazu Carlos Castanedas Lehrer, Don Juan:
    „Ohne Tod keine Schönheit.“

    Die Tolteken Mexikos weisen beachtliche Kongruenz mit den Taoisten auf.
    Sie behandeln das gleiche Phänomen, nur die Terminologie ist eine andere.
    Womöglich sind die wenigen weltweit verbliebenen Schamanen die letzten Hüter des alten Wissens in unserer Zeit.

    🙂

  2. Michael sagt:

    Lieber Theo Fischer,
    gerade der letzte Satz ist wieder so ein Punkt, an dem der Geist „hängenbleibt“.
    Irgendwie spüre ich durchaus, dass es in mir einen Ursprung gibt, der jenseits der Zeit steht.
    Aber dass wir der ganze Strom sind? Das wäre ja eine völlig andere Identität, und damit diese bewusst wird müsste ich ja meine gewohnte Identität völlig aufgeben.
    Ist das überhaupt möglich? Und wenn ja, wäre es dann nicht eher „der Strom“, der sich in mir seiner selbst bewusst wird?
    Ist das der Vorgang, der in vielen fernöstlichen Religionen mit „Erwachen“ bezeichnet wird?
    Das ist ein faszinierendes Thema mit vielen offenen Fragen!

    Liebe Grüße
    Michael

    • Theo Fischer sagt:

      Hallo Michael,

      manchmal habe ich das Gefühl, meine Texte würden wie ein Rorschach-Klecks wirken – in jedem werden analog seiner inneren Zustände andere Reaktionen ausgelöst. Man kann behaupten, der Mensch ist der Strom, es lässt sich aber ebenso gut postulieren, der Grund würde sich im Menschen seiner selbst bewusst. Das östliche Erwachen – die berühmte „Erleuchtung“ mag entsprechende Gefühle oder Einsichten erzeugen. Berichten zufolge hat Satori aber leider eher die Wirkung eines heftigen Rausches, der sich auflöst, wenn die berauschende Wirkung abklingt.

      Der Gedanke, unsere bürgerliche, zivile Identität um einer Einsicht willen aufzugeben, würde nur eines bewirken: es würde uns reif fürs Kloster, aber untauglich für das Alltagsleben machen. Die größere zweite Identität wirkt sich, wenn ein Mensch sie zu verstehen beginnt, eher wie eine zweite Staatsbürgerschaft aus: die erste, in die man hineingeboren wurde und jene zweite, die man annimmt, weil man in einem fremden Land lebt. Aber diese zweite staatsbürgerliche Identität wird niemals die alte, gewachsene verdrängen können. Im taoistischen Sinne besteht die Wirkung der Einsicht in unserer Identitäts-Beziehung zum Tao darin, dass wir aus dem Umsetzen des Nichthandelns zu Teilhabern an jener kosmischen Energie werden, die eben mit dem Strom, mit dem Lauf des Wassers verglichen wird. Deutlicher kann ich etwas, von dem kein Mensch etwas wissen kann, nicht erklären. Sonst würde ich in eine Position geraten, zu definieren, wie groß eine Prise Salz für den Salat ist: grobes oder feines Salz?? Die Finger, welche die Prise abmessen – müssen die fein sein oder dürfen es auch grobe Pfoten sein, die das Salz abmessen. Vielleicht wäre da eine Norm, ein mathematischer Durchschnittswert eine Hilfe – dann müsste man freilich auch einen Quotienten für die Flüssigkeitsmenge der Salatsauce hinzufügen.

      Sonst alles klar? Herzlich TF

      • gitti sagt:

        Diese zeitunabhängige Identität mit ihrem unendlichen Radius, wie sie Herr Fischer so schön beschreibt ist also nicht greifbar und doch vorhanden.
        Ich genieße diese freischwebende Aufmerksamkeit (Sigmund Freud) immer mehr.
        Aus der anfänglichen Unsicherheit ensteht bald ein gesundes Selbstvertrauen. Nur die Frage wie komme ich dahin kann ich nicht beantworten. Es ist ja auch kein endgültiges Ziel, es ist eher ein berührt werden. Eine Offenheit ohne nach etwas Bestimmten zu suchen hilft enorm.

        Liebe Grüße Gitti

        • Theo Fischer sagt:

          Hallo Gitti,

          Sie fragen „wie komme ich dahin“, die Gegenfrage lautet: wohin bitte? Krishnamurti hat in einer Fragestunde dazu Stellung genommen. Er sagt sinngemäß, der Konflikt zwischen dem kleinen Selbst, das das universale greifen will, endet, wenn jemand alle Bindungen aufgibt. Damit sind keine Liebesbeziehungen gemeint, K. versteht darunter, dass wir einen unvoreingenommenen Abstand zu den eigenen gewachsenen Überzeugungen gewinnen, Abstand zu dem, was wir bisher geglaubt und in diesem Zusammenhang gewusst haben. Am einfachsten klappt so ein Ding dann, wenn ich alles je Erlernte mit dem unermesslichen Volumen des Universums vergleiche und mir klar mache, wie winzig der Ausschnitt ist, den mein Wissen und meine Kenntnisse darüber ausmachen.
          Auch Ihnen liebe Grüße TF

  3. Michael sagt:

    Lieber Theo Fischer, liebe Gitti,

    diese zeitunabhängige Identität ist sicher da, sonst könnte ich ja nicht alles wahrnehmen, meine persönlicheEntwicklung, meine Gedanken und sogar meine Gefühle.
    Und ich glaube auch, dass der Schlüssel eine freischwebende Aufmersamkeit und Offenheit ist. (wie Gitti sagt)
    Der Verstand ist an dieser Stelle eher nicht hilfreich.
    Irgendwo habe ich mal gelesen (sinngemäß): Das Tao ist das, was sowieso geschieht.
    Wir machen uns die Probleme nur selbst, indem wir uns aus irgendwelchen Gründen dagegen stemmen.
    Jedenfalls ist es gut zu wissen, dass die größere Identität nicht das Ende der kleineren Identität voraussetzt.

    Liebe Grüße
    Michael

    • Taononymus sagt:

      Hallo Michael,

      bei mir funktioniert am ehesten schon auch der Weg über’s Nichthandeln, wie Herr Fischer es oben angedeutet hat.

      Wie oft ringe ich in Angelegenheiten um Entscheidungen, in denen schlichtes Laufenlassen und Beobachten viel eher angesagt wäre, wie oft ertappe ich mich dabei, Wünsche zu hegen oder Ziele anzugestreben, die sich bei genauem Hinschauen als absurd erweisen.
      Das können kleine Alltagsangelegenheiten sein, bei denen sich das alles mehr unterschwellig aber fortwährend abspielt, bei denen die Wünsche und Ziele garnicht richtig bewußt sind und ich oft erstmal nur die Anspannung registriere, die diese ganze innere Reibung produziert.
      Es können aber auch so genannte „Lebensthemen“ sein.

      Aber jedes Mal, wenn es mir dann gelingt, zu sagen: „Stopp! Du lässt diesen Mist jetzt sausen, atmest durch, kochst Dir n‘ Tee oder gehst raus!“ tut sich ein Freiraum auf.
      Wenn ich Glück habe (Gruß an den außerhalb meiner Kontrolle stehenden Zufall 😉 stellt sich dann manchmal spontan so etwas wie ein Gefühl der Verbundenheit mit Allem drum herum und eine irgendwie gleichzeitig auf Alles und Nichts gerichtete Aufmerksamkeit ein.

      Und wenn nich, dann ist allein schon die Erleichterung durch den Freiraum, den das Nichthandeln mir gebracht hat, die Sache wert.

      Viele Grüße,
      Taononymus

  4. Michael sagt:

    Hallo Taononymus, hallo Theo Fischer, hallo Gitti,

    das sind alles sehr inspirierende und hilfreiche Antworten!
    Danke dafür!
    Die Aufmerksamkeit wird sicher benötigt um unterschwellige Wünsche, wie Taononymus sagt, überhaupt zu registrieren.
    Dann können Nichthandeln und Loslassen stattfinden.
    Ich bin in dem ganzen Thema immer zu stark auf das Denken fixiert und möchte logisch verstehen.
    Aber dann kommen eben die Überzeugungen, die Erfahrungen, das Erlernte ins Spiel und verengen den Horizont,wie Herr Fischer gesagt hat.
    Vielleicht kann man sagen, dass der Beitrag des Denkens und Wissens gerade darin besteht, am Ende festzustellen, dass man es nicht wissen kann!
    Und dann muss man irgendwann den Mut haben, den ganzen Ballast aufzugeben!
    Ich werde mal versuchen, die Ratschläge umzusetzen.

    Liebe Grüße
    Michael

  5. JE sagt:

    Lieber Theo,

    Dein Beitrag kam für mich in einer Zeit, in der ich von diesen Ängsten wieder einmal eingeholt wurde und hat mich daher besonders berührt.
    Die Zeiten, in denen ich das Gefühl habe, ich werde nicht vom Strom getragen, sondern der Strom schiebt mich an, schneller als meine eigene Fließgeschwindigkeit ist.
    Man fühlt sich getrieben und der eigene, innere Widerstand gegen diesen Druck, der von allen Seiten einströmt, wächst allmählich und zunächst unmerklich.
    Das sind die Momente, in denen man (noch) glaubt man muss, man will, man kann alles leisten, und das am besten bis zur Perfektion.

    An dem Punkt, an dem man innerlich aufgibt, kommt dieser Rückzug in die Stille und Ruhe, wie Du schreibst.
    Erst dann wird mir (wieder) bewusst, dass ich diese Geschwindigkeit und den Druck des (Lebens-) Stroms nicht nur selber bestimme, sondern ich ihn selber erschaffe und gestalte.
    Ich bin also auch diese äußeren Faktoren und nicht deren „Opfer“, denn ich entscheide selbst, wie ich mit diesen umgehen will und kann.

    Glücklicherweise gelingt mir das, was ich für mich als den „Rückzug in eine seichte Stelle des Stroms“ beschreiben möchte, doch immer rechtzeitiger, und ich kann mich dann auch wieder mit -unbeschwerterem- Sinn vom Strom tragen lassen.

    In diesem Sinne…
    Herzliche Grüße
    JE

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