Gnade ist beschämend wie ein Schreck. Ehre ist ein großes Übel wie die Person. Was heißt das: „Gnade ist beschämend wie ein Schreck“? Gnade ist etwas Minderwertiges. Man erlangt sie und ist wie erschrocken. Man verliert sie und ist wie erschrocken. Das heißt: „Gnade ist beschämend wie ein Schreck“. Was heißt das: „Ehre ist ein großes Übel wie die Person“? Der Grund, warum ich große Übel erfahre, ist, dass ich eine Person habe. Habe ich keine Person, was für Übel könnte ich dann erfahren?
Laotses dreizehnter Spruch zeichnet sich stärker als manche anderen durch die Schwierigkeit aus, ihn überhaupt zu verstehen. Was Sie oben lesen, ist die Übersetzung von Richard Wilhelm, die ich, wie schon öfter erwähnt, wegen ihrer Nähe zum Urtext schätze. Speziell dieser Spruch ist in vielen anderen Übersetzungen kaum wiederzuerkennen. Um ihn les- und verstehbarer zu machen, wurde kräftig interpretiert. Was ich nicht unbedingt für falsch halte, wenn die subjektive Auslegung des Übersetzers im Anschluss an den dem Original nahen Text geschieht – dies habe ich in den folgenden Absätzen ja auch vor. Lassen Sie aber den Spruch einmal auf sich einwirken, bevor Sie weiter lesen. Es ist wie mit einem Gedicht von Rilke. Man kann sich einen Abend lang mit mehreren Personen über seine Poesie unterhalten und jeder wird in den Worten eine andere Bedeutung finden. So ist es durchaus wahrscheinlich, dass Sie aus dem Spruch Einsichten ableiten, die Sie schlicht und einfach durch die Tatsache gewinnen, was Substantive wie Gnade, Schreck, Übel oder Person Ihnen sagen. Im Christen wird Gnade Assoziationen von Sünde, Schuld und Vergebung wecken, ein Dienstbote erkennt in dem Wort die „gnädige“ Frau, den „gnädigen“ Herrn. Und wer in seinem Leben Herausforderungen ausgesetzt ist, wo er auf die Zustimmung übergeordneter Personen angewiesen ist, wird Gnade eher als Wohlwollen, Gunst oder ganz primitiv als Lob ansehen. In meinen Stellungnahmen zu Laotse ist geistige Erbauung zwar erwünscht, aber mehr als Nebenwirkung des eigentlichen Zieles gedacht, nämlich, aus den uralten Texten die Hinweise zur Realisierung des WEGES zu schöpfen. Darum neige ich bei Laotses Vers zur Auslegung von Lin Yutang, der bereits für die Überschrift die Begriffe „Lob und Tadel“ wählte. So besehen, befasst sich der kryptische Inhalt von Laotses Text mit den nur allzu menschlichen Konflikten, die mit unserem Bedürfnis nach Ehre, Anerkennung und Lob zusammenhängen und unserer Angst vor den Auswirkungen ihrer Gegenpole Schmach, Ablehnung und Tadel. Weiterlesen