Kannst du deine Seele bilden, dass sie das Eine umfängt,ohne sich zu zerstreuen?
Kannst du deine Kraft einheitlich machen und die Weichheit erreichen,
dass du wie ein Kindlein wirst?
Kannst du dein geheimes Schauen so reinigen, dass es frei von Flecken wird?
Kannst du die Menschen so lieben, dass du ohne Wissen bleibst?
Kannst du, wenn des Himmels Pfortensich öffnen und schließen
wie eine Henne sein?
Kannst du mit deiner inneren Klarheit und Reinheit
alles durchdringen, ohne des Handelns zu bedürfen?
Erzeugen und ernähren, erzeugen und nicht besitzen,
wirken und nicht behalten, mehren und nicht beherrschen –
das ist geheimes LEBEN.
Der Charakter des überaus kraftvollen zehnten Spruches offenbart deutlicher als viele andere im Tao te king das Wesen des Taoismus. Man sucht vergebens nach Imperativen, wie sie in fast allen Religionsphilosophien vorkommen: „du sollst, du musst, du darfst nicht, wehe wenn du nicht…“, und so weiter. Laotse sagt durchaus, wie ein Mensch im Geist des Tao leben sollte. Aber nirgendwo ist auch nur der Hauch eines Befehlstones zu entdecken. Laotse stellt Fragen. Seine Zeilen klingen beschwörend, und wer das Wesen des Taoismus begriffen hat, spürt auch die Eindringlichkeit seiner Botschaft. Hier wird die rechte Lebensweise gelehrt, ohne dass dafür mehr als die eigene Autorität gebraucht würde. Dem Tao folgen heißt nicht, einem Lehrer gehorchen oder sich einer Versammlung Gleichgesinnter anzuschließen – wer dem Tao folgt, orientiert sich an einer einzigen, wegweisenden Macht, und diese wohnt in ihm selbst. Chuang tzu verarbeitet den Spruch in einem erfundenen Dialog zwischen Laotse und einem Mann namens Nanyungtschü und lässt den Meister unter anderem sagen: „Wenn Ihr durch die äußeren Sinne verstört, gequält und verwirrt seid, solltet Ihr Euren Geist ausruhen und die Stille in Eurem Innern suchen. Wenn Euer Geist sich spreizt oder außer sich gerät, solltet Ihr Eure äußeren Sinne verschließen. Wer durch seine Sinne oder Gedanken verwirrt wird, kann sein Wesen nicht bewahren. Wie viel weniger kann er dem Tao folgen?“
Abschließend fragt Nanyungtschü nach den Grundsätzen geistiger Gesundheitspflege. Chuang tzu legt Laotse die folgende Antwort in den Mund, die in Harmonie mit dem Charakter des Spruches gleichfalls als Fragen formuliert sind: „Die Grundsätze geistiger Gesundheitspflege sind die folgenden: Kannst du das Eine umfassen? Kannst du das Tao nie verlassen? Kannst du Heil und Unheil ohne die Hilfe von Wahrsagern vorhersagen? Weißt du, wo du einhalten musst? Kannst du Unwichtiges fahren lassen? Kannst du lernen, dich nicht auf andere zu verlassen, sondern alles in dir zu suchen? Kannst du unschuldig sein wie ein Kind? Das Kind geht und weiß nicht wohin, es bleibt stehen und weis nicht, was es tut. Es verfließt mit der Umwelt und bewegt sich mit ihr. Das sind die Grundsätze geistiger Gesundheitspflege.“
Im Zusammenhang mit der Pflege geistiger Gesundheit und der Verbindung zur Kindheit. klingt Chuang tzu wie ein Psychotherapeut. Mich wundert heute nicht mehr, warum sich Carl Gustav Jung vom Taoismus so angezogen fühlte. Die Medizin für viele Leiden der Psyche ist eben vorwiegend in der Kindheit zu finden. Diesen emotional paradiesischen, ungebrochenen Zustand wieder herzustellen, gehört zu den Prämissen jeder seriösen Therapie – und sie ist, vereinfacht ausgedrückt, auch ein Meilenstein des WEGES. Kannst du deine Kraft einheitlich machen und die Weichheit erreichen, dass du wie ein Kindlein wirst? Wie sollen Kraft und Weichheit sich vertragen? Kraft wird in unserer Gesellschaft mit Härte gleichgesetzt, heute bekommt keiner mehr auch nur eine mittlere Führungsposition, wenn er nicht bereits beim Bewerbungsgespräch eine Art Killermentalität durchschimmern lässt. Doch Ihnen, die Sie vielleicht vor ähnlichen Problemen stehen, darf ich sagen, dass diese Mentalität ohne Erbarmen in keinen glücklichen Menschen wohnt. Was glauben Sie, warum die Leute zunehmend krank und kränker werden, und das Gesundheitswesen bis zum Kollaps belastet wird? Das sind die Folgen innerer Verhärtung. Die Weichheit des Kindes, wie Laotse sie versteht, drückt sich in Mitgefühl aus, in der intensiven Zuneigung zum Leben mit allen seinen Erscheinungen. Das faszinierende an dieser großen Sympathie ist der Umstand, dass darin ein Energiepotenzial ruht, das der rohen menschenverachtenden Kraft haushoch überlegen ist-.
Kannst du dein geheimes Schauen so reinigen, dass es frei von Flecken wird? fährt Laotse fort. Über diese Zeile ließe sich ein ganzer Aufsatz schreiben. Wie ist, wenn ich fragen darf, denn Ihr geheimes Schauen beschaffen? Ist es überhaupt geheim, wohnt es still und unbemerkt einzig in Ihrem Sinn, ohne dass Sie damit hausieren gehen und von Gott und der Welt Zustimmung suchen? Das Geheimnis, das, was die Allgemeinheit nicht verstehen kann, verbirgt sich beim Menschen des WEGES in der Tatsache, dass da drinnen niemand ist, der schaut. Dass Schauen, Wahrnehmen an sich stattfindet, ohne dass in Ihrem Inneren jemand vorhanden ist, der sich vom Wahrgenommenen abtrennt. Die Flecken in Ihrem Bild von der Außenwelt entstehen durch jene uns allen wohl vertraute Instanz, die andauernd an den Vorgängen des Lebens herumkorrigiert, bis sie mit den eigenen vorgefassten Meinungen übereinstimmen. Unser Schauen bleibt ohne Flecken, wenn wir lernen, auf die Welt wie ein unverdorbenes Kind zu sehen.
Kannst du mit deiner inneren Klarheit und Reinheit alles durchdringen, ohne des Handelns zu bedürfen? Auch diesem Fragesatz kommt eine Schlüsselfunktion zu. Chuang tzu formuliert es einfacher: Kannst du Heil und Unheil ohne die Hilfe von Wahrsagern vorhersagen? Wir sind durchaus fähig, die in unserem Leben noch ungeschehen eingelagerten Ereignisse zu fühlen, wenn wir mutig genug sind, uns der Realität zu stellen. Der Spruch endet mit einem Satz, der keine Fragen mehr stellt, dafür ein verstecktes Versprechen enthält: Erzeugen und ernähren, erzeugen und nicht besitzen, wirken und nicht behalten, mehren und nicht beherrschen – das ist geheimes LEBEN. Laotse betont das im Nichthandeln implizite produktive Tätigsein, das in Harmonie mit dem fortschreitenden Schöpfungsprozess praktiziert wird. Diesem Handeln fehlen die Merkmale menschlicher Gier, es findet um seiner selbst willen als Ausdruck einer gesunden, unverkrampften Lebenseinstellung statt. Das Geheimnis des Erfolges einer solchen Geisteshaltung verbirgt sich hinter dem Wort LEBEN. Laotse benutzt den Begriff als Synonym für die Energie des Universums, er setzt LEBEN an die Stelle von CHI, der dritten Säule der taoistischen Philosophie. Kurzum: Die Prinzipien taoistischer Lebenskunst funktionieren. Sie können nichts Besseres tun, als diesem Potenzial zu vertrauen, das in der Tiefe Ihres Wesens schlummert.