Man schaut nach ihm und sieht es nicht: Sein Name ist Keim.
Man horcht nach ihm und hört es nicht: Sein Name ist fein.
Man fasst nach ihm und fühlt es nicht: Sein Name ist Klein.
Diese drei kann man nicht trennen, darum bilden sie vermischt Eines.
Sein Oberes ist nicht licht, sein Unteres ist nicht dunkel.
Ununterbrochen quellend, kann man es nicht nennen.
Er kehrt wieder zurück zum Nichtwesen.
Das heißt die gestaltlose Gestalt, das dinglose Bild. Das heißt das dunkel Chaotische.
Ihm entgegengehend sieht man nicht sein Antlitz, ihm folgend sieht man nicht seine Rückseite.
Wenn man das Tao des Altertums festhält, um das Sein von heute zu beherrschen, dann kann man den alten Anfang wissen.
Das heißt des Tao durchgehender Faden.
Das Tao ist eigentlich gegenüber den zahlreichen Religionen im Nachteil: Überall, wo in der Welt ein Volk etwas glaubt, wird dieser Glaube durch die Geschichte von Gottheiten untermauert, die einen personalen Charakter haben. Zum Beispiel Buddha: Da handelt es sich um einen Mann, der eine Mutation erlebte, die ihn zu den Göttern aufsteigen ließ. Auch die hinduistischen Gottheiten Kali und Shiva sind bildhaft darstellbar und es sind, einschließlich eines wohlwollenden, beleibten Buddhas, Abermillionen Skulpturen im Umlauf. Selbst der Gott Israels wird von den Propheten beschrieben als „Einer, der wie ein Mensch aussah“ und auf einem Thron sitzt. Die Statthalter und Priester der Gottheiten bis hin zu den Schamanen der Eskimos waren zu allen Zeiten für Auskünfte verfügbar und zeichneten dem Volk Bilder ihrer Götter. Die Palette reicht von der überwältigenden Lichterscheinung bis zur gefiederten Schlange der Azteken. Allein dem Tao fehlt dies alles. Im 14. Spruch versucht Laotse die Ungreifbarkeit des Tao zu deuten. Seine Formulierungen sind mystischer als die meisten anderen im Tao te king. Es würde keinen Sinn machen, wenn ich auf jede Zeile einginge, denn der Spruch ist im Grunde nur im Erfassen seines Ganzen aussagekräftig und verständlich. Laotse erklärt mit der Hilfe von Verneinungen, was er bereits in seinen ersten Sprüchen ausdrückte, dass das Tao nicht beschrieben werden kann und jede Aussage darüber von vornherein falsch sein muss. In seinem Spruch schimmert etwas wie Verzweiflung durch, dass das Tao so unfassbar ist, dass es sich allen unseren Fragen und Enthüllungsversuchen entzieht, in ähnlicher Art, wie manche der elementarsten Probleme des Lebens sich dem Biologen entziehen. Sobald wir meinen, wir seien im Begriff, sein Geheimnis zu enthüllen, stehen wir vor einer glatten Mauer.
Chuang tzu konnte das Unsichtbare, Unhörbare, Ungreifbare freilich nicht in Verlegenheit bringen. In seinem Kommentar zum 14. Spruch erfindet er einen Dialog zwischen dem Licht und dem Nichts: „Bist du vorhanden oder nicht?“ fragte Licht Nichts. Licht erhielt keine Antwort und starrte Nichts fest an. Nichts war finster und leer. Den ganzen Tag hindurch versuchte Licht zu schauen, konnte es aber nicht sehen, horchte, konnte es aber nicht hören, versuchte es zu berühren, konnte es aber nicht finden. „Ach“, sagte Licht zu sich selber, „das ist doch der Gipfelpunkt! Wer vermöchte eine solche Höhe zu erreichen! Ich kann mir des Nicht-Seins bewusst sein, kann mir aber des Nicht-Seins nicht unbewusst sein. Wenn ich mir des Nicht-Seins bewusst bin, bleibt doch immer noch die Bewusstheit. Wie erreicht er nur diese Höhe?“ Im normalen Text setzt er später fort: Alle Dinge treten ins Leben, aber wir sehen ihre Quelle nicht. Alle Dinge erscheinen, aber wir sehen die Pforte nicht, aus der sie kommen. Alle Menschen schätzen ihre Kenntnis dessen, was sie wissen, wissen aber in Wirklichkeit nicht. Nur diejenigen, die zu dem zurückgehen, was das Wissen nicht wissen kann, wissen wirklich. Ist das nicht ein großes Problem? Man sollte sich nicht darum kümmern, kann aber dennoch nirgends hingehen, ohne darauf zu stoßen. Das nennen die Philosophen: „Ich denke, es ist so. Oder ist es nicht so?“
Die vorausgegangenen Überlegungen dürften auch der Grund sein, weshalb sich überraschend viele Menschen zum Taoismus seiner Liberalität wegen hingezogen fühlen, die Lehre ihnen aber in letzter Konsequenz kaum mehr als ein Additiv zu ihren gewachsenen metaphysischen Überzeugungen bedeutet. Man schätzt zwar die Abwesenheit von Drohungen und Vorschriften, möchte aber auf das Wohlwollen und den Lohn der Götter und insbesondere die Hoffnung auf ihre Hilfe in der Not nicht verzichten. Das seit der Kindheit vorhandene Gefühl, ein unvollkommener, sündiger Mensch zu sein, hält auch den Bedarf nach Gnade und Erlösung am Leben. Desgleichen haftet dem Tao nicht die Spur einer Vatergestalt an. Es verlangt einen zu großen Schritt zur Selbstverantwortung hin, um die taoistische Philosophie konsequent mit Herz und Verstand umzusetzen. Ungleich dem Welterlöser, dessen Geburt alljährlich zu Weihnachten im Übermaß gefeiert wird, vergibt Ihnen das Tao Ihre Sünden nicht, es bügelt keinen Ihrer Fehler aus und es liefert Ihnen keine gnädigen Alibis, im alten Trott weiterzumachen, weil Ihnen ja immer wieder ein langmütiger Gott Ihre Dummheiten verzeiht. Das Tao ist so gnädig und barmherzig, wie Sie zu sich selber sind. Sie sind auf sich allein gestellt, sich selbst zu vergeben, wenn Schuld Sie drückt, und es ist einzig Ihr Ermessen, wie viel Güte und Gnade Sie an Ihre Mitmenschen verwenden. Die helfende Vaterhand befindet sich, wie Taoisten wissen, am Ende Ihres eigenen Armes und die Hilfe, die Sie brauchen, erzeugen Sie durch Ihr eigenes Gewahrsein. Erkennen Sie das Paradox: Was die Welt glaubt, verehrt und befolgt, sind Auswirkungen der kollektiven Identität des Menschen mit dem Grund. Die Irrtümer der Menschheit verankern ihre tiefsten Wurzeln ebenfalls in diesem unbekannten Nichts. Unsere Welt ist unvollkommen, es fehlt an Menschlichkeit und Mitgefühl und das Böse scheint trotz aller Religion mehr Gewicht als das Gute zu haben. Das wird sich nur ändern, wenn der einzelne Mensch sich auf seine Identität mit dem Nichts und dem Unerforschbaren besinnt, sich zu seiner Verantwortung bekennt und aufhört, auf die Hilfe der Götter zu bauen.
Auf die Zukunft einer vollkommenen Welt zu hoffen, ist Illusion. Ein zu hundert Prozent vollkommener Zustand würde den Gesetzen der Polarität widersprechen und wäre so unerträglich wie ein total unvollkommener. Aber die Gewichtung muss sich dringend in Richtung von mehr Güte und weniger Korruption ändern. Wir können nur vor der eigenen Tür kehrend bei uns selber beginnen. Wenn wir uns mit dem Unbekannten verbünden, wird es zum Bestandteil unseres Wesens, wir werden in dem Maß vertrauter mit ihm, wie wir es in uns zur Auswirkung kommen lassen. Sobald wir die Gewalt in unseren privaten Angelegenheiten verneinen, wird sich unserer individuellen Existenz inmitten einer friedlosen Welt auch die gewaltfreie Nische öffnen, in der wir wachsen und gedeihen können. Sie haben die Wahl, darüber zu bestimmen, ob Sie die Prinzipien des Tao in Ihr Leben hineintragen oder nicht. Falls Sie es tun, wird Ihnen das Tao zum Weggefährten, was heißt, es wird Ihnen nicht so fremd und unbekannt bleiben, wie Laotse in seinem Spruch beklagt.
Liebe Sabine,
Wie im letzten Jahr sage ich danke, dass es Euch gibt. Ja gibt. Theo ist für mich auch weiter hier.
Das ist für mich auch ein Teil des TAO. Die aktuelle Zeit der Besinnung artet inzwischen eher zur Besinnungslosigkeit aus.
Deshalb halten wir die Gedanken zur Besinnung jedes Jahr in 31 Kalenderblättern fest. 31 Buchstaben bilden dabei eine Botschaft. Dieses Jahr ist das TAO der wichtigste Bestandteil. Auf Blatt drei haben mich Laotses Worte zur Einfachheit zu einer einfachen Aussprache des TAO als harmonischen Dreiklang inspiriert. Das TAO bedeutet so für mich. Träger Aller Ordnung. Im heutigen achten Kalenderblatt habe ich versucht, das unbeschreibbare in Versen zu fassen. Es bringt mir ein Strahlen in die Augen, wenn ich Euch damit etwas zurückgeben kann, etwas Freude vielleicht. Vielleicht auch die Gewissheit, dass der behutsame Pfad auch weiter begangen wird. Hier der link zum heutigen achten Kalenderblatt auf unserer privaten Seite.
In Liebe und Hoffnung Uwe Anger.
https://www.umzeitzuerleben.de/kalenderblatt-8-zweiter-advent/#more-10162
vielen Dank.