An der Quelle des Tao 24

Wer auf den Zehen steht, steht nicht fest.

Wer mit gespreizten Beinen geht, kommt nicht voran.

Wer selber scheinen will, wird nicht erleuchtet.

Wer selber etwas sein will, wird nicht herrlich.

Wer sich selber rühmt, vollbringt keine Werke.

Wer sich selber hervortut, wird nicht erhoben.

Er ist für das Tao wie Küchenabfall. Und auch die Geschöpfe hassen ihn alle.

Darum: wer das Tao hat, weilt nicht dabei.

Der 24. Spruch braucht eigentlich keine Interpretation, er spricht für sich, ohne dass weitere Erklärungen notwendig wären. Chuang tzu nennt ihn „Ratschlag gegen das Prahlen“ und liest sich ein wenig komplizierter: Wer versucht, sich hervorzutun, ist bloß ein Krämer. Die Leute sehen ihn gespreizt einherschreiten und nennen ihn einen Führer des Gemeinwesens. Unter den fünf Lastern ist das Laster des Geistes das schlimmste. Was ist das Laster des Geistes? Das Laster des Geistes heißt Selbstgefälligkeit. Derjenige, der nicht sich, sondern andere sieht, oder nicht von sich selbst, sondern von anderen Besitz ergreift, indem er nur das besitzt, was andere besitzen, und sein eigenes Selbst nicht besitzt, tut bloß was den anderen gefällt, statt seiner eigenen Natur zu gefallen. Nun ist aber einer, der anderen gefällt, statt seiner eigenen Natur zu gefallen nichts als ein Mensch, der in die Irre gegangen ist.

Heute lautet die Parole: „Wer angibt hat mehr vom Leben“.  Es ist erstaunlich, wie wenig sich das menschliche Verhalten über die Jahrtausende verändert hat. Man sollte eigentlich meinen, dass im Lauf solcher Zeitspannen das Gehirn einiges dazu gelernt hätte, aber an unserer Großhirnrinde scheint sich seit der Jungsteinzeit nicht mehr viel geändert zu haben. Wir sagen scherzhaft „Wo ist das Klavier…?“ zu dieser gespreizten Körperhaltung des primitiven Angebertyps, er scheint bei aller Dummheit seines Gehabes nicht aussterben zu wollen. Auch die Bauernweisheit vom leeren Wagen, der lauter rumpelt als ein voller drückt die Verachtung für den Prahler aus. Nichtsdestoweniger gehört Angeben heute leider beinahe zum guten Ton. Im Showgeschäft ist das Imponiergehabe bis hin zum theatralischen Herumgehopse zum Pflichtritual geworden – Popsänger, die still ihre Lieder singen, und wären sie noch so talentiert, hätten nicht die Spur einer Chance, vom Publikum beachtet zu werden. Auch die Werbung ist so vollständig durchdrungen von auffälligen Pantomimen, dass die überstrapazierten Sinne des Volkes kaum noch Botschaften wahrnehmen, die weniger schrill vorgetragen werden. Auch berufliche Karrieren scheinen heute ohne das auffällige, provozierende Zurschaustellen von Fähigkeiten kaum noch zu gelingen. Bereits im gewöhnlichen Alltag stehen wir doch regelmäßig vor Situationen, wo wir uns bemerkbar machen müssen, wenn wir nicht übersehen werden wollen. Mir fällt bei Besuchen auf dem Wochenmarkt öfter auf, dass die Verkäufer hinter den Ständen jene Käufer am ehesten bemerken, die sich irgendwie provozierend verhalten. Zum Beispiel, indem sie eine Handvoll Zwiebeln oder Tomaten in Richtung der Marktleute schwenken, oder sich wie Hampelmänner bewegen. Da mag jemand ruhig und seit Minuten als erster an seinem Platz stehen. Kein Blick der Verkäufer fällt auf ihn, solange daneben neu hinzu Gekommene ihre Auffälligkeiten einsetzen. Im dritten Jahrtausend ist noch immer der Charaktertyp am Wirken, der hinter dir die Drehtür betritt und vor dir herauskommt. (Das sind auch die Leute, die Hypotheken aufs Haus aufnehmen, um Nachbarn und Partyfreunden ein unerschwinglich teures Mercedes-Kabriolett mit Mc-Laren Formel 1-Motor vorführen zu können.)

Warum tut der Mensch das? Ich denke, es geschieht, weil die meisten ihrer selbst zu wenig sicher sind. Sie fühlen sich nackt, ungeschützt und unzulänglich, sobald sie anfangen, sich mit anderen vergleichen. Wenn sie analysieren, was die anderen sagen, tun und was sie besitzen. Die Sehnsucht, das Alphatier zu sein, ist wahrscheinlich primär eine männliche Eigenschaft, aber in dem Maß, in dem die Frauen sich ihrer biologisch überlegenen Position klar werden, nimmt auch das weibliche Imponierverhalten zu. Sich in den Vordergrund zu spielen, die anderen Darsteller auf der Bühne unseres Lebens an die Wand zu drängen, scheint beinahe schon ein genetischer Reflex aus dem Repertoire der Selbsterhaltung zu sein. Und es ist die Sehnsucht nach Anerkennung, die vielfach seit der Kindheit unerfüllt im Herzen schlummert. Natürlich weiß die Masse, dass nur wenige den Alpha-Status erreichen, darum sind viele Menschen auch damit zufrieden, wenn es ihnen gelingt, den Silberrücken des Gorilla-Männchens zu imitieren.

Muss man den Angebertanz mitmachen, um nicht auf der Strecke zu bleiben? Laotse ist hier, wie der Spruch belegt, eindeutig anderer Meinung. Die großartige Magie des Tao bleibt den Prahlern verschlossen. Die permanente Notwendigkeit, den Glanz ihres Images zu bewahren, ist nicht die einzige Last, die sie tragen müssen. Zusätzlich, quasi synchron zu ihrer Angeberei, müssen sie sich im Rennen um Glück, Erfolg und Ansehen immer weiter vorankämpfen. Das Ringen nimmt kein Ende. Der Preis, den die Schönen, Erfolgreichen, Prominenten und Geehrten samt der Masse ihrer weniger glücklichen Nachahmer zahlen, ist unbeschreiblich hoch. Es ist ein wahrhaft teures Leben, das diese Menschen sich zu führen entschieden haben. Chuang tzu drückt in einem finalen Satz seines Kommentars die Zwickmühle aus, in der die Menschen offenbar schon im alten China steckten: Meiner eigenen Mängel in Bezug auf das Tao wohl bewusst, wage ich es nicht, einerseits die Grundsätze der Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu üben, noch andererseits ein auffallendes Leben zu führen. Was in Klartext heißt, dass einer, der dem WEG folgt und die Grundsätze der Menschlichkeit realisiert, nicht gleichzeitig ein Angeberdasein führen kann. Das Risiko dieses Zwiespaltes in einer Welt voller Prahlhanse, in welcher die Stillen im Lande benachteiligt werden, schiebt Chuang tzu auf eigene Mängel in Bezug auf das Tao. Das heißt, anders herum gedacht, allerdings auch, dass ein Mensch, der frei von diesen Mängeln denkt und handelt, durchaus ohne Imponiergehabe durchs Leben kommt. Wer das Tao hat, weilt nicht dabei, schließt Laotse seinen Spruch und widerlegt damit Chuang tzus Zweifel, ob es denn überhaupt funktioniert, in einer Welt, in der die Leute sich wie die Paviane auf dem Felsen von Gibraltar benehmen, ein gelungenes Leben zu führen, ohne bei diesem Affentanz mitzumachen.

Es funktioniert. Der Mensch des Tao hat Aufschneiderei und Imponiergehabe nicht nötig. Er weiß um seine Identität mit dem Weltgrund und um die unendliche Dimension seines Selbst. Er fühlt mit seinen leidenden Mitmenschen, aber er beteiligt sich nicht an ihrem Wahn, immer etwas Besseres darstellen zu müssen, als sie sind. Der Mensch des WEGES ist ohne alles Zutun den Blendern überlegen. Sein Geist begegnet in dem metaphysischen Urgrund einer Quelle, aus der seinem Handeln kontinuierlich Intelligenz und Energie  zufließen.

 

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