An der Quelle des Tao 27

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Ein guter Wanderer lässt keine Spur zurück. Ein guter Redner braucht nichts zu widerlegen.                                                                                                                                                 Ein guter Rechner braucht keine Rechenstäbchen. Ein guter Schließer braucht nicht Schloss noch Schlüssel,  und doch kann niemand auftun.                                                         Ein guter Binder braucht nicht Strick noch Bänder, und doch kann niemand lösen.

Würde Sie in diesem Moment jemand auffordern, ihm zu beschreiben, wie Vanillepudding mit Himbeersauce schmeckt, blieben Ihnen nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie würden mit Begriffen wie ‚aromatisch-süß’ und ‚herb-fruchtig’ Hinweise zu geben versuchen, die kein Mensch verstünde, der diesen Nachtisch noch nie gekostet hat oder Sie würden gleich passen, weil sich über Erlebnisse der Geschmacksnerven vielleicht streiten, aber einem anderen verbal unmöglich verständlich machen lässt. Wer jedoch jemals Vanillepudding mit Himbeersauce aß, wird auf der Stelle um ihren Wohlgeschmack wissen, weil in den Zellverbänden seines Gehirns die Erinnerung an das Gaumenerlebnis gespeichert ist. Entsprechend der Schwierigkeit, eine Erfahrung zu schildern, die nur jene verstehen, denen sie schon einmal widerfuhr, stellte sich einst Laotse das Problem, wie er seinem Publikum das Phänomen Intuition nahe bringen sollte. Ihm blieb als Alternative zu metaphysischem Geschwätz nur das Gleichnis übrig – und dessen bedient er sich in seinem 27. Spruch.  Chuang tzu mit seiner Vorliebe für Übertreibungen wählte das Beispiel vom Wagner, der seine Räder ohne die Hilfe von Maß und Zirkel frei nach Gefühl vollkommen rund und fehlerlos gestaltete – wir würden die Methode Pi mal Daumen nennen. Aus welchen Gründen intuitiv richtiges Handeln in praktischen wie auch psychologischen Angelegenheiten gelingt, kann heute die Hirnforschung mit den Ergebnissen langer Versuchsreihen begründen. Die Medizin dürfte zwar in alter Zeit in China weiter fortgeschritten gewesen sein als unter den germanischen Stämmen, aber Laotse hatte damals keinerlei Zugang zu Material aus neurologischen oder gar psychologischen Forschungen. Ihm blieb keine andere Wahl als populäre Tätigkeiten aufzulisten – Wandern, Reden halten, Rechnen, Türen verschließen oder Gegenstände zusammenbinden. Er will Intuition durch das Fehlen aller Mittel zum Zweck sichtbar machen, beim Wanderer durch die Abwesenheit von Wirkungen.

Das Funktionieren von Intuition, auf das Laotse sich in der tieferen Bedeutung seiner knappen Sätze bezieht, führen Experten des dritten Jahrtausends auf das Zusammenwirken von Wahrnehmung und bestimmten Zellverbänden unseres Gehirns, den Spiegelneuronen zurück. Diese Neuronen machen uns laut der Hirnforschung fähig, uns in andere Menschen einzufühlen, sie lösen auch alle jene Reaktionen aus, in denen wir beispielsweise allein aus dem Blick eines anderen Menschen oder einer körperlichen Geste ohne Nachdenken spontan herauslesen, was er fühlt oder was er als nächstes tun wird. Sobald Sie einmal darauf achten,  wie Sie auf Ihre Mitmenschen reagieren, wird ersichtlich, dass der Alltag voll von derartigen Resonanzphänomenen ist: Der Mann neben Ihnen im Wartezimmer des Zahnarztes gähnt herzhaft – und unversehens gähnen Sie mit. Jemand lacht, und Sie merken plötzlich, dass auch Ihr Gesicht sich zu einem Lächeln verzieht. Erwachsene öffnen spontan den Mund, wenn sie ein Kleinkind mit dem Löffel füttern. Im Gespräch nehmen wir bei uns wichtigen Personen unwillkürlich eine ähnliche Sitzhaltung ein wie unser Gegenüber. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass die Blicke anderer Personen erstaunliche, ohne jedes Nachdenken in Gang gesetzte Mitreaktionen auslösen? Wenn jemand zum Dach des gegenüberliegenden Hauses starrt, starren wir hinterher. Oder zwei Verliebte stehen sich erstmals ganz nahe gegenüber. Er blickt auf ihren Mund, sie auf den seinen und es ist unschwer zu raten, wie die Sache sich fortsetzt. Unser Gehirn ist fähig, beobachtete Handlungen anderer Menschen so nachzuvollziehen, als ob wir sie selbst ausführen würden. Das betrifft uneingeschränkt auch die wahrgenommenen Gefühle. Wir vermögen aus Körperhaltung, Gesichtsausdruck oder Blicken und oft sogar entgegen dem, was gesagt wird, den inneren Zustand anderer nachzuvollziehen, weil sich  in uns die gleichen Emotionen widerspiegeln. Der Eindruck von inneren Beweggründen anderer fließt uns völlig spontan zu, er ist intuitiv da, hat sich bereits eingestellt, bevor wir anfangen, ihn bewusst zu reflektieren.  Die Spiegelsysteme sind die Grundlage unserer Fähigkeit, spontan zu erkennen, was in einem anderen Menschen vorgeht.

Was die Intuition ahnt, ist nicht dem Zufall überlassen. Sie ist eine besondere Form der impliziten Gewissheit, eine Art siebter Sinn, der mit einer recht guten Wahrscheinlichkeit Vorhersagen möglich macht. Ein kurzer Eindruck, manchmal nur eine Momentaufnahme genügt, um uns eine intuitive Ahnung zu vermitteln, was gerade vor sich geht und worauf wir uns einzustellen haben. Bis an diesen Punkt stimmen die wissenschaftliche Theorie und Laotses Denken überein. Die Geister scheiden sich an einer Bedingung, die aus neurobiologischer Sicht Intuition und Einfühlung in andere Menschen erst möglich macht: – die Existenz situationsspezifischer Gedächtnisinhalte nämlich. Ohne Lernprozesse, und seien sie noch so flüchtig registriert, kann laut Theorie die Einfühlung in andere Menschen nicht die entsprechenden Resonanzen auslösen und die Spiegelneuronen zum Schwingen bringen. Intuition, wie sie Laotse in seinem Spruch so fein formuliert, bezieht auch Reaktionen auf Dinge, Szenen und Menschen ein, die außerhalb unseres Erfahrungsbereiches liegen. Natürlich ist die Reaktion im taoistischen Sinne nicht auf Unbekanntes limitiert, sie schließt analog alles Bekannte ein, aber beides, das Bekannte wie das nie Erlebte treten in Aktion, ehe der Verstand reagieren kann. Wir vermögen zu fühlen, dass die anderen im gleichen zwischenmenschlichen Bedeutungsraum ihre Heimat haben, in dem wir uns auch befinden. Verbindende Vorstellungen können im Gehirn des jeweiligen Empfängers aktiviert und spürbar werden. Die Neurologie schließt die Verbindung der Gehirne aller Menschen auf einer unsichtbaren, metaphysischen Ebene nicht ausdrücklich aus, aber sie bestätigt sie auch nicht. Damit wird die Existenz der Intuition als Phänomen inneren Wissens zwar anerkannt, aber ihre Wirksamkeit auf jenes Potenzial an erlernter Information reduziert, das auf dem langsameren Weg auch dem Intellekt zur Verfügung steht. Was auf eine einfache Formel gebracht bedeutet, dass ich Liebe in einem anderen Menschen nur dann erkenne, wenn ich selbst in meinem bisherigen Leben Liebe erfahren habe. Das stimmt psychologisch gesehen unbedingt. Menschen mit einer freudlosen Kindheit leiden oft unter einem Mangel an Liebesfähigkeit und entsprechendem Einfühlungsvermögen. Im Grunde gehen wir ähnlich mit dem Vertrauen in unsere eigene Intuition um: Wir neigen dazu, spontanen Eingebungen zu folgen, wenn sie bei der nachfolgenden Kontrolle durch unseren Verstand mit unseren Erfahrungen harmonieren, lehnen aber ebenso spontan ab, wenn nirgendwo Vertrautheit in Sicht ist. So stirbt mancher intelligente Handlungsimpuls dahin, weil er uns etwas völlig Neues, Unbekanntes suggeriert. Mit jeder intuitiv empfangenen Idee geraten wir symbolisch in die Falle des Menschen, der Liebe nie empfing. Wir fremdeln, zaudern und wälzen Bedenken, und zwar so lange, bis die Tür, die sich auftat, wieder zuschlägt.

Die Philosophie des Nichthandelns ist in Sachen Intuition kompromisslos. Wer die Gabe einschränkt, Bekanntheit in seinen Reaktionen auf Lebewesen oder Situationen unausgesprochen zur Bedingung macht, dass er ihr folgt, braucht sich über sparsame Erfolge nicht zu wundern. Was ihm gelingt, verdankt er dann wahrscheinlich auch mehr dem Zufallsgenerator oder gegebenenfalls einer intellektuellen Nachkalkulation, der er folgt. Die Neurologen begannen ihre Experimente mit Menschenaffen, Versuche mit Menschen folgten breit gefächerter in der Neuzeit, weil man, seit es den Kernspintomographen gibt, ohne Probanden mit geöffneter Schädeldecke auskommt. Nichtsdestoweniger dürften die Versuchspersonen durchschnittlich ihre Alltagserfahrungen in die Experimente eingebracht haben, was ganz logisch zu den publizierten Resultaten führte. Mancher nennt seine Schnapsideen Intuition, und beschimpft sie, weil er mit seinen selbstgefälligen Eingebungen jedes Mal gescheitert ist. Gewiss werden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, beim Rückgriff auf vergangene Episoden spontaner Entscheidungen manche Bestätigung der obigen Ausführungen antreffen. Wo Gelingen und Misslingen sich die Waage hielten, wo Sie in Kleinigkeiten in Schwarze trafen, bei den großen Dingen – wahrscheinlich durch intellektuelle Beimischungen in Ihren Entscheidungen – eher auf Probleme stießen.

Der Mensch des Tao macht Intuition nicht von Gedächtnis und Erfahrung abhängig. Wenn sie sich rührt, bei Anblicken, Szenen oder handfesten Herausforderungen, folgt er ihr spontan und bedenkenlos. Ich weiß, wir haben in vielen Fällen aus bitterer Erfahrung Angst vor konsequenter Spontaneität. In Wahrheit trauen wir unserer Intuition entweder kein bisschen oder bestenfalls bei unbedeutenden Anlässen. So wie die Gaben in unserem Gehirn angelegt sind, sind wir durchaus imstande, zu fühlen, was andere Menschen fühlen, ja, ich möchte sogar so weit gehen, dass wir bei einiger Sensibilität und Offenheit auch spüren können, was Tiere oder sogar Pflanzen empfinden. Das letztliche Problem bei der Realisierung dieser erwiesenen Fähigkeiten ist unsere Halbherzigkeit. Wir suchen ein bisschen schwanger zu sein, ein bisschen leer und wir fürchten auch, den Sicherheitsabstand zur Welt rings um uns würde verschwinden, wenn wir uns emotional zu sehr auf das Leben außerhalb unserer Hautoberfläche einließen. Wer sich aber ganz auf dieses Wagnis des offenen Herzens einlässt wird erfahren, dass ihm wie dem Wanderer ohne Fährte selbst schwierig scheinende Verrichtungen wie von alleine von der Hand gehen und dass es in der Natur der Ergebnisse des Nichthandelns liegt, wenn die Dinge sich zum Gelingen organisieren.

In seinem Spruch bezieht Laotse sich auf das Prinzip, Harmonie und Ordnung zu erlangen, ohne sich auf äußerliche Hilfsmittel und Lösungen zu verlassen. Er betont in seinen Metaphern die Nutzlosigkeit solcher Hilfsmittel. Da Friede, Ordnung und Glück unsichtbare Dinge sind, können sie eben durch sichtbare Mittel nicht erlangt werden.

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