An der Quelle des Tao 33

Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selber kennt, ist weise.

Wer andere besiegt, hat Kraft.Wer sich selber besiegt, ist stark.

 Wer sich durchsetzt, hat Willen. Wer sich genügen lässt, ist reich.

Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer.Wer auch im Tode nicht untergeht, der lebt.

Laotse führt uns in seinem 33. Spruch die Kluft vor Augen, die die Einsichten in das Wesen anderer Menschen von der Selbsterkenntnis trennt. Die Gegensatzpaare, die er einander gegenüber stellt, entlarven unsere von der Gesellschaft favorisierten Eigenschaften als den schwächeren Teil von uns. Andere zu kennen, mag Vorteile haben, im Geschäftsbereich ist ein Minimum an Einblick in die oft raffinierten Schachzüge der Verhandlungspartner unerlässlich und der Psychologe könnte seinen Beruf ohne die Klugheit einer tiefen Menschenkenntnis nicht ausüben. Aber die Weisheit taoistischer Lebensart kommt im Erkennen unserer selbst zur Auswirkung. Andere zu beurteilen ist nicht schwer, dazu braucht man weder Charakter noch Intelligenz. Die Schwierigkeiten beginnen dort, wo es um die eigene Haut geht. Wer verträgt schon Kritik, die von anderen kommt? – Selbst unsere Liebsten machen sich unbeliebt, wenn sie etwas an uns auszusetzen haben. Wir tragen, seit wir denken können, ein Bild von uns im Herzen. Es ist jenes Bild, das so empfindlich auf Missachtung und Kränkungen reagiert. Und dieses Bild sollen wir laut Laotse auf seinen Wahrheitsgehalt hin durchleuchten? Selbstkritik üben an einer Wesenheit, von der wir eine so hohe Meinung haben? Genau das will der Spruch bewirken. Dass wir uns dem eigenen Charakter stellen, wie er tatsächlich gewachsen ist und die falschen Bilder über uns mit einem kraftvollen Schlag zerstören. Schauen wir uns ins ungeschminkte Gesicht – und leben wir damit! Analog verhält es sich mit unserem Siegeswillen. Ihn nach draußen zu richten ist die gewohnte Art der Lebensentfaltung nach Darwins Gesetzen. Was uns dagegen das Energiepotenzial des Grundes erschließt, ist der umgekehrte Prozess: wir müssen den Kampf mit uns selber siegreich beenden. Nicht durch einen Gewaltakt. Auch nicht durch permanenten Dauerstress im Bemühen, etwas zu werden, das wir nicht sind. Der Sieg drückt sich im Aufhören aus. Wir überwinden uns dazu, nichts mehr zu unternehmen, um jemand anderer zu sein oder darzustellen. Das alte, geschönte oder sogar gefälschte Bild von uns zerstört sich selbst, sobald wir nicht mehr im Zustand des Werdens sind und kein Bedürfnis mehr haben, uns anders darzustellen, als wir wirklich sind. Damit endet alle Anstrengung. Wer zu diesem Geisteszustand findet, gerät nicht auf die Verliererstraße. Sein Durchsetzungsvermögen leidet nicht darunter, aber er bedient sich anderer Mittel, seine Ziele zu erreichen.

Der Reichtum des Menschen des WEGES ist genießbar, weil er in der Genügsamkeit wächst und nicht das Endprodukt eines Durchsetzungswillens ist, dem mehr als ein Hauch von Gewalt innewohnt. Chuang tzu sah sich genötigt, den großen Lehrer Laotse zu verteidigen, der als ein Mann geschildert wurde, der im Überfluss lebte und einen Kornspeicher besaß: „Ein Jünger des Taoismus darf auch den Reichtum nicht zurückweisen“, schreibt er. Als Gegenpol lässt er einen (wahrscheinlich erfundenen) Mann namens Yüan Hsien sagen: Ich höre, dass man Geldlosigkeit Armut nennt. Aber die Wahrheit erkennen und sie nicht befolgen können, wird Krankheit genannt. Ich bin zwar arm, aber nicht krank. Ihr wisst, dass ich manches nicht tun kann. Dazu gehört: in der Welt umhergehen und Dinge um des Beifalls willen tun, mich in Gesellschaft bewegen und einen Freundeskreis um mich sammeln, um anderer Menschen willen studieren, um meinetwillen lehren, unter dem Mäntelchen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit Böses tun, und den Luxus eines prächtigen Wagens genießen. Das alles kann ich nicht. Yüan Hsien schließt seine ihm angedichteten Betrachtungen mit dem Satz: Reichtum kann einem mittelmäßigen Geist ebenso die Freiheit rauben und ihm zur Qual werden, wie dem Armen sein endloser Mangel.

Es gibt im Tao te king wenige Passagen, in denen Laotse den Tod beim Namen nennt. Er scheint die Kürze und Tragik des Menschenlebens weniger tief als Chuang tzu empfunden zu haben. Wo Laotse über Leben und Tod verhältnismäßig wenig zu sagen hatte, berühren Chuang tzus beste Schriften diese Fragen deutlich ausführlicher. Zur letzten Zeile des 33. Spruches nimmt er recht originell Stellung. Er berichtet davon, dass er einen Totenschädel gefunden hat. Er stellt diesem Schädel eine Menge Fragen, will von ihm wissen, was er zu Lebzeiten vollbracht oder angestellt hat, wie er sein Leben verlor, wie alt er geworden ist und so weiter. Dann legt Chuang tzu sich zum Schlafen auf die Erde – und benutzt den Totenschädel als Kopfkissen! Im Traum erscheint ihm der Schädel und antwortet auf die zuvor gestellten Fragen: „Was Ihr da von mir wissen wolltet, waren die Sorgen des irdischen Lebens. Wenn man gestorben ist, kennt man solche Sorgen nicht mehr. Wollt Ihr vom Leben nach dem Tod hören?“

Chuang tzu ermuntert den Schädel, weiterzureden.

„Im Tod gibt es weder Könige noch Untertanen, noch einen Wechsel der Jahreszeiten. Man ist völlig frei und betrachtet Himmel und Erde als Frühling und Herbst. Eine solche Glückseligkeit übertrifft sogar die eines Königs.“

Im Traum fragt Chuang tzu:  „Wenn ich den Herrn über das Leben bitten würde, dein Leben wiederherzustellen – wäre dir das Recht?“

Der Schädel ruft: „Wie könnte ich wohl die Glückseligkeit eines Königs gegen die Sorgen der sterblichen Welt eintauschen wollen?“

Nach meinem Gefühl hätte eigentlich die vorletzte Zeile den Abschluss des Spruches bilden sollen, weil ihre Aussage trotz – oder wegen seiner Unbestimmtheit die vorausgegangenen Inhalte zusammenfasst. Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer. Was bedeuten diese Worte? Im Spruch ist die Rede von Selbsterkenntnis, von der Entscheidung für den richtigen Pol im Spiel der Gegensätze. Laotse betont die zentrale Bedeutung der Selbsterkenntnis, sie darf nicht am Rande des Bewusstseins operieren, sondern soll den Mittelpunkt des Selbst einnehmen, das endlich die eigene Position in seiner Welt richtig einordnet. Als ob Ralph Waldo Emerson[1] das Tao te king gelesen hätte (was ich nicht ausschließe) nimmt er zum hier behandelten Thema überraschend zielsicher Stellung: Bedenke, wie viele Male wir noch in bedauernswerte Berechnungen zurückfallen werden, bevor wir unseren Frieden in der großartigen Empfindung erlangen, oder den Rand von heute zum neuen Mittelpunkt machen werden.

[1] Essays, Seite 242

 

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