Das große Tao ist überströmend, es kann zur Rechten und zur Linken sein.
Alle Dinge verdanken ihm ihr Dasein, und es verweigert sich ihnen nicht.
Ist das Werk vollbracht, ergreift es nicht Besitz.
Es kleidet und nährt alle Dinge und spielt nicht ihren Herrn.
Da es ewig nicht begehrend ist, kann man es als klein bezeichnen.
Weil alle Dinge von ihm abhängen,ohne es als Herrn zu kennen,
kann man es als groß bezeichnen.
Also auch der Berufene: Niemals macht er sich groß.
Darum bringt er sein großes Werk zustande.
Wie oft schon erwähnt, ist das Tao schwer zu beschreiben. Jeder Versuch muss unzulänglich wirken. Es ist Laotse, der das von Anfang an begriffen hat, hoch anzurechnen, dass er dennoch zahlreiche Versuche in diese Richtung unternahm. Sein vierunddreißigster Spruch dürfte einer der Schwächsten darunter sein. Wir stehen dem Tao als etwas Gewaltigem gegenüber, das aber mit unserer Sprache nicht beschreibbar ist. Nicht dass die Sprache an sich als Werkzeug ungenügend wäre, wir können einem Ding den Namen Groß oder Winzig geben (wie die wörtliche Übersetzung von Microsoft winzigweich! lauten würde, was die Sache kaum trifft) – aber keine dieser Zuordnungen sagt wirklich etwas über Inhalte aus. Die Tiefe des Tao mit Worten auszuloten würde dem Versuch gleichen, im Pazifik den Marianengraben mit Schnur und Senkblei zu vermessen. Dennoch enthält der Spruch zwischen den Signalen der Ohnmacht einige Zeilen, auf die es sich im Zusammenhang mit der Lebenskunst des Tao durchaus einzugehen lohnt. Doch zuerst wollen wir lesen, wie Chuang tzu Stellung zu dem Spruch nimmt:
Tungkuotse fragte Chuang tzu:
„Wo ist denn dieses sogenannte Tao?“ „Das Tao ist überall.“
„Das müsst Ihr aber näher erklären.“ „Es ist in den Ameisen“, war die Antwort.
„Wie, so niedrig ist es?“
„Es ist in den Unkrautsamen“, sagte Chuang tzu. „Es wird ja immer niedriger“, rief Tungkuotse.„Das Tao ist in Krügen und Ziegeln.“
„Das wird ja immer ärger!“
„Es ist im Kot“, sagte Chuang tzu.Da sagte Tungkuotse nichts mehr.
Chuang tzu sagte: „Was Ihr eben gefragt habt, ist eine Frage, die für mich schwer zu beantworten und mit Beispielen zu belegen ist. Als Korporal Huo zum Marktvorsteher ging, um Schweine zu kaufen, schaute er auf die Schweinehufe (als die geeignete Stelle, um ein Schwein zu beurteilen). Ihr hättet mich nicht nach besonderen Beispielen fragen sollen, denn so könnt Ihr nicht vom Materiellen loskommen. Große Wahrheiten sind eben ungreifbar, wie diese hier, und große Lehren ebenfalls.“
Dann verlässt Chuang tzu den erfundenen Dialog und fährt fort: Das Tao ist überall. Es ist unendlich. Im Bereich des Kleinsten gibt es nichts so Kleines, dass das Tao nicht in ihm wäre. So entstehen die zehntausend Dinge. Es ist aber auch so groß, dass es alles umfasst. Tief wie das Meer, kann es nicht ausgelotet werden. Die größten Bereiche des Raumes reichen nicht über seine Grenzen hinaus, und der kleinste Vogelflaum im Herbst harrt seiner Macht, um Gestalt anzunehmen.
Ich denke, mit einem unbeschreibbaren schöpferischen Grund lässt sich leben, ohne dass jemand deswegen unter Mangelerscheinungen zu leiden hätte. Interessant an Laotses Spruch ist dessenungeachtet der Hinweis: Und es verweigert sich ihnen nicht. In diesem unscheinbaren Satz ist eine Nachricht enthalten, die wir vielleicht doch auszuloten versuchen sollten. Die unbekannte Größe in diesem Spiel, das wir Leben nennen, ist vielleicht unseren Problemen und Sehnsüchten gegenüber doch nicht so kosmisch gleichgültig und eiskalt wie der Weltraum. Falls stimmt, was Laotse hier vermerkt – und es sich nicht um Wunschdenken handelt. Womit ich als der Verfasser dieses Beitrages den schwarzen Peter hätte, etwas zu erklären, das so widersprüchlich ist. Denn das Tao als der Grund unternimmt tatsächlich nicht das Geringste, um zum Beispiel einer Amsel im Frühling ihr Nest zu bauen. Aber es hat den Vogel mit dem Wissen um die Kunst des Nestbaues ausgestattet und stellt in der Natur ein Milieu zur Verfügung, dass die Amsel sich vermehren und ihre Jungen füttern kann, bis sie flügge sind. Das Tao tut nichts, und doch tut es alles. Weil es die Amsel ist, und auch der Baum, in dessen Zweigen sie nistet und das Gras, mit dessen Halmen sie ihr Nest auspolstert. Die Wahrnehmung der Amsel lässt den Baum vorhanden sein und der Baum nimmt die Amsel wahr und schenkt ihr in der beiderseitigen Wechselwirkung Realität. Gleiches gilt für uns Menschen. Wir sind nicht vom Tao getrennt. Durch uns nimmt es unser Leben wahr und erzeugt es dadurch. Die gewaltige Energie des permanenten Schöpfungsprozesses von Werden und Vergehen strömt durch uns hindurch. Das Tao verweigert sich uns nicht. Es bleibt der fremde unbewegte Beweger, aber gleichzeitig bekommt es durch Sie und mich eine individuelle Identität, ohne die es vor unseren Sinnen kein Stattfinden gäbe. Auf den Menschen, der diesen von ihm ausgehenden Energien vertraut, trifft ergo auch der Satz zu: Es kleidet und nährt alle Dinge und spielt nicht ihren Herrn. Denn der Herr über die Dinge vor Ihren Sinnen sind Sie. Der Berufene, synonym auch der Wesenhafte oder der Mensch des WEGES genannt, bringt sein großes Werk zustande, weil er in aller Bescheidenheit aus der Stille einer Verbundenheit mit dem Grund der Dinge heraus wirkt.