Das Tao ist immer strömend, aber es läuft in seinem Wirken doch nie über.
Ein Abgrund ist es, der Ahn aller Dinge.
Es mildert ihre Schärfe. Es löst ihre Wirrsale.
Es mäßigt ihren Glanz. Es vereinigt sich mit ihrem Staub.
Tief ist es und doch wie wirklich.
Ich weiß nicht, wessen Sohn es ist. Es scheint früher zu sein als Gott.
Chuang tzu kommentiert den vierten Spruch Laotses in Gestalt eines erfundenen Gespräches mit Konfuzius. Hier lässt er Laotse auf dessen Frage nach dem Wesen des Tao wie folgt Auskunft geben: Das Tao ist dunkel und ungreifbar, schwer zu beschreiben. Ich will dennoch versuchen, es für Euch zu umreißen. Das Licht kommt von der Finsternis und das Aussagbare kommt aus dem Gestaltlosen. Die Lebenskraft kommt vom Tao und die Körperformen kommen aus der Lebenskraft und solcherart entwickeln sich alle Dinge der Schöpfung zu verschiedenen Formen. Das Leben tritt ohne sichtbare Quelle auf und vergeht wieder im Unendlichen. Es steht mitten in einem weiten Ausgedehnten, ohne sichtbaren Ausgang, Eingang oder Bedachung. Wer dem Tao folgt, ist stark an Körper, klar an Geist, von scharfer Sicht und scharfem Gehör. Er verlegt seinen Geist nicht mit Sorgen und passt sich geschmeidig den äußeren Umständen an. Der Himmel kann nicht anders als hoch sein, die Erde kann nicht anders als weit sein und der Mond kann nicht anders als kreisen. Alle Dinge der Schöpfung können nicht anders als leben und wachsen. Vielleicht ist das das Tao. Was der Weise bewahren möchte, ist das, dem hinzugefügt werden kann ohne dass es zunimmt, und von dem fortgenommen werden kann, ohne dass es abnimmt. Unauslotbar, gleicht es dem Meer. Ehrfurcht gebietend beginnt es den Kreislauf wieder dort, wo er endet. Es erhält die gesamte Schöpfung und erschöpft sich nie.
Laotses ehrenwerter Versuch, mehr über das Tao auszusagen als den Satz, dass niemand es beschreiben könne, und wer dennoch den Versuch unternehme, gerate bereits beim ersten Satz ins Abseits, macht deutlich, wie Recht er damit hat. Das Tao, das man beschreiben kann, ist nicht das wahre Tao, sagt er in diesem Zusammenhang. Unmittelbar ein schöpferisches Prinzip zu beschreiben, das sich jeder menschlichen Vorstellung entzieht, ist nur auf eine einzige Weise möglich, nämlich, indem man seine eigenen Ideen darüber formuliert. Es wird dann nicht das Unmessbare beschrieben, sondern das subjektive Bild, das sich der Betreffende vom Schöpfer macht. Mit jedem Versuch, sich intellektuell einem Phänomen zu nähern, das etliche Nummern zu groß für unser Gehirn ist, geraten wir automatisch ins Abseits. Laotse entschied sich im Erkennen dieser Schwierigkeiten darum zu einem Weg der Mittelbarkeit, zum Gleichnis vom Lauf des Wassers. Die Falle der Subjektivität blieb ihm dabei nicht erspart, er wäre kein Mensch gewesen, wenn ihm dies nicht widerfahren wäre. Laotse gab nie vor, selbst ein Heiliger zu sein und sein Anspruch an die Wahrheit seiner Lehre beschränkte sich darauf, den Suchenden und Fragenden aus Worten geformte Bilder wie ein Rorschach-Klecks vorzulegen und es ihnen zu überlassen, intuitiv das Geheimnis zu spüren, das Worte nicht entschlüsseln können.
Ich könnte mir nun den Spruch Zeile für Zeile vornehmen und die Texte ausdeuten, zum Beispiel, indem ich den Satz „Ein Abgrund ist es, der Ahn aller Dinge“ einfach umformuliere in „Das Tao ist unauslotbar und es ist der Urquell aller Dinge“. Aber was hätten Sie davon? Eine kryptische Metapher wäre damit lediglich zu einem metaphysischen Gemeinplatz umgestrickt worden. Ich habe diesen Spruch auch nicht gewählt, um Ihnen einen herrlich taoistisch klingenden Text vorzuführen, der Ihnen noch nicht einmal auf den zweiten oder dritten Blick irgendwelche Einsichten offeriert, wie Sie Ihre Probleme lösen sollen. Der oberflächliche Eindruck täuscht. In Laotses Sprüchen sind grundsätzlich Hinweise zur Lebenshilfe durch intelligentes Handeln enthalten, gleich, ob er Ratschläge für weises Regieren an die damals Herrschenden adressiert (was heute unseren demokratisch gewählten Volksvertretern auch gut tun würde), oder ob er uns gewöhnlichen Menschen den WEG des Tao weist. Chuang tzus Kommentar lässt bereits etwas vom Zauber taoistischen Fühlens und Denkens erahnen: Seine kategorischen Sätze zeichnen ein umfassendes Prinzip von Selbstorganisation, in dem jede Wirkkraft aus jeder anderen entsteht, ohne dass die Dinge sich behindern oder zerstören würden. Ein Mensch, der dem Tao folgt, verkörpert und realisiert im gleichen Maß wie das Schöpfungsgeschehen das Wesen des Tao, und zwar ebenso stabil und unerschütterlich wie der Grund der Dinge selbst. Er ist stark an Körper und klar an Geist, stellt Chuang tzu fest, der Mensch des Tao ist von scharfer Sicht und scharfem Gehör. Er belastet seinen Geist nicht mit Sorgen und er passt sich geschmeidig (wie ein Judokämpfer) den äußeren Umständen an.
Hier hätten Sie die Antwort auf Fragen, wie es künftig mit Ihnen und Ihren Problemen weitergehen soll. Der von Chuang tzu charakterisierte Mensch weist ein fundamentales Merkmal auf, mit dessen Vorhandensein oder Fehlen ein gelungenes Leben im Sinne taoistischer Lebensart steht und fällt. Ich rede von unserer Beziehung zur Realität. Je näher ein Mensch der Realität ist, desto näher ist er auch der Zauberkraft des Tao. Die Dinge so sehen und so erleben, wie sie wirklich beschaffen sind, erzeugt die Übereinstimmung und damit die Verbindung mit dem Tao. Der Himmel kann nicht anders als hoch sein, die Erde kann nicht anders als weit sein und der Mond kann nicht anders als kreisen. Alle Dinge der Schöpfung können nicht anders als leben und wachsen. Analog können die Erscheinungen, die in Ihrem Leben auftreten werden, niemals anders sein, als sie sind. Machen Sie es an Stelle der üblichen guten Vorsätze zur neuen Gewohnheit und lassen Sie jeglichen Vorgang, der künftig Ihre Sinne und Ihren Geist berührt, genau so sein, wie er beschaffen ist. Aus dieser Einstellung, die mit dem Wesen des Urgrundes harmoniert, kann nur das Eine hervorgehen – Leben und Wachsen.