An der Quelle des Tao 47

Ohne aus der Tür zu gehen, kennt man die Welt.

Ohne aus dem Fenster zu schauen, sieht man den SINN des Himmels.

Je weiter einer hinausgeht, desto geringer wird sein Wissen.

Darum braucht der Berufene nicht zu gehen und weiß doch alles.

Er braucht nicht zu sehen und ist doch klar.

Er braucht nichts zu machen und vollendet doch

In seinem Buch Der Lauf des Wassers weist Alan Watts auf die Verbindung zwischen Laotses Frage „Woher weiß ich dies alles?“ und „Ohne aus der Tür zu gehen, kennt man die Welt“ hin. Rupert Sheldrake betont in seinem Titel Das Gedächtnis der Natur gleichfalls diese Aussage. Er berichtet, wie Vögel und Säugetiere irgendwo auf der Welt in einer begrenzten Region neue Techniken der Nahrungsbeschaffung oder des Überlebens entdecken. Ohne Kontaktmöglichkeit zu Angehörigen der gleichen Gattung in anderen Erdteilen überträgt sich dieses Wissen dennoch auf geheimnisvolle Weise fernwirkend auf ihre Artgenossen. Sheldrake lässt uns in seinen Fallbeispielen wissen, wie eng die Dinge auf einer in der Natur gar nicht so unsichtbaren Ebene miteinander verbunden sind. Seine Thesen sind gut erklärt und die Beweise, die er vorlegt, sind glaubwürdig. Womit wir bereits beim Thema wären: „glaubwürdig“. Wenn ich lese, ich bräuchte als „Berufener“ keinen Schritt vor die Tür zu setzen, um Auskunft über die Welt zu bekommen, weil ich diese Welt selber bin, kann ich das als Unsinn ablehnen oder ich kann es glauben. Doch in beiden Fällen bin ich gleich schlecht bedient. Denn der Gläubige wie der Zweifler folgen nur ihren Ideen – wobei der Zweifler sogar die größeren Chancen hat, hinter die Wahrheit der Dinge zu kommen. Weil er skeptisch ist, nüchtern, kritisch. Wer dagegen eine Sache glaubt, entwickelt ein Gebäude von Ideen, das er um eine ihrer Natur nach durchaus wahre Grundaussage erschafft. Sein Leben und dessen Probleme finden in der rauen Wirklichkeit des Alltags statt. Und diesem Lauf der Dinge setzt der Gläubige seine Thesen entgegen – in unserem Fall die Überzeugung von der Einheit der Dinge und seiner Identität mit ihnen. Er begegnet der Wirklichkeit mit Ideen, mit Gedankengut. Und gibt irgendwann frustriert seinen Glauben auf, weil er ihm keinen Nutzen gebracht hat. Weil sich durch sein gläubiges Annehmen der Weisheit Laotses oder der ganzheitlichen Theorien Rupert Sheldrakes an seinem privaten Schicksal – die bis zur Einsicht des Versagens zeitlich befristete Zuversicht künftigen Gelingens vielleicht ausgenommen – nicht das Geringste geändert hat.

Das Kreuz mit unseren Gehirnaktivitäten besteht darin, dass nur die wenigsten Menschen zwischen Idee und Wirklichkeit, also zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden können. Nur in seltenen Momenten, meist in prekären Situationen, dringt die Realität zu unserem Bewusstsein durch. Jeder von uns weiß um die Unvermeidbarkeit des Todes. Aber der Tod bleibt Idee, die Begrenztheit des Lebens gehört zum Archiv der Gedächtnisinhalte. Erst wenn zum Beispiel bei schweren Gesundheitsstörungen das Warten auf das Ergebnis einer Gewebeuntersuchung zur ungewissen Qual wird, mutiert die Idee vom Tod zur Realität. Man ist jäh mit Tatsachen konfrontiert, bei denen die Flucht in die Ideenwelt nicht mehr hilft. Oder wenn der Verlust eines geliebten Menschen droht, wenn sich jemand unwiderruflich von uns trennt, dann müssen wir der Wirklichkeit ins Gesicht schauen. Bedauerlicherweise findet unsere Begegnung mit der tatsächlichen Welt, findet der Abschied von unserem Ideengebäude meist nur im Zusammenhang mit schmerzlichen Anlässen statt. Dieser Abschied ist allemal unfreiwillig. Und wir finden selbst dort, wo die Realität gnadenlos über unseren Geist hereinbricht, bald wieder Mittel und Wege zur partiellen Rückkehr in die vertrauten Räume unserer Phantasiewelt, in denen wir hoffen und von Auswegen träumen.

Unter diesen Umständen ist in der Tat Skepsis angesagt, wenn es um die Frage geht, welchen Nutzen uns Laotses großartige Behauptungen eigentlich bringen. Wo bleibt da die Lebenshilfe für den von Sorgen und Nöten beladenen Menschen? Wie soll es zugehen, dass wir an Stelle unserer Ideen über die Wirklichkeit dieser Wirklichkeit in Zukunft unmittelbar, ohne alle Versuche, sie uns mit Hilfe unserer Begriffe gefügig zu machen, begegnen können? Und wenn uns je der Abschied von unseren Ideen und Illusionen über unsere Welt gelungen sein sollte – was haben wir dann davon? Was, außer dass wir allen Herausforderungen des Lebens ohne ideellen Schutz ausgeliefert sind, bringen uns Laotses Einsichten? Nun, rekapitulieren wir zuerst einmal, was da eigentlich gesagt ist: Wir führen das erworbene Wissen samt den gespeicherten Erfahrungen auf unserem Weg durchs Leben im Marschgepäck mit. Und uns ist bekannt, dass Erfahrung und Wissen subjektiv und ergo begrenzt sind. Speziell die Begrenztheit unseres Entscheidungs- und Handlungshintergrundes ist es doch, die uns ständig Unbehagen bereitet. Sie ist der Unsicherheitsfaktor, der für die unterschwellige Furcht vor dem Morgen verantwortlich zeichnet. Bis heute waren wir den Anforderungen einigermaßen gewachsen, was aber wird die Zukunft bringen? In seinem 47. Spruch zeigt Laotse uns die Alternative. Je weiter einer hinausgeht, desto geringer wird sein Wissen. Hier ist nicht von Fachwissen die Rede, wie man ein Auto repariert oder eine Bilanz fälscht – es geht Laotse um das psychologische Wissen über uns selbst, über unser Schicksal und unsere Position im Universum. Gefordert ist die Bereitschaft, nichts über alle diese uns betreffenden Dinge wissen zu wollen. Das wäre dann Unsicherheit pur. Doch nur scheinbar. Denn eben dieses unser Wissen taugt nicht viel. Weil es aus begrenzten eigenen Schlussfolgerungen und im Übrigen durch Fremdeinflüsse gewonnen wurde.

Darum braucht der Berufene nicht zu gehen und weiß doch alles. Er braucht nicht zu sehen und ist doch klar. Sind das nun leere Versprechungen, zu alt und zu weit aus der Historie hergeholt, als dass sie einem Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts eine Hilfe sein könnten? Gewiss nicht. Wer als Realität erfasst, dass er das gesamte Potenzial des Universums an Wissen, in dem sein bescheidener Besitz an Erfahrung selbstredend eingeschlossen ist,  zeitlebens mit sich führt, beginnt zu verstehen, was Laotse hier in Aussicht stellt.  Und es wird auch klar, worin der Nutzen einer Geisteshaltung besteht, die sich nicht mehr auf das eigene Wissen verlässt, aber absolut dem gewaltigen Reservoir des Universums vertraut. Und zwar als etwas Tatsächlichem. Als etwas, das keinen Glauben braucht, keine Nachfolge, keinen Gehorsam. Allein Einsicht ist notwendig, die Einsicht in eine Wirklichkeit, die so anders als wir gelernt haben und für unseren Verstand so ungewöhnlich ist, dass er sie niemals in ihrer Tiefe ausschöpfen kann. Auf alles Entscheiden und Handeln, das in diesem Geist der Erkenntnis stattfindet, trifft dann Laotses Schlusswort zu:  Er braucht nichts zu machen und vollendet doch.

 

 

 

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