An der Quelle des Tao 49

Der Berufene hat kein eigenes Herz. Er macht das Herz der Leute zu seinem Herzen.

Zu den Guten bin ich gut, zu den Nichtguten bin ich auch gut;

denn das LEBEN ist die Güte.

Zu den Treuen bin ich treu, zu den Untreuen bin ich auch treu;

denn das LEBEN ist die Treue.

Der Berufene lebt in der Welt ganz still und macht sein Herz für die Welt weit.

Die Leute alle blicken und horchen nach ihm.

Und der Berufene nimmt sie alle an als seine Kinder.

 

In seinem 49. Spruch modelliert Laotse das Bild eines Menschen, der die Grundsätze der taoistischen Philosophie umfassend verstanden hat und sie in seinem Leben in die Praxis umsetzt. Mir gefällt die Abwesenheit von Forderungen in diesem Text. Nirgendwo steht: „du sollst, du musst“ oder gar „wehe wenn du nicht.“ Laotse beschreibt den Zustand seines eigenen Herzens und er legt unmittelbar ein Bekenntnis über sein eigenes Verhalten anderen Menschen gegenüber ab. Eigentlich spricht der Text eine so klare Sprache, dass eine Erläuterung beinahe zum Vergehen an dieser Klarheit wird. Denn deutlicher lässt sich die Thematik des umfassenden Mitgefühls, der praktizierten kollektiven Identität mit so wenigen Zeilen kaum darstellen. Weil ich im Teil 1 dieses Buches ziemlich schwierige Passagen verarbeite, darf ich es mir auch einmal etwas leichter machen.  Aber ich werde keinen erläuternden Kommentar zu dem Spruch abgeben – wer ihn so wie er von Laotse formuliert und von Richard Wilhelm übersetzt wurde, nicht versteht, wird auch den Zugang nicht finden, wenn ihm ein Buchkapitel mit wortreichen, sich zwangsläufig wiederholenden Deutungen an die Hand gegeben wird. Lieber richte ich den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf die Überlegung, wie es einem gewöhnlichen Sterblichen ohne das Prädikat „Der Berufene“ gelingen könnte, zu dieser harmonischen, liebevollen Geisteshaltung gegenüber der Welt zu finden und vor allem auch, was es denn, falls überhaupt, an Zugewinn von Lebensqualität bringt.

Die christliche Forderung „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ klingt, als ob sie in unmittelbarer Beziehung zu Laotses großem Herzen stünde. Aber der Anschein trügt. Das biblische Gebot ist eine Forderung an den Willen, es verlangt Selbstverleugnung und Überwindung der Widerstände, die unseren Sympathien für die Mitmenschen in Grenzen halten. Zwar verlangt der Versuch, dieses Gebot zu befolgen, Glauben, aber es ist nichtsdestoweniger auch ein Appell an den Intellekt. Die Geschichte ist ein heikles Thema, zumal wir oft genug Schwierigkeiten haben, selbst Menschen, mit denen uns eine liebevolle Beziehung verbindet, allezeit zu mögen. Wenn wir von Zuneigung, Mitgefühl und Liebe als einer Gruppe von Gefühlen reden, die wie Freude, Zorn oder Trauer immer mit einem Anlass, einer Situation gekoppelt auftreten, erlebt werden und wieder gehen, dann beziehen wir uns auf bekannte, alltägliche Emotionen. Doch das ist nicht das weite Gefühl, auf das Laotse sich bezieht. Der Mahayana-Buddhismus nennt es die große Sympathie. Es ist im taoistischen Sinne das Bewusstsein, keine von der Welt getrennte Identität zu besitzen. Einem Menschen, dem globale Identität keine Idee sondern eine Tatsache ist, kann es geschehen, dass dieses weltumspannende, universale Gefühl der Zuneigung zu allen Erscheinungen spontan hervortritt und ihn lautlos, aber überaus wirksam durchs Leben begleitet. Dieser Geisteszustand ist im Grunde auch der Sinn in der Aufforderung der taoistischen Weisen, diesen engen Kreis unseres individuellen Selbst durch Erkenntnis des Tatsächlichen zu sprengen und unsere Identität zu einem Kreis mit unendlichem Durchmesser auszudehnen. Damit fallen ohne Mitwirkung des Willens alle Schranken, die uns vom großen Tao trennen.

Und bitte, was habe ich am Ende davon? Eigentlich muss die Antwort lauten: das sollten Sie nicht fragen. Genügt es nicht, der Wahrheit zu begegnen? Wenn Sie dafür belohnt werden wollen, dass Sie die Ganzheit der Dinge akzeptieren, handeln Sie motiviert und damit korrupt – und werden mit dieser Einstellung niemals die alten Muster los. Geben Sie ohne Motiv, ohne nach dem Nutzen zu schielen die Versuche auf, Sie selbst zu sein (was Sie sonst ständig tun). Finden Sie sich emotional hinein in das Draußen, in alles, was Ihre Sinne erfahren. Mit dem Ablegen der alten Gewissheiten über sich verschwinden auch die Hindernisse zwischen Ihnen und Ihrem geistigen Kern. Damit befinden Sie sich in Harmonie mit den Dingen – und dies wird sich deutlich und nicht zuletzt auch in der Qualität Ihres Alltags niederschlagen. Lassen wir Chuang tzu das letzte Wort: Der Zustand, wo Ich und Nicht-Ich keinen Gegensatz mehr bilden, heißt der Angelpunkt des Sinns. Das ist der Mittelpunkt, um den sich nun die Gegensätze drehen können, so dass jeder seine Berechtigung im Unendlichen findet.

 

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