An der Quelle des Tao 6

Der Geist des Tales stirbt nicht, das heißt das dunkle Weib.

Das Tor des dunklen Weibes, das heißt die Wurzel von Himmel und Erde.

Ununterbrochen wie beharrend wirkt es ohne Mühe.

In der Schöpfungsgeschichte der Bibel steht am Beginn die Nacht. Laotse hat seine Sprüche lange nach der Genesis geschrieben, aber ich bin sicher, er hatte keinen Zugang zum israelischen Schriftgut. Dennoch setzt Laotse ebenfalls die Dunkelheit an den Anfang der Dinge. Die Poesie des Satzes „Der Geist des Tales stirbt nicht“ weist auf die unendliche Existenz des Tao hin. Und ich empfinde jedes Mal heimliche Freude, wenn ich wieder eine Textpassage an die Hand bekomme, in der Laotse in einer von Männern beherrschten Welt dem Weiblichen den Vorzug gibt.

Ich habe den 6. Spruch nicht zuletzt wegen der ersten Zeile ausgewählt, weil es sich nicht vermeiden lässt, dass wir uns zwischendurch auch mit unserer Endlichkeit beschäftigen. Wie schon öfter erwähnt, wissen Sie, dass vom Taoismus diesbezüglich keine Verheißungen von einem ewigen individuellen Leben oder einer Wiederkehr der Toten mit einer anderen Identität zu erwarten sind. Doch bevor Sie sich aus Gründen des Mangels an Trost einer verheißungsvolleren Lehre zuwenden, halten Sie bitte noch für einige Takte inne. Denn die Dinge verhalten sich anders, als Sie in Ihrer Sehnsucht nach Fortbestand vielleicht befürchten. Der Geist des Tales, der nicht stirbt – das sind Sie! Es ist der Geist, der in Ihren Erdentagen alles Erleben erfährt und der nach Ihrem Hinscheiden weiterhin vorhanden sein wird. Dieser Geist hat für uns Egozentriker nur einen Schönheitsfehler: er ist zwar Ihr Geist und meiner, aber er ist auch der Geist aller anderen, einschließlich vielleicht geheimnisvoller Lebewesen auf anderen Sternensystemen. Dennoch bedeutet das, dass Ihr Bewusstsein, das Sie als Ihr individuelles ansehen, nicht mit dem Körper dahingeht, wenn dieser wie eine Einwegpackung seinen Dienst getan hat. Abschied zu nehmen gilt es nur von der Idee, dieses egozentrische Ich müsste in einem anderen Leben als Individuum fortbestehen. So sieht das Konzept des Tao nicht aus. Es verliert sich in Ihnen als einem eigenständigen Menschen, aber es kehrt auch wieder zu sich selbst zurück. Schauen Sie, in zahllosen Religionen steht als Ziel die Vereinigung des Menschen mit dem Göttlichen. Nun, genau dies findet im Sinne der taoistischen Philosophie statt. Und zwar ohne Umwege. Ohne die Notwendigkeit komplizierter Verwandlungen. Weil der Geist des Tales Ihr und mein Geist ist und es schon immer war.

Chuang tzu kommentiert den Vers unter dem Eindruck von Laotses Poesie entgegen seinem ansonsten eher ruppigen Stil seltsam zurückhaltend:

Es gibt ein dem Geschaffenen innewohnendes, nicht ausgedrücktes Prinzip. Der Weise schaut auf die Schönheit des Alls zurück und dringt in das den geschaffenen Dingen innewohnende Prinzip ein. Darum tut der vollkommene Mensch nichts, der große Weise vollbringt keine Taten. Indem er so handelt, folgt er dem Beispiel des Alls. Der Geist des Alls ist zart und gestaltet alles Leben. Die Dinge leben und sterben und wechseln ihre Form, ohne die Wurzel zu kennen, aus der sie alle hervorgehen. Überquellend vermehrt es sich, ewig besteht es für sich. Die größten Bereiche des Raumes verlassen seine Grenzen nicht, und die kleinste Flaumfeder im Herbst erwartet seine gestaltende Macht. Die Dinge tauchen empor und hinab, es aber bleibt ewig unverändert. Das Yin und das Yang und die vier Jahreszeiten bewegen sich in geordnetem Zuge. Dunkel und ohne sichtbare Gestalt scheint es nicht zu sein und ist dennoch. Die Dinge der Schöpfung werden, ohne es zu wissen, von ihm ernährt. Das ist die Wurzel, aus welcher man das Weltall überschauen kann.

Chuang tzu übergeht nichts von dem, was der Vers aussagt. Bemerkenswert dabei ist sein spontanes Verständnis, mit dem er die Wurzel von Himmel und Erde mit dem Menschen des Tao gleichstellt, den er den Weisen oder den vollkommenen Menschen nennt. Dieses Eindringen in die Schönheit des Alls und in das Tao ersetzt die großen Taten. Wer dem Tao folgt, verhält sich wie der Schöpfungsprozess. Und an dieser Stelle muss ich auf einen Punkt hinweisen, der im Licht von Chuang tzus Stellungnahme vielleicht noch ein bisschen deutlicher, verständlicher wird, als Sie es oben empfunden haben mögen: Wahrnehmung, Schöpfung und Bewusstsein sind ein einziger Vorgang. Ich beobachte die Dinge, weil sie anscheinend da sind. Sie sind aber nur da, weil ich sie beobachte. Mir wird das Leben bewusst, das aber nur deshalb stattfindet, weil es mir bewusst ist. Wenn Laotse seinen Spruch damit abschließt, dass das dunkle Weib wie beharrend ohne Mühe wirkt, drückt das nichts anderes als das Prinzip des Nichthandelns aus. Es ist zugleich die Rezeptur – falls jemand nach einer solchen sucht – die dem fragenden Menschen die Antwort liefert, wie man sein Leben zum Gelingen führt. Ich möchte Sie darum fragen, warum Sie im Angesicht Ihrer Identität mit dem Geist des Tales nicht der Spur der Weisen folgen, die ohne sich anzustrengen der Schöpfung und dem Wirken der Kräfte ihren Lauf lassen. Unterbleibt es, weil Sie nicht glauben, es nicht fassen können, dass Sie das alle selbst sind? Oder liegen Versuche hinter Ihnen, bei denen Ihr Bemühen misslang? Sind Sie jemals voll und ganz aus Ihrem bisherigen Existenzgefühl als losgelöstes Subjekt ausgestiegen? Hielten Sie sich Rückversicherungen offen, für den Fall, dass die Lehre vom Tao der gleiche Schwindel ist, wie viele andere so genannte Heilslehren? Hier sei vermerkt, dass die Weisheit des Nichthandelns nichts von Ihnen verlangt, als Ihre alten Überzeugungen, Ihre erlernten, sogar erfahrenen Gewissheiten in den Schrank zu packen und den Schlüssel fortzuwerfen. Es ist kein Risiko, dem tiefsten inneren Wesen zu vertrauen. Hören Sie auf, die eigenen, unerprobten Gaben weiter zu verleugnen. Tun Sie es. Verstehen Sie endlich, Sie sind der Geist des Tales. Werfen Sie die Furcht vor den Unsicherheiten Ihres Lebens ab. Sich seiner Identität mit dem ganzen Prozess der Schöpfung bewusst zu werden, bietet absolute Sicherheit. Eine Sicherheit, die weit über die Spanne Ihres Daseins hinausreicht. Erkennen Sie es und handeln Sie danach.

 

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