An der Quelle des Tao 67

Alle Welt sagt, das Tao sei zwar groß, aber sozusagen unbrauchbar.

Aber gerade weil es groß ist, ist es sozusagen unbrauchbar.

Denn wenn es brauchbar wäre, wäre es längst klein geworden.

Ich habe drei Schätze, die ich hüte und mir bewahre:

Der erste ist die Liebe. Der zweite heißt Genügsamkeit.

Der dritte ist, nie der Erste sein wollen.

Durch die Liebe wird man furchtlos. Genügsamkeit macht weitherzig.

Ohne Ehrgeiz kann man Menschen führen.

Wenn man im Kampf die Liebe hat, dann siegt man.

Wenn man sie bei der Verteidigung hat, wird man unüberwindlich.

Wen der Himmel retten will, den schützt er durch die Liebe.

Was meint Laotse in seinem 67. Spruch damit, alle Welt würde dem Tao zwar Größe, aber kaum Brauchbarkeit zugestehen? Was sich anhört, als ob im Universum eine ins Unendliche ausgedehnte Autorität walten würde, die aber  außer eben dieser Ausdehnung dem Menschen keinen Nutzen bringt. Laotse betont  diese Unbrauchbarkeit im zweiten Satz des Spruches sogar noch und begründet diesen Mangel mit der Größe. Um das Rätsel abzurunden, schließt er den ersten Absatz seines Textes mit der Behauptung, das Tao würde seine Größe einbüßen, wenn es brauchbar wäre. Es scheint, als würden diese Sätze in Widerspruch zu allen anderen Verlautbarungen stehen, die uns über das Tao erhalten geblieben sind. Aber der Eindruck täuscht. Mir fiel als erstes die zweifache Verwendung von „sozusagen“ auf. So zu sagen. So redet die Allgemeinheit über ein Etwas, von dem sie nichts weiß. Laotse stiftet gewollt Verwirrung, macht klar, dass dem Unbekannten, Unermesslichen keine Eigenschaften angedichtet werden können, weder groß noch klein, weder brauchbar noch unbrauchbar.

Dann bricht er seine Reminiszenzen ab und  kommt ohne Umweg auf die Kostbarkeiten einer Lebenskunst zu sprechen, die auch dem christlichen Gedankengut entsprungen sein könnten. Liebe[1], Genügsamkeit und die Abwesenheit von Ehrgeiz sind die Wesenseigenschaften eines Menschen, der den WEG geht.  Der Bruch im Textfluss macht Sinn, wenn man den oftmals paradox erscheinenden Sprüngen des taoistischen Denkens auf der Spur bleibt: Genügsamkeit ist für Laotse nicht gleich Entsagung. Wenn ich meine Gier nach den zahllosen Dingen aufgebe, sind sie immer noch da, sie sind immer noch für mich verfügbar, ohne dass ich mich nach ihnen verzehren müsste. Die Weisheit des Taoisten kommt in der Einsicht zum Ausdruck, dass die Dinge, um deren Erlangung ich zu ringen aufhöre, insgeheim Bestandteil meiner eigenen umfassenden Identität sind und mir zufließen, sobald ich sie wirklich brauche. Ich sage „wirklich brauche“, weil auch auf dem WEG die Polarität nicht grundsätzlich außer Kraft gesetzt wird. In dieser Selbstgenügsamkeit ist auch kein Platz für Ehrgeiz und ein von Beweggründen, von Motiven angetriebenes Handeln. Die Lebenskunst drückt sich in einer Geisteshaltung aus, die fähig ist, Dinge um ihrer selbst willen zu tun.  Sobald mein Handeln unmittelbar auf Herausforderungen reagiert und sich keiner Idee, keinen Grundsätzen, keiner „Sache“ mehr verpflichtet fühlt, ist es frei und kreativ und damit stark.

Die Liebe, von der Laotse spricht, hat nichts mit Verliebtheit zu tun. Sie ist mehr als eine Emotion und geht weit über Denken und Fühlen hinaus. Die Liebe ist laut Laotse die fundamentale Dimension des Seins überhaupt, und ihr Wesensmerkmal ist nicht nur das Leben – sie bedeutet auch Tod und totale Zerstörung. Wenn Sie je einen Menschen beim Sterben begleiteten, haben Sie es wahrscheinlich gespürt, ohne zu ahnen, dass es Liebe war: wie die Schlussakkorde einer Beethoven-Sinfonie wurden die Atemzüge immer langsamer, die Majestät des Todes mit allen Implikationen war zum Greifen nahe und mit ihr die Liebe des Alls. Liebe bedeutet auch die Zerstörung von allem, was uns von der Einsicht in die Wahrheit des Seins trennt. Hier schließt sich der Kreis von Laotses Ausführungen. Liebe ist die gewaltige Waffe in unserem Daseinskampf, sie ist es, die die Barrieren zwischen uns und dem Glück niederreißt. Ihre Zerstörung braucht kein Motiv, sie offenbart sich in einem Handeln, das keinen Zweck verfolgt, das nicht um eines Ergebnisses willen geschieht. Die Buddhisten nennen sie die große Sympathie. Wir können nicht wissen, was Liebe ist. Sie niemals zu kennen und dennoch ihre Schönheit zu spüren, ist das Wunder an ihr. Sie ist da. Sie ist eine Tatsache. Und wir können ihr im Tod des Gestern und der Ungewissheit des Morgen begegnen. Dann wird ersichtlich, dass Liebe nicht erlangt werden kann, weil sie eine Dimension unseres Selbst ist.

[1] Dieser Spruch scheint der einzige zu sein, in dem der Übersetzer Richard Wilhelm Laotse das Wort Liebe sagen lässt, während er im  übrigen Tao te king dafür den Begriff Güte bevorzugt.

 

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Eine Antwort zu An der Quelle des Tao 67

  1. gitti haas sagt:

    DANKE…dieser Text hat mich wieder einmal sehr berührt.

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