An der Quelle des Tao 7

Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd.

Sie sind dauernd und ewig,  weil sie nicht sich selber leben.

Deshalb können sie ewig leben.

Also auch der Berufene: Er setzt sein Selbst hintan und sein Selbst kommt voran.

Er entäußert sich seines Selbst, und sein Selbst bleibt erhalten.

Ist es nicht also: Weil er nichts Eigenes will, darum wird sein Eigenes vollendet?

 

In den einleitenden Sätzen seines siebten Spruches liefert Laotse uns den Hinweis auf ein Sein ohne Ende, indem er den Berufenen mit Himmel und Erde gleichstellt. Darauf Bezug nehmend schildert Chuang tzu in launigen Metaphern, wie das Tao in seiner Identität als Himmel, Erde und analog als ein Mensch des WEGES durch Nichtstun handelt, ohne dass es einen Versuch gibt, über das schiere Vorhandensein hinaus ein Selbst zu produzieren, das sich in den Vordergrund drängt: Der Himmel bedeckt alles in gleicher Weise. Die Erde stützt alles in gleicher Weise. Kleine Hügel  stapeln sich aufeinander und werden ein Berg. Flüsse fließen zusammen und werden ein großer Strom. Das Tao ist einem großen Sumpfland vergleichbar, wo Bäume aller Art wachsen. Seht den Berg an: er duldet Bäume und Felsen auf dem gleichen Hang.

Versuchen wir, Laotses Äußerungen aus der Perspektive eines Denkmodells Baujahr 2012 zu betrachten. Und wir wollen uns dabei von dem pompösen Titel „Der Berufene“ nicht stören lassen. Dieser Berufene wurde nämlich ganz gewiss nicht vom Tao auserwählt, weil das Tao keine Jünger um sich sammelt und keine Belohnung verheißt. Unter dem Wirken des Tao geschehen gewaltige Dinge, aber der Urgrund bleibt dabei die Einfachheit selbst. Wenn es unter uns Berufene gibt, dann sind sie das nur, weil sie von sich aus zum WEG gefunden haben. Also bliebe als nächstes zu klären, was das nun für ein Selbst ist, das dieser Berufene hintenan stellt. Wie wird man das Selbst los? Selbstlos? Das Wort hat doch einen Beigeschmack. Man denkt an den romanhaften Opfergang einer Mutter, die Aufopferung und Hingebung im Dienst an Menschen, man denkt an all die Idealisten, die ihre egoistischen Interessen scheinbar einer großen Idee opfern, alle ihre Zeit erhabenen Zielen zur Verfügung stellen. (Und man übersieht dabei, dass genau diese Aufopferung tatsächlich auch nur wieder die Variante eines Ego-Trips sein kann.) Dies alles kann Laotse nicht gemeint haben, wenn er seinen Berufenen als einen Menschen charakterisiert, der sein Selbst beiseite geräumt hat. Wenn ich mich extrem bescheide, auf alles Wünschen und Planen verzichte, mich in Selbstlosigkeit übe – wo stehe ich dann? Ich befinde mich dann nach wie vor inmitten eines brausenden, tobenden Lebens. Nur mit dem Unterschied, dass ich mich so stark zurückgenommen habe, dass Freuds „Schmerzvermeidung durch Lustverzicht“ auf mich zutrifft. Ich bin zu einem dieser verzagten, mehr oder weniger lebensunwilligen, lustlosen Typen geworden, dem alles lieber ist als Verantwortung zu übernehmen. Womit klar wäre, dass wir noch immer keine Klarheit darüber besitzen, was das für ein Selbst ist, dessen Zurückstellung so spektakulär positive Nebenwirkungen haben soll.

Gehen wir das Problem einmal von der Rückseite an und schauen nach, wie Menschen beschaffen sind, die nicht im Traum daran denken, etwas von ihrem Selbst und der Lebensgier dieses Selbst aufzugeben. Das Sittenbild unserer Gesellschaft weist einen Trend aus, in dem die Menschen in ihrer Selbstdarstellung immer schriller, auffallender – und leider auch extrem geschmackloser werden. Sehen Sie sich doch nur die periodischen Feste an, wo die echten Prominenten oder die sich prominent Fühlenden samt  ihren Nachahmern auftreten. Was hier zur Schau gestellt wird, ist geradezu obszön. Da erfährt man von der aufgetakelten Fernsehredakteurin, dass die Diva ein Collier trägt, das anderthalb Millionen gekostet hat oder dass eine andere ein Kleid trägt, für dessen Preis sich eine Familie ein halbes Jahrhundert ernähren könnte. Oder der Sportwagen vom Modedesigner: hat über eine Million gekostet. Schade, dass der für das viele Geld auch bloß einen Motor und vier Räder hat und ebenso wie ein kleiner Fiat kaputt geht, wenn man ihn an die Wand fährt. Der Geist der Zeit bewegt die Menschen und sorgt dafür, dass solchen Leitbildern zugejubelt wird, und dass das einfache Volk versucht, so viel wie möglich von diesem Glanz nachzuahmen. Man bedient sich der Billigausgaben dieser Neid erweckenden Luxusgüter, wohnt billig und verzichtet darauf, in Herbergen zu wohnen, wo eine einzige Nacht zehntausend und mehr kostet. Vom extrem überzogenen Ego bis zum normalen, von dem Bedürfnis nach Anerkennung erfüllten Selbstbewusstsein des gewöhnlich Sterblichen hat das Innenleben des ganzen Volkes etwas gemeinsam: Dieses Selbst ist das Wichtigste im Leben, seine Bedeutung wird extrem überbewertet und ist unerkannt die Quelle allen Konfliktes.

Ich muss das Täuschende, in den meisten Fällen auch Enttäuschende an den Leitbildern dieser Zeit erkennen. Ich muss das Talmiglück des Glamours als wertlos durchschauen und von Herzen verneinen lernen. Sobald mir das gelingt, fange ich an zu realisieren, dass dieses Selbst, das die anderen so energisch in den Vordergrund schieben, für ein erfolgreiches, aber darüber hinaus harmonisches Leben gar nicht gebraucht wird. Ich brauche ein übersteigertes Ego, wie das irregeführte Volk es vorführt, ungefähr so nötig wie ein gebrochenes Bein. Ein verständiger Mensch hält sich aus dem Trubel heraus und sucht dafür die Harmonie mit der Bewegung der Dinge. Wie würde in seiner praktischen Anwendung dieses Harmonieren denn aussehen, mögen Sie sich oder mich an dieser Stelle fragen. Ein kleines Beispiel: Ihr altes Auto ist Ihnen nicht mehr gut genug, weil alle anderen sich hoch verschulden und im Gegenzug Neuwagen der gehobenen Klasse anschaffen. Die Leute sitzen in Gefährten, die neu und nach teurem Leder duften und in denen man sich quadrophonisch mit Musik berieseln lässt. Sie besitzen nicht das Geld, um es für so ein Auto auf den Tisch des Händlers zu blättern. Und etwas in Ihnen sträubt sich, so hohe Schulden für etwas zu machen, das bereits im ersten Jahr des Gebrauchs ein Viertel bis ein Drittel seines Wertes verliert und nach weiteren zwei Jahren bereits aus der Mode und durch ein noch spektakuläreres Modell mit noch mehr Pipapo ersetzt werden wird. Sie spüren beim Anblick der fremdfinanziert teuer ausgestatteten Verkehrsteilnehmer plötzlich ein Glücksgefühl. Ein Hauch von Stimmigkeit, vom richtigen, harmonischen Leben weht Sie an. Sogar Ihr Verstand, Ihr kritisches Denken realisiert, welcher Falle Sie entgehen, indem Sie mit Ihrem bescheidenen Gefährt weiterhin zufrieden sind. Auf eine vernünftige Weise haben Sie Ihr Selbst hintenan gestellt (weil Sie mit den Hyper-Egos nicht um jeden Preis mitzumischen versuchen) und Sie haben nicht das Eigene durch Schuldenmachen gesucht. Wer konsequent den WEG geht, wird bei dieser Geisteshaltung erfahren, dass eines Tages die Tür aufgeht, und die Mittel vorhanden sind, um den Wunsch nach einem luxuriöseren Auto zu erfüllen. Und Sie werden spüren, dass Sie jetzt nicht vom Zeitgeist getrieben die freie Wahl haben, was Sie tun wollen. Und oft geschieht es dann, dass Ihnen unversehens die Lust vergeht, sich an diesem kostspieligen Wettlauf um Bedeutung und Ansehen zu beteiligen. Wenn Sie sich dann tatsächlich und ohne Schulden zu machen einen größeren Wagen anschaffen, dann ausschließlich aus dem Bedürfnis heraus, bequemer und sicherer zu reisen. Der Mensch des Tao vernachlässigt das Eigene und es wird ihm zufließen. Nicht jeden Tag, nicht immer, nicht unter Garantie, aber immer dann, wenn er es tatsächlich braucht.

Nichtsdestoweniger gibt es am Vorhandensein unseres Selbst an sich nichts zu kritisieren. Es existiert und wirkt in unser Leben hinein. Man könnte es vielleicht so definieren: Mein Selbst schließt meinen Körper ein, das denkende Gehirn, alles Erleben, die ganze Wahrnehmung des täglichen Daseinsverlaufes. Dagegen hat auch Laotse nichts einzuwenden. Sein Berufener verfügt ja auch über ein Selbst, sonst könnte er nichts damit anfangen. Doch der Berufene lässt nicht zu, dass sein individuelles Selbst andauernd in den Lauf der Dinge eingreift. Er macht es Himmel und Erde nach und lässt den Dingen ihren Freiraum, um sich zu entfalten. Es würde sich lohnen, liebe Leserin, lieber Leser, an dieser Stelle für ein kleines Experiment innezuhalten: Versuchen Sie sich doch einmal für wenige Minuten in ein Gefühl einzuleben, als ob der Himmel über Ihnen und die Erde unter Ihren Füßen zu Ihrem Selbst gehören würden wie Ihr Gedächtnis oder Ihre angewachsenen Gliedmaßen. Geben sie nicht gleich auf, wenn es nicht so leicht geht. Denken Sie daran, wie oft Sie beinahe unwillkürlich in Träumereien von Ereignissen verfallen, die erst noch stattfinden müssten. Träumen Sie sich in dieses Gefühl hinein, es ist immerhin ein Traum, der etwas Wirkliches nachvollzieht. Wenn Ihnen dieses Gefühl von der Einheit dieser drei Elemente, nämlich Ihnen als Person plus ihres Lebensraumes samt aller Inhalte gelingt, werden Sie mit einemmal auch ein Gefühl dafür entdecken, wie Laotse Nichthandeln versteht: Sich eins mit Ihrer Welt erlebend merken Sie zugleich, wie die Dinge sich gegenseitig beeinflussen und fortgesetzt zu Resultaten führen. Und es wird sich in Ihrem Geist Klarheit einstellen, dass Sie als die Einheit von Selbst, Himmel und Erde am Zustandekommen dieser Resultate allezeit beteiligt sind. Daraus folgt beinahe zwanglos die Reaktion, in Zukunft die Kraft Ihrer Aufmerksamkeit viel stärker aufs Ganze zu richten. Sie wenden den konzentrierten, angestrengten Blick von Ihrem Selbst und vom Eigenen ab – und entdecken, wie das Selbst sich universaler erlebt, und wie Ihr Eigenes ohne Mühe und Not wie von der Brandung herbei gespültes Strandgut an Ihren Ufern landet. Kurzum: mit dem Verblassen des individuellen Identitätsprofils wächst im Berufenen eine andere Dimension an Sein heran. In der taoistischen Philosophie kommt die Befreiung aus der Erkenntnis, dass das Einzelselbst nichts und die große Einheit des Alls alles ist. Laotse setzt uns mit Himmel und Erde gleich – einfach, weil wir das sind. Der Berufene ist das alles und das Verhalten der Erscheinungen sollte das Spiegelbild unseres Denkens, Fühlens und Handelns sein. Die Welt braucht kein Selbst, sie ist eines. Und dieses Selbst – sind Sie!

Die Entwertung des vereinzelten, individuellen Selbst und der emotionale und auch intellektuelle Schwenk hin zum Selbst des Universums hat eine Fülle positiver Konsequenzen. Wir geben die Illusion von unserem kleinen Selbst auf, wir beginnen zu begreifen, was wir uns selber mit dieser Beschränkung unserer Identität auf das Volumen eines Dorfweihers antun, wo unser Selbst in Wirklichkeit die Dimension des Atlantischen Ozeans besitzt. In der Praxis heißt das, wir nehmen uns in Zukunft nicht mehr so wichtig. Das schließt ein Ende aller Bemühungen um psychisches Wachstum ein, es ist das Ende allen Werdens. Selbst auf den Wunsch nach Sein verzichten wir, weil es da nichts zu erreichen gibt, was nicht bereits vorhanden wäre. Mit diesem Aufgeben, mit diesem Umschwenken unseres ganzen Denkens und Fühlens gewinnt unser Selbst diese universelle Dimension. Wir bewegen uns in Harmonie mit unserer Welt, doch was handelt, ist nicht mehr das alte Selbst, es ist das Selbst, in dem Himmel und Erde in der Identität enthalten sind. Der Berufene kämpft nicht um Eigenes, ihm fehlen die Triebkräfte des Besitzdenkens, der Haben-Mentalität. Aber exakt dieser geistige Freiraum schafft das Vakuum, in das Wohlergehen und Wohlstand nachfließen können.

Finden Sie nicht, dass es sich lohnen könnte, in diesem Zusammenhang einmal die eigene Geisteshaltung gründlich unter die Lupe zu nehmen?

 

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