Blindflug

Sie kennen den Ausdruck sicher vom Flugverkehr her. Bei schlechter oder nicht vorhandener Sicht ersetzen Instrumente das Auge – bei der hoch entwickelten Technologie werden die menschlichen Sinne beim Fliegen ohnehin selbst bei bester Sicht zu einem hohen Prozentsatz von elektronischen Messungen ersetzt. Ich möchte in diesem Beitrag eine Beziehung zwischen einem Nachtflug und unserem Weg durchs Leben herstellen. Im Grunde befinden wir uns fortgesetzt in einer Situation, in der wir uns aus Erfahrung und Bewertung der akuten Sachverhalte zwar ausrechnen können, was als nächstes geschieht, aber wissen, mit Sicherheit wissen, tun wir das nicht. Darum bewegen wir uns selbst in relativ krisenfreien Phasen immer mit einer gewissen Unsicherheit im Gemüt der Zukunft entgegen. Jenseits unserer intellektuellen Kalkulationen bleiben etliche Bereiche unseres Alltags immer im Nebel und wir steuern mit einem für eine umfassende Vorausschau nur bedingt geeigneten Mittel, unserem Verstand nämlich, ins Ungewisse hinein. Daher mag das Unbehagen rühren, das uns von Zeit zu Zeit selbst inmitten harmonischer Lebensabschnitte befällt, und uns sogar völlig irrationale Ängste heimsuchen, deren Quelle unsichtbar für uns bleibt.

Betrachtungen dieser Art klingen nicht schön. Sie spiegeln aber bis zu einem gewissen Grad das universale Prinzip der Schöpfung wider. Das viel häufiger als es selbst den Philosophen lieb ist, den Zufall an Stelle ewiger, verlässlicher Gesetze ins Spiel bringt. Und wenn wir etwas absolut nicht mögen, dann ist es genau die Vorstellung, ständig mit Zufälligkeiten rechnen zu müssen. Wenn dagegen ein Theaterstück oder ein Film keine Überraschungen liefert, finden wir das langweilig und werfen Autoren und Regie mangelnde Phantasie vor. Aber aus dem eigenen Leben sollen derartige Effekte bitteschön heraus bleiben.
Doch genau dies tun sie eben nicht! So gesehen ähneln Teile unseres Lebens einem Flug im Nebel, in dem wir ohne den Gebrauch der richtigen Instrumente riskant reisen würden. Was das für Instrumente sind? Nun, wir nennen sie Intuition, Instinkt, Ahnungsvermögen – und nicht zuletzt natürlich Verstand, Intelligenz.

Damit ausgestattet sollten wir eigentlich relativ sorglos in die wechselnden Szenen der Zukunft hineinsteuern. In unserer Gegenwart sind mögliche Ereignisse der Zukunft als Tendenzen zu geschehen oder nicht zu geschehen eingelagert, quasi als lose Enden von Kausalketten – an denen wir zum Teil gar nicht so unbeteiligt sind. In unserem Gehirn sind die Gaben des Erkennens solcher Tendenzen vermutlich schon seit der Steinzeit vorhanden. Heute hat die Hirnforschung sogar Etiketten wie „Spiegelneuronen“ oder „Neocortex“ dafür gefunden. Diese Funktionen mögen sich im Laufe der Jahrtausende verfeinert haben und mit den Spitzfindigkeiten der Moderne gewachsen sein. Die Frage lautet freilich, in welchem Maß wir heute tatsächlich von unseren Fähigkeiten Gebrauch machen. Ich rede hier nicht von Hellseherei – im Interesse eines einigermaßen spannend und abwechslungsreich verlaufenden Daseins wäre ein allwissender Blick in die Zukunft so fehl am Platz wie eine zu früh gespielte Pointe in einem Film oder Theaterstück. Wir brauchen die Spannung des Unbekannten, Unerforschten, soviel ist sicher. Aber in den kleineren Dingen, in den Begegnungen eines einzigen neuen Tages, wäre ein Blick durch auftretende Nebelvorhänge doch ganz angenehm.

Genau dafür hat die Evolution uns auch ausgestattet. Denken Sie an Berichte von Naturkatastrophen, als Tiere dies vorher spürten und massenweise flohen. Die Menschen freilich merkten erst, was sich da anbahnte, als es zu spät zur Flucht war. Sie meinen, ich rede hier vom Versagen der zitierten Gaben? Im Gegenteil: die Instrumente der Vorausschau hätten mindestens so gut wie bei den Tieren funktioniert – aber der Mensch hatte nicht mal im Traum daran gedacht, sich ihrer zu bedienen. Und wie steht es in diesem Zusammenhang mit Ihnen selbst? Ich bin mir nicht sicher, ob Sie überhaupt wissen wollen, was Sie an speziellen, vorhersehbaren Ereignissen demnächst erwartet. Dagegen schätze ich, dass diese – ich möchte sagen, animalischen Fähigkeiten, die einst dem Menschen der Vorzeit überleben halfen, auch in Ihrem Gehirn noch schlummern und bereit sind, aktiv zu werden, sobald Sie Ihren Sinn für deren Signale öffnen.

Jetzt dürfen Sie die die berühmte Frage stellen, wie man das denn macht. Sie brauchen gar nichts zu tun! Ihre Instinkte und spontanen Einsichten in Situationen funktionieren in einem selbstauslösenden Reflex, sobald Sie ein paar Ihrer Denkgewohnheiten durchschauen und ihnen weniger als bisher vertrauen. Im Grunde ist unser Denken nebenher ständig mit Reflektionen beschäftigt, was als nächstes oder übernächstes geschehen könnte. Wir verhalten uns wie ein Unterseeboot, das via Echolot nach Untiefen und Gefahrstellen sucht. Die Schwachstelle bei der Sache sind nicht die Überlegungen an sich – die Schwäche liegt in unserer überschäumenden Phantasie. Wir übermalen Ereignisse, die nur als vage Möglichkeit des Stattfindens existieren, mit den Farben des Schreckens und leiden dann unter unserer eigenen negativen Kreativität. Sie werden diese gedanklichen Reaktionen nicht ausschalten können, aber der feine Unterschied kommt darin zur Wirkung, wie wichtig Sie diese Gedankenfolgen künftig nehmen. Wenn Ihnen klar wird, dass es da tief in Ihrem Inneren ein weitaus präziser arbeitendes Gerät als Ihre besorgten Gedanken gibt, wird Ihnen kein Blindflug-Szenarium mehr Furcht einjagen. Und zwar einfach deshalb, weil Sie von nun an die Impulse, die sich in Ihnen aus dem Potenzial der im Jetzt vorhandenen ungeborenen Ereignisse mitteilen wollen, zur Kenntnis nehmen. Dass Sie diese beachten, statt sie wie bisher zu ignorieren oder zu verdrängen.

Lassen Sie mich diesen Beitrag mit einem Paradox beenden: Dass Zufälle in unser Leben hineinwirken lässt sich kaum leugnen. Aber da Sie ja selbst durch Ihr Gewahrsein zugleich synchron und maßgeblich am Stattfinden Ihrer Existenz beteiligt sind – sind die wenig geliebten, unberechenbaren Zufälle schließlich ebenso Bestandteil Ihrer Identität wie Ihre zwei Hände.

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3 Antworten zu Blindflug

  1. Matthias sagt:

    Ciao ragazzi,

    mit der Intuition ist es wie mit den Muskeln: wenn sie nicht benutzt wird, verkümmert sie. Aber so wie man Fahrradfahren nicht verlernt, wenn man es denn mal kann, verschwindet auch unsere intuitive Fähigkeit nie ganz. Es ist, wie Theo Fischer schreibt: sobald wir uns nach vielleicht langen Jahren der Abstinenz wieder auf das Fahrrad Intuition setzen, geht es noch oder wieder, anfangs etwas wackelig, aber mit fortschreitender Benutzung immer sicherer.

    Es geht ja im Grunde nicht um irgendeine Art der Vorausschau, sondern um verfeinerte Wahrnehmung. Auch Tiere können nichts vorhersehen. Sie haben aber eine sehr viel feinere Wahrnehmung, durch die sie früher als Menschen die ja bereits vorhandene Bedrohung erkennen können.

    Ich habe mich kürzlich in meinem Urlaub dieser Art von Blindflug ausgesetzt und mit dem Auto die oberitalienischen Seen im mehrfachen Wortsinn erfahren. Während ich früher kaum ohne die vorherige Buchung einer Unterkunft gestartet wäre, bin ich dieses Mal bewusst auf gut Glück gefahren. Das ist natürlich leichter, wenn man alleine und außerhalb der Saison unterwegs ist. Jedenfalls sollte es eine Reise im Geiste des Tao werden. Und es hat funktioniert! Nicht immer so, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber letzten Endes hat sich alles prima gefügt.

    Die Suche nach Unterkünften verlief nicht nur problemlos, die gefundenen Lokalitäten erwiesen sich sogar – entgegen dem ersten Anschein – als wahre Glücksfälle. Dies wurde möglich, weil ich es schaffte, den mit fortschreitender Tageszeit immer stärker mahnenden Verstand zurück zu pfeifen und meine Wahrnehmung weit zu machen. Wie magisch wurde ich zur ersten Pension geleitet, obwohl ich genauso gut das Hotel direkt gegenüber hätte wählen können.

    Es gab natürlich auch „kritische“ Situationen. So wollte ich unbedingt eine landschaftlich schöne Strecke fahren, fand aber die Abzweigung dorthin nicht. Nach diversen Versuchen, die richtige Richtung zu finden, war ich dann doch etwas frustriert und haderte mit den italienischen Wegweisern genauso wie mit meiner offenkundigen Unfähigkeit im Kartenlesen. Nach mehreren vergeblichen Runden im entscheidenden Kreisverkehr dachte ich mir „OK. Es soll wohl nicht sein“ und wählte eine andere Strecke zur Weiterfahrt. Just als ich auf diese fuhr und meine Richtung nicht mehr ändern konnte, sah ich wie zum Hohn im Augenwinkel noch den Wegweiser zu der ursprünglich gewollten Strecke. Da musste ich dann doch lachen.

    Also: Reisen im Geiste des Tao als eine Möglichkeit, Blindflug zu üben, kann ich nur empfehlen 🙂

    Herzliche Grüße,
    Matthias

    • gitti sagt:

      Hallo und liebe Grüße!

      Der Satz gefällt mir besonders gut….“die Impulse die sich in Ihnen aus dem Potenzial der im Jetzt vorhandenen Ereignisse mitteilen wollen……“
      Wie wichtig es doch ist sich offen und empfänglich zu halten für diese Impulse. Vor allem im Alltag immer und jeden Tag, damit es nicht bei einem Versuch bleibt. sondern selbstverständlich wird. Dies hebt das natürliche Selbstvertrauen ungemein und man findet ein „Zu Hause“ das nicht an einen Ort oder an eine Person gebunden ist.

      Ein schönes Wochenende Gitti

  2. Taononymus sagt:

    Hallo Ihr,

    ergänzend vielleicht noch interessant: jahrzehnte bevor die Neurologen den Hype um die „Spiegelneuronen“ losgetreten haben hat C.G. Jung die Intuition als eine der vier Grundfunktionen der Psyche herausgearbeitet.
    Und zwar ist sie nach seiner Definition diejenige psychische Grundfunktion, die eine direkte Wahrnehmung zukünftig möglicher Entwicklungen mit all ihren Optionen und Potenzialen bereit stellt.
    Das deckt sich sehr schön mit Theo Fischers Beschreibung und auch mit Mathias‘ Anmerkung, dass man die Intuition nie wirklich ganz verlieren kann, auch wenn man ihren Gebrauch gewohnheitsmäßig lange Zeit vernachlässigt oder blockiert.

    Neben der Blockade der Intuition durch überschäumende negative Phantasien fallen mir allerdings noch weitere höchst wirksame „Intuitionshemmer“ ein.

    Einer sind zum Beispiel die Gruppendynamiken, Konventionen, Anpassungszwänge und Denkverbote, deren Einfluß sich niemand, der in eine Gruppe eingebunden ist, wirklich entziehen kann.
    Ohne gezielte Gegenmaßnahmen führt diese „Intuitionsvernichtung“ durch Gruppendynamiken dann zu dem traurigen Resultat, daß die Gesamtintelligenz einer Gruppe in der Regel rapide sinkt, je größer sie ist. Die endlosen Ketten ineffizienter Konferenzen und Meetings in Unternehmen können hier beispielsweise Bände sprechen.

    Ein anderer beliebter Intuitionshemmer könnte fast komplementär zu den negativen Phantasien als „überschäumende positive Phantasien“ oder schlicht Wunschdenken bezeichnet werden. Die Intuition kann nämlich auch sehr gut wahrnehmen, wenn eine bestimmte Entwicklung leider NICHT im Rahmen der Entwicklungsmöglichkeiten einer Situation vorhanden ist, sei sie auch noch so heiß ersehnt und herbeigewünscht.
    Und dann erfolgt leider allzu oft ein Ausblenden der Warnsignale, ein Übermalen und Schönreden der von der Intuition durchaus richtig erfaßten Situtaion mit einer positiven Phantasie. Wider besseres Wissen wird dann der falsche Partner geheiratet, die falsche Arbeitsstelle angenommen oder ein Immobilienkauf getätigt, den man anschließend jahrzehntelang bereut.

    Für mich funktioniert das Bewußtmachen intuitiver Wahrnehmungen am besten in Zeiten regelmäßig und bewußt herbeigeführten Alleinseins, egal ob auf einer Urlaubsreise oder mitten im Alltag.
    Klar, auch im Zusammensein mit anderen sind intuitive Signale meistens spürbar, allerdings sind sie aus o.g. Gründen viel stärker gefährdet übertönt oder ausgeblendet zu werden.

    Viele Grüße und einen schönen Sonntagabend noch,
    Taononymus

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