Das I Ging und seine Botschaften

Nehmen wir einmal an, Sie seien weiblich und würden vor der Qual der Wahl zwischen drei Bewerbern um Ihre Gunst stehen. Die Entscheidung fällt Ihnen schwer, denn für jeden der Männer sprechen andere Qualitäten oder bleiben kleine Zweifel offen. Sie wissen zum Schluss nicht mehr, was tun und beschließen, das Orakel zu befragen. Also kaufen Sie beim Fleischer ein Stück Schweineschulter, in dem noch der Knochen steckt. Aus dem Fleisch bereiten Sie einen leckeren Braten, entfernen das flache Schulterblatt und machen es sauber. Schreiben Sie nun in jede der drei Ecken den Anfangsbuchstaben eines der Namen Ihrer Verehrer. Dann erhitzen Sie bis zur Rotglut im Kaminfeuer den Schürhaken oder ersatzweise einen Schraubenzieher auf der Gasflamme. Der nächste Schritt besteht kurzerhand darin, dass Sie das heiße Eisen mitten in den Knochen drücken, bis er Risse bekommt. Jetzt können Sie aus dem Verlauf der Sprünge ablesen, welchem Namen der markanteste Sprung im Knochen am nächsten kommt. Spekulieren wir: Auf K, wie Kevin, deutet ein kräftiger Riss, während die anderen Sprünge das W für Walter und das M für Manfred verfehlen, ergo wären damit beide aus dem Rennen und Kevin ist der Sieger. Das Orakel hat gesprochen. So einfach ist das – und so schwierig. Denn sogleich werden sich in Ihrem Herzen Stimmen melden, die zu Plädoyers für die Verlierer ansetzen. Und der Hauch von Zweifel an Kevin will durch das Votum des Orakels um nichts in der Welt verschwinden. Alternativ könnte passieren, dass auf jeden der Namen ein Riss deutet. Oder noch konfuser: auf Kevin und Walter weisen gleichrangige Sprünge, während Manfred außen vorn bleibt. Ausgerechnet er. Ihnen wird bewusst, dass Sie insgeheim hofften, er würde der Auserwählte sein. Sein Ausscheiden aus dem Rennen lässt ein Gefühl von Verlust aufkommen, und Sie vergessen in diesem Dilemma völlig, dass die Auskunft im Grunde nicht verbindlich für Sie ist. Die Sprünge im Schweineknochen sind Zeiger, sind der Rorschachklecks, den auszulegen Sache Ihrer Gefühle ist. Im Moment, da Manfred aus dem Rennen schied, hat das Orakel dennoch seinen Zweck erfüllt, weil es Sie spüren ließ, wohin Ihr Herz Sie zieht.

So ungefähr wurde in uralter Zeit, die ich nicht zu datieren wage, das Orakel befragt. Später entstanden dann die bekannten Hexagramme, die sich aus acht verschiedenen Dreiergruppen von gebrochenen und ungebrochenen Linien ergeben. Sie bilden den Kern des I Ging. Ihre Erfindung wird dem legendären Kaiser Fu-hsi zugeschrieben, Neben ihm erscheinen in der Geschichte des Orakels weitere erlauchte Namen: die Gründer der Chu-Dynastie, König Wen, der Herzog von Chu. Die Hexagramme werden durch Münzwurf ermittelt, in früheren Perioden soll es mit Hilfe von Schafgarbenstängeln geschehen sein. Es gibt in der modernen Literatur Anleitungen, wie das komplizierte Procedere abläuft. Ich setze das Thema I Ging ins Blog, weil in letzter Zeit etliche Mails aus dem Leserkreis eingegangen sind, die wegen Betriebsanleitungen zum Umgang mit dem Orakel anfragten. Ich habe jedes Mal „I Ging Das Buch der Wandlungen“ von Christopher Markert, erschienen im Goldmann Verlag, empfohlen. Dort wird ausführlich und allgemeinverständlich erklärt, wie das Orakel funktioniert.

Der berühmte Psychologe C.G. Jung hat sich jahrelang im Zusammenhang mit dem Taoismus mit dem I Ging beschäftigt. Auch der Nobelpreisträger Nils Bohr zählte zu den Freunden des Orakels – er hat das Symbol für Yin und Yang sogar in sein Familienwappen aufgenommen. Für mich selbst ist das I Ging auf keinen Fall ein Mittel, um in die Zukunft zu schauen. Aber es kann eine Entscheidungshilfe sein. Die Münzen, die ich werfe, haben von einem Problem so wenig Ahnung, wie die hölzerne Wünschelrute von einer Wasserader, die mit ihrer Hilfe gesucht wird. Aber wie die Wünschelrute sind die Pentagramme ein Mittel, das Wissen, das in uns selber schlummert, so zu verstärken, dass es an die Oberfläche des Bewusstseins tritt. Ich werfe übrigens keine Münzen, ich mache es wie der Pfarrer, der für die Sonntagspredigt nach einem Bibelspruch sucht und einfach das Buch der Bücher aufschlägt und den Text nimmt, auf den sein erster Blick oder sein Daumen fällt. Als ich diesen Beitrag zu schreiben begann, habe ich dem Orakel eine Frage gestellt, nämlich, ob ich in Zukunft bei der Verarbeitung meiner Themen einen neuen, nüchterneren Stil bevorzugen solle. Ich schlug Markerts Büchlein auf – und sehen Sie selbst, was da stand:
32. Heng: Im Himmel, auf Erden und in allen Dingen kann man die natürlichen Tendenzen beobachten, die schon von Anfang an bestanden,. Demgemäß führt der erleuchtete Mensch beharrlich fort und ändert nicht seine Handlungsweise.
Was mir deutlich nahe legte, meinen alten Stil zu bewahren und die Finger von Experimenten zu lassen. Aber was soll’s: ich kann immer noch machen, was ich will und wozu ich Lust habe. Und Sie? Probieren Sie es selber aus. Und einen schönen Sonntag noch.

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6 Antworten zu Das I Ging und seine Botschaften

  1. Taononymus sagt:

    Lieber Herr Fischer,

    Sie schreiben oben: „… Aber wie die Wünschelrute sind die Pentagramme ein Mittel, das Wissen, das in uns selber schlummert, so zu verstärken, dass es an die Oberfläche des Bewusstseins tritt. …“

    Also ich glaube, das Ganze ist viel banaler, es muß nämlich garnicht mal etwas verstärkt, sondern im Gegenteil, einfach nur etwas normalerweise übermächtig Starkes geschwächt werden.

    All diese hunderttausend Mittelchen und Methoden der Orakelbefragung wie Orakelknochen, Tarotkarten, Tiereingeweide, Hexagramme, I Ging, Wünschelruten etc. die machen mit dem menschlichen Geist das gleiche wie ein Taschenspieler oder Zauberkünstler mit dem Geist seiner Zuschauer.

    Sie lenken nämlich gezielt die Aufmerksamkeit auf Nebenkriegsschauplätze, auf denen sie den Sinnen etwas Ungewöhnliches, faszinierend Unverständliches bieten. Und damit verwirren sie den Verstand und fesseln das Denken mit dem Versuch, sich einen Reim auf das Erlebte zu machen.

    Aber in den Millisekunden der verwirrten Fasziniertheit lockert sich unwillkürlich die Dominanz dieser beiden beim Zivilisationsmenschen ansonsten nur durch Schlaf und Betäubungsmittel zum Schweigen zu bringenden Gehirnfunktionen.
    Und damit ist für einen Moment das Tor offen zu all den Wahrnehmungen und Einsichten, die im Normalzustand des Tagesbewußtseins vom Verstand übertönt werden.

    Viele Grüße,
    Taononymus

    • Matthias sagt:

      Lieber Taononymus,

      das Bild von dem Tor, das einen Moment offen ist, gefällt mir!

      Ich komme aus einer anderen Richtung zu dem offenen Tor (ohne damit deine Erklärung schmälern zu wollen):
      Der ganze Vorgang ist ein Ritual. Rituale dienen dem Öffnen von Toren (z.B. im Schamanischen zu Anderswelten). Man stellt eine Frage und fokussiert sich dadurch schon mal geistig. Die geistige Ausrichtung wird verstärkt durch den Einsatz der Motorik. Die Handlungen (Münzwurf, Ziehen von Schafgarbenstengeln etc.) bewirken eine weitere Fokussierung – oder sollen sie zumindest bewirken. Indem meine ganze Psychomotorik (also eigentlich ich als Ganzes) beteiligt und fokussiert ist, öffnet sich das Tor. So haben – wie bei unwillkürlichen Gesten – diejenigen subtilen Tendenzen eine Chance, sich auszudrücken (nach außen zu drücken), die ansonsten vom Geplapper unseres Verstandes oder unserer Grobmotorik unterdrückt (nach unten gedrückt) werden.

      Die subtilen Tendenzen, die in Theo Fischers Beispiel so schön beschrieben sind, entstehen aus dem Zusammenspiel der beiden gegenläufigen Kräfte.
      Die Hexagramme des I Ging stellen typische Grundkonstellationen dieser Kräfte (Yin, Yang) dar.

      Davon mal ganz abgesehen:
      Ist es nicht wunderbar, zu welch faszinierendem Ergebnis ein im Grunde binäres System kommt verglichen mit dem ganz anders gearteten, aber nicht minder fazinierenden Ergebnis des binären Computersystems?

      Herzliche Grüße,
      Matthias

      • Taononymus sagt:

        Lieber Matthias,

        ich weiß nicht so recht, ob wir wirklich aus soooo unterschiedlicher Richtung kommen…?

        Ich habe nämlich bei meiner Aufzählung der Möglichkeiten, Denken und Verstand abzulenken, zu fesseln oder einzulullen um ihn für eine gewisse Zeit von der ständigen Überwachung des „Tores zum Bewußtsein“ abzubringen, schlicht ein paar Methoden übersehen.

        Aber ich meine, rituelle Handlungen, gruppendynamische Einflußnahme, Musik, starke Gefühle und nicht zuletzt ganze Rituale als Kombination aus mehreren dieser Komponenten zählen ebenso zu diesen Methoden. Und sie werden auch so eingesetzt.

        Du beschreibst oben ja selbst sehr schön, was für ein komplexer, faszinierender Vorgang so ein Schamanenritual sein kann und schreibst dann: „… die Handlungen sollen eine Fokussierung bewirken…“.
        Genau das meine ich. Fokussieren, d.h. die Aufmerksamkeit mit etwas Faszinierendem intensivieren und fesseln und den Verstand damit am Nasenring rumführen. Und das sollen ja auch die Handlungen eines Zauberkünstlers.

        Aber natürlich, die Motivation, das Ziel, das verfolgt wird, das ist bei Schamane und Zauberkünstler grundverschieden.
        Außerdem, der Schamane hat noch mehr in seinem „Methodenkoffer“, was dem Zauberkünstler normalerweise verboten ist.

        Wenn das oben Umrissene nämlich nicht langt, dann kommen beim Ritual des Schamanen noch bewußtseinsverändernde Mittelchen, Rhythmus, Musik, einlullende Dauerwiederholungen, starke Emotionen und/oder Gruppendruck obendrauf.

        Überhaupt, wenn man sich das ganze Repertoire so anschaut, das der Mensch erfinden mußte, um seinen Verstand für ein paar Momente „verlieren“ zu können, könnte man glatt Respekt vor letzterem bekommen 😉

        Aber letztlich sind alle diese Methoden hoch wirksam, sonst würden sie nicht immer wieder auch zur Manipulation misbraucht werden können.
        Wieder hat die Medaille also zwei Seiten, denen wir uns glaube ich immer wieder neu stellen müssen mit den Fragen: Nutzt es mir oder schadet es? Will mir hier einer helfen oder will er mich in seinem Sinn manipulieren?

        Der Schamane, der in sein Volk eingebunden ist und aus dessen Traditionen heraus seine Rolle erfüllt, der hat’s hier beneidenswert einfach. Diese Fragen stellen sich ihm nämlich gar nicht.
        Solange er seiner Rolle gerecht wird, verhilft er sich und seinen Leuten mit seinen Ritualen zu den Einsichten, die sie allein mit dem Verstand nicht erlangen könnten. So gesehen ist er und das was er tut für seine Leute eine große Hilfe.

        Und natürlich sind alle diese Methoden, Rituale und Systeme hochgradig faszinierend, genau deshalb funktionieren sie ja.
        Faszination, das ist die Blutwurst, die auch noch den schärfsten Wachhund ablenkt… mit einer langweiligem „Nummer“ läßt sich jedenfalls ein halbwegs funtkionierender Verstand nicht überlisten, auch nicht der von Angehörigen der Naturvölker 😉

        Viele Grüße,
        Taononymus

  2. JE sagt:

    Hallo, an alle I-Ging-Interessierten!
    Ich bin vor ca. 20 Jahren, zu einem Zeitpunkt, als ich mich mit Taoismus noch nicht beschäftigt habe und auch darüber noch nicht viel wusste, auf das I Ging aufmerksam geworden.
    Ich habe mir damals das Buch „Das illustrierte I Ging“ von R.L. Wing angeschafft, das mir persönlich gut gefällt (ich kenne, zugegebenermaßen, aber auch -noch- keine andere Literatur hierzu).
    Das Buch hatte mich auf Grund der Texte und der Illustrationen zu den einzelnen Hexagrammen fasziniert und seither nicht mehr losgelassen, so dass ich es immer noch gelegentlich nutze (ich verwende dann Münzen).
    Die möglichst exakte, klare Formulierung der Frage, was in dem o.g. Buch beispielsweise, sehr schön beschrieben ist, ist oftmals tatsächlich bereits der ‚Schlüssel zur Antwort’.

    Eine schöne Woche und beste Grüße !
    JE

  3. Chris sagt:

    Wer sagt denn, dass ich mich für einen Günstling entscheiden muss? Ich nehme alle drei!

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