Das Ich ist tot – es lebe das Ich

Natürlich war das Ich niemals tot – aber die Verfremdung von Der König ist tot – es lebe der König als Blickfang für das folgende Thema ist einfach zu schön, um darauf zu verzichten. Zumal dem Ich von gewichtiger Seite vielfach der Tod gewünscht oder vielmehr sein Tod gefordert wird. In meinen frühen Schriften habe ich mich selbst aufs Pferd geschwungen und Attacken gegen das Denkprodukt Ich geritten und entsprechend argumentiert. Über die Jahre habe ich dazugelernt, ich stehe dem Ich-Problem heute rationaler gegenüber und erkenne lösbare Denkmodelle. Die Konflikte, welche die Forderung nach Ichlosigkeit auslösen, basieren bei kritischer Betrachtung auf einem hübschen Taschenspielertrick: Man gaukelt Ihnen die Chancen eines geistigen Fortschritts vor, durch den Ihr Leben einfacher, schöner, erträglicher wird, und stellt als Bedingung für die Erreichung dieses Zieles eine Forderung, die Ihrer psychischen Struktur wegen gar nicht realisierbar ist. Die Sache mit dem Nicht-Ich hat verzweifelte Ähnlichkeit mit der Anweisung, einen 30 Meter hohen, völlig glatten Masten ohne jedes Hilfsmittel hinaufzuklettern, mit der Verheißung, droben wäre die Botschaft mit der Geheimformel zu finden, die Ihnen zu allem verhilft, was Sie sich je wünschen können.

Unser Ich, Selbst oder Ego ist die ein Leben lang gewachsene Identität, die uns vom Rest der Menschheit unterscheidet. Das Bewusstsein unserer Existenz, unser Lebensgefühl, die Erfahrung, wir selbst zu sein, ist vernünftig betrachtet nichts, das man in Frage stellen müsste. Natürlich wird sich ein Mensch mit einer traumatischen Kindheit, oder mit vorwiegend enttäuschenden Lebenserfahrungen ein anderes Bild von sich machen als jemand, der mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund aufgewachsen und von klein auf bedient worden ist. Wie dem auch sei, unsere Wesensstruktur bestimmt die Art und Weise, wie wir unser Dasein erleben, und unsere Erfahrungen bilden die Basis unseres Urteilsvermögens. Wem einleuchtet, wie unsere Psyche wächst und ihre individuellen Eigenarten gewinnt, sollte eigentlich davor bewahrt werden, sich Illusionen über die Realisierung einer Loslösung vom eigenen Ich zu machen.

Natürlich sticht das Argument der östlichen Religionen, die sich hier mit den Neurologen unserer Weltseite einig fühlen dürfen: wir denken in Ich-Kategorien, insofern ist dieses Ich, als das wir uns erleben, ein Denkprodukt. Der das Ich-Gefühl am Leben erhaltende Denkvorgang wird aber von einem Gehirn ausgeführt, das selbst Materie und der Motor eines einmaligen, unverwechselbaren Körpers ist, der höchstens als Zwilling oder geklont doppelt vorkommen dürfte. In diesem Körper ist allerdings kein Ort auffindbar, in dem das Ich seinen Sitz hätte. Dass unser Gehirn Experimenten zufolge seine Entscheidungen trifft, ohne vorher dieses Ich zu konsultieren und erst nach vollzogenem Beschluss das Ich-Gefühl mitspielen lässt, löst bei den Hirnforschern die Hypothese aus, wir hätten gar keinen freien Willen. Aber sehen wir den Komplex doch einmal aus einem anderen, logischen und vernünftigen Blickwinkel: Sie denken auf jeden Fall wie jedes Individuum in Ich-Kategorien, und zwar mit Hilfe eines Gehirns, dessen alleiniger Besitzer S i e sind. Ihr Bewusstsein samt seinem Erfahrungshintergrund ist doch wie eine Matrix in Ihrem ganzen Körper eingelagert. Wozu wird dann noch ein auffindbarer Platz für das so oft zu Unrecht verfemte Ich gebraucht?

Viele Religionen liefern ihren Anhängern die Anreize, mit dem so unvollkommenen, sündigen Ich zu ringen, es aus dem eigenen Leben zu verdrängen, oder es zumindest im Rahmen ihrer Spielregeln zu verändern, zu beherrschen. Was hat in diesem Zusammenhang dann der Taoismus zu bieten, wenn keine Forderungen in dieser Richtung gestellt werden? Eine ganze Menge. Die anderen lehren, dass der Mensch die Welt ist, das Universum und dass seine Individualität, repräsentiert durch sein Ich, dieses Ausleben der Einheit verhindert. Also muss es weg. Die Weisen des Tao lehren etwas anderes: nämlich die Versöhnung zweier grundsätzlicher Weltsichten. Das Ich darf dort bleiben, wo es schon immer war, aber es soll zu dem ursprünglichen Zustand zurückfinden, mit dem der Mensch zur Welt gekommen ist. Es war Sigmund Freud, der in seinem Werk „Das Unbehagen in der Kultur“ den Schlüssel dazu fand: Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach. Wenn wir annehmen dürfen, dass dieses primäre Ichgefühl sich im Seelenleben vieler Menschen – in größerem oder geringerem Ausmaße – erhalten hat, so würde es sich dem enger und schärfer umgrenzten Ichgefühl der Reifezeit wie eine Art Gegenstück an die Seite stellen, und die zu ihm passenden Vorstellungsinhalte wären gerade die der Unbegrenztheit und der Verbundenheit mit dem All…..

Lassen Sie mich zur Überschrift zurückblenden. Das primäre Ich-Gefühl, wie Freud es beschreibt, scheint gestorben zu sein. Und es wird sicher nicht wieder lebendig, wenn man das sekundäre, eingeschränkte, hinterherzuschicken versucht. Das taoistische Denken öffnet unserem Geist den Blick auf ein Mehr an Ich, was zugleich ein mehr an Existenz bedeutet. Es ist ein Denken gefragt, das sich von den Begrenzungen des Ichgefühls der Reifezeit befreit. Primär intellektuell und als Willensakt, aber insgesamt als ein Akt der Einsicht. Das neue Denkmodell verneint die erlernten Inhalte vom Individuum, das getrennt von seiner Erfahrung existiert. Wenn unser Geist die ein halbes Leben lang erlernten Einschränkungen unserer Identität über Bord wirft, sie einfach nicht mehr zu glauben bereit ist – dann wird der Zuwachs an Sein sich genau in jenen Vorstellungsinhalten der Unbegrenztheit und Verbundenheit mit dem All manifestieren, mit denen Freud seine Betrachtung abschließt. Und dann wird Ihr Ich sich zunehmend lebendiger und vitaler fühlen, als es jemals der Fall war.

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