Der innere Sportberichterstatter

Hier wäre noch mal eine Betrachtung, wie auch unter den Prämissen meiner neueren Einsichten Denken, Nichtdenken und Wahrnehmen miteinander versöhnt werden können. TF

Wenn ich aus Versehen beim Einschalten des Fernsehers in eine Fußballübertragung gerate, amüsiert es mich immer, wie der Sportjournalist erregt ins Mikrofon brüllt und den Zuschauern beschreibt, was sie gerade selber life sehen. Und ich habe den Verdacht, dass engagierte Sportfans es direkt genießen, wenn ihnen jede Bewegung auf dem Spielfeld erklärt wird. Die Szenen bei der Sportberichterstattung legen Zeugnis dafür ab, für wie schwächlich die Veranstalter das Wahrnehmungsvermögen des fernsehenden Publikums halten. Natürlich muss der Journalist berichten – sonst würde er sich selber arbeitslos machen, aber es wirft doch ein bezeichnendes Licht auf die Beobachtungsgabe der Zuschauer. Im Grunde nimmt der Reporter am Mikrofon den Gehirnen der Leute eine Arbeit ab, die diese sonst selber verrichten müssten: nämlich, das, was ihre Augen und Ohren wahrnehmen, ohne fremde Unterstützung in ihren Gedanken nachzuzeichnen. Achten Sie einmal darauf, wenn Sie sich im Freien und unter Menschen bewegen. Reflexartig wiederholt Ihr Denken eine ganze Reihe von Sinneseindrücken, die Ihnen auf Ihrem Weg begegnen. „Drückt die ihr Kind an sich, ein Wunder, dass es nicht erstickt.“ Der braucht seinen Motzschlitten, weil er zu klein gewachsen ist – kann kaum übers Lenkrad blicken. Richtig warm in der Sonne, wenn man aus dem Schatten herauskommt. Die Schuhe dort gefallen mir, warten wir den Schlussverkauf ab, bis sie billiger sind. Da stellen sie im Fischladen gerade frische Heringsbrötchen ins Schaufenster. Das Gras ist böse zertrampelt, die Leute sind zu faul, ein paar Meter weiter den Durchgang zu nehmen.“ So geht es endlos weiter. Unser Gehirn liefert dem Gedächtnis eine Reportage dessen, was wir ohnehin sehen, oder sehen würden, wenn wir achtsam genug wären. Tatsächlich muss unser Denken diese Szenarien in jeder Lebenslage wiederholen, sie betonen und kommentieren, weil der Verstand unbewusst spürt, wie schwächlich unsere Aufmerksamkeit gegenüber dem pulsierenden Leben eigentlich ist. Die Bilder unseres Erlebens entstehen eben leider nur zum Teil unmittelbar aus dem, was unsere Sinne liefern und hereinlassen.

Das Gehirn ist ständig in einer Situation, in der es das Erleben nachbessern muss. Meistens ist sogar eine Korrektur der Eindrücke damit verbunden, ähnlich wie der Sportreporter die Fehlleistung eines Starkickers, der soeben das Tor verfehlt hat, mit einem vorübergehenden Formtief entschuldigt. Achten Sie einmal darauf, wie oft Sie mitten im Alltag in die Position geraten, sich vor sich selber rechtfertigen zu müssen. Irgendwie scheinen wir uns immerzu irgendetwas beweisen zu müssen. Das Problem an dieser Gewohnheit ist ferner der Umstand, dass unsere Sprache zu armselig ist, um die Intensität eines unmittelbaren Erlebens gleichwertig zu ersetzen. Wir bilden uns ein, unser Denken, würde uns, dem Individuum berichten, was wir soeben erleben – aber streng genommen schildert das Denken die Vorgänge und Eindrücke sich selbst.

Nehmen Sie als ein anderes Beispiel die Beschreibung von Kunstwerken. Da werden verbal bunte, schillernde Bilder gezeichnet. Die Farbenpracht der Arbeiten, der einprägsame, markante Stil eines Malers wird wortreich beschrieben. Aber Ihre Sinne nehmen überhaupt nichts von alledem wahr – und Ihr Geist vermag aus derartigen Texten ebenso wenig die Kraft des unmittelbaren Sehens zu schöpfen. Die Schilderung eines Gemäldes ist das gleiche Geschwätz wie die wörtliche Wiedergabe eines Torschusses. Analog verhält es sich mit unserem Erleben: es macht einen gewaltigen Unterschied, ob wir einen Vorgang, ein Ereignis mit einem offenen, wachen Sinn erleben, oder ob das Erleben des gleichen Ereignisses von A bis Z auf dem Weg kommentierender Gedanken und dem abgleichenden Vermessen mit unseren Erinnerungen erfahren wird.

Gibt es ein Mittel, einen Weg, um diesen Reflexen wirksam zu begegnen? Ohne dass Sie andauernd auf der Hut sein müssen, um dann jedes Mal, wenn es geschieht, resigniert festzustellen, dass Sie nicht von dieser „Sportberichterstattung des Lebens“ wegkommen? Es gäbe da durchaus einen gangbaren Weg. Er würde allerdings voraussetzen, dass Sie von jetzt an nicht mehr mit dem unbehaglichen Gefühl durchs Leben gehen, Sie würden wesentliche Teile des Tagesgeschehens verpassen, wenn Sie diese nicht kontinuierlich ins Gedächtnis speichern würden – was natürlich genau durch dieses verbale Nachvollziehen der Sinnesfunktionen passiert. Kurzum: Seien Sie achtsamer. Hören Sie auf, sich auf die kommentierende Berichterstattung Ihres Denkens zu stützen – schauen Sie sofort hin, wenn etwas geschieht, und belassen Sie es dabei. Das würde anstrengen, meinen Sie? Eben nicht. Anstrengen tut das andere, das, was Sie von Kind an zu tun gewohnt sind. Wenn Ihnen erst einmal dieser permanente Kraftaufwand bewusst wird, wenn Sie die Zwänge zu spüren beginnen, die Ihnen dieses geistige Rekapitulieren allen Geschehens auferlegen – wenn Sie dies klar schauen und begreifen, dann wird Ihr Denken einsichtiger reagieren. Lassen Sie Ihre Gedanken lieber etwas anderes vollinhaltlich begreifen: wie reich selbst ein ereignislos verlaufender Tag an Sinneserfahrungen sein kann, ist sehr intensiv in jenen Momenten zu bemerken, da eine Krise sich auflöst, wenn die Bank den Kredit zusagt oder der Arzt die Geschwulst für harmlos erklärt oder ein Mensch, um dessen Zuneigung Sie bangen, Ihnen seine Liebe erklärt. Dann leuchtet alles rings umher. Und dann – das ist interessant – schweigt Ihr Denken, weil die Kraft der Gefühle ihm in diesen Phasen keinen Raum für seine dümmlichen Kommentare mehr lässt.

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2 Antworten zu Der innere Sportberichterstatter

  1. gitti haas sagt:

    würde ich zu diesem text von theo fischer einen kommentar abgeben
    hätte ich wohl den text nicht verstanden………

  2. Rouven sagt:

    Herrlich, wie gewohnt intelligent und weise, ganz praktisch und wunderbar bildhaft aus dem Leben selbst beschrieben. Dankeschön!

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