Dichtung und Realität

Grüner Wildbach – klar der Quelle Wasser.
Kalter Berg – Weiß des Mondes Hof.
Schweigende Erkenntnis, der Geist von selbst erleuchtet.
Die Leere schauend, geht Wahn in Stille über.
Han Shan

Ein überaus poetischer Spruch. Da wird einem richtig wohl, wenn man sich die Landschaft vorstellt, die der Dichter hier erlebt. Und da mag sich auch Erkenntnis einstellen und der Geist voller Klarheit die unendliche Leere des Grundes fühlen, die den Wahn des Ringens ums Überleben in Stille verwandelt.

Stelle ich dieser Idylle aus der Harmonie von Geist und Landschaft unseren eigenen Lebensbedingungen gegenüber, dann verändert sich das schöne Bild schlagartig: An Stelle des grünen Wildbachs tritt eine vom Verkehr überlastete Straße, von der Quelle bleibt vielleicht gerade noch der Zapfhahn der nächsten Schänke übrig, und der kalte Berg wird zum Symbol für die Berge von Forderungen, welche Beruf und Privatleben an uns stellen.

Wie soll dem Geist eines Menschen, der dem hässlichen Druck unserer Zeit ausgesetzt ist, in diesem Umfeld erleuchtende Erkenntnis begegnen, das Gefühl für die Leere des Grundes sich öffnen und der Wahn aus Sorgen und Nöten dem Zauber der Stille weichen? Erscheint unmöglich zu realisieren – und dennoch geht es. Es ist freilich der umgekehrte Weg: In Han Shans Gedicht ist es der Zauber der Umwelt, der den Geist so leicht und frei macht. Wir müssen inmitten der Spannungen zu dieser inneren Leere finden, in der alle Impressionen und Bewegungen unseres Daseins draußen bleiben.

Diese Leere ist kein Ergebnis krampfhafter Bemühungen. Sie stellt sich leise und wie von selbst ein – wenn wir aufgeben. Alles, samt unserem eigenen, so unruhigen Gemüt. Dann wird sich unser Geist unversehens, wie von Zauberhand berührt, so leicht wie eine Flaumfeder fühlen. Und dann geschieht noch ein kleines Wunder: plötzlich nehmen unsere Sinne an Stelle der hässlichen Umwelt Einzelheiten wahr: wir hören das Zirpen der Mauersegler und beobachten ihren kunstvollen Flug um den Kirchturm. Die einsame Rose an der Mauer eines alten Gebäudes spricht uns an, wir spüren ihre Botschaft. Und überall, wohin wir uns bewegen, wird unser Gewahrsein von Schönheit und Harmonie berührt. Und in diesem Geisteszustand sind still und heimlich auch die Türen der Erkenntnis aufgegangen. Wir haben leichten Sinnes zu einer anderen, intelligenteren Sicht auf unsere eigene Position in der Welt gefunden.

Doch wie alle schönen Dinge sind auch die beschriebenen Glücksmomente vergänglich. Daran lässt sich nichts ändern – und schließlich brauchen wir die Polarität und das Kontrastprogramm des Lebens. Der Schlüssel für die Wiederholung, für die Wiederkehr der geschilderten beglückenden Erfahrung lautet schlicht und einfach: Leere. Sobald es Ihnen gelingt, erneut zu dieser in Ihnen wohnenden Leere zu finden wird sich wie ferngesteuert auch der ganze, hier beschriebene Prozess erneut einstellen und Sie froh und glücklich stimmen.

Dieser Beitrag wurde unter Taoismus abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

8 Antworten zu Dichtung und Realität

  1. Margit Quicker-Coluccini sagt:

    Oh wie wahr!!!
    Wer sich auf das scheinbare Wagnis des ‚alles Loslassens‘ einlässt, sich an nichts mehr klammert, bereit ist, nur noch zu SEIN, dem eröffnen sich nie gekannte ‚Schönheiten‘, die immer schon da waren und immer da sein werden…
    Schade, dass sich so viele Menschen mit Festhalten-Wollen und Gedanken-Müll in ihrem Glück selbst beschränken, – denn was wollen wir mit dem Spatz in der Hand, wenn wir doch die Taube auf dem Dach betrachten könnten?

    • gitti sagt:

      Lieber Herr Fischer!
      Erst mal herzlichen Dank, daß Sie uns trotz dieser anstrengenden Hitze mit interressanten Texten versorgen.
      Zum Thema….. der „Wahn des Ringens“ schreiben Sie. An anderer Stelle steht aber, daß wir das Kontrastprogramm und die Polarität brauchen. Ist es nun ein Wahn oder Notwendigkeit?
      Wenn sich der Geist weich wie eine Flaumfeder fühlt und das Ungeklärte geklärt ist, stellt sich ein wunderbarer Friede ein.
      Der aber nicht andauert und das Stirb und Werde Erlebnis (Goethe) beginnt von vorne.
      Liebe Grüße Gitti

  2. Gabriele sagt:

    Lieber Herr Fischer,
    seit einiger Zeit lese ich in Ihrem Blog und auch immer wieder in Ihren Büchern und das ist mir eine große Hilfe. Manchmal gehe ich dann mit einem inneren Lächeln meiner Wege und ich bekomme von fremden Menschen, die mir begegnen, einen frohen Blick, ein Lächeln oder einfach ein angenehmes Gefühl zurück. Das hat mich am Anfang sehr verblüfft, doch es ist ja eigentlich sonnenklar, dass man dann einfach eine Offenheit, eine Verbundenheit mit sich selbst und mit ALLEM ausstrahlt und dies wirkt auf meine mich umgebende Welt.

    Und ich denke, es ist einerlei, wie die Welt um mich herum beschaffen ist, denn sie ist GENAU SO beschaffen, wie wir Menschen sie geschaffen haben – ganz ohne Wertung, ob schön, ob hässlich, ob Wildbach oder stinkende Straße.

    So bin ich einigermaßen überrascht, dass Sie in diesem Artikel so stark polemisieren: hier das Gute, dort das Schlechte – und damit eigentlich den Geist des TAO verletzen und eventuell auch einige Menschen, die nicht in einer (wirklich erstrebenswerten?) Idylle und Harmonie leben oder auch keine Möglichkeit haben, überhaupt jemals einen „grünen Wildbach“ zu erleben.

    – es ist ALLES JEDERZEIT da und es ist ÜBERALL ALLES möglich –

    Ja, diese Wahrheit spüren wir nicht immer und gehen wieder in den alltäglichen gewohnten Schritten. Doch wenn sie einmal erspürt wurde, können wir uns wieder auf sie besinnen. Und das ist das Schöne: wir verlieren sie nicht wieder.

    Liebe Grüße von Gabriele

    • Theo Fischer sagt:

      Hallo Gabriele,

      Sie schreiben in Ihrem Kommentar: „So bin ich einigermaßen überrascht, dass Sie in diesem Artikel so stark polemisieren: hier das Gute, dort das Schlechte – und damit eigentlich den Geist des TAO verletzen und eventuell auch einige Menschen, die nicht in einer (wirklich erstrebenswerten?) Idylle und Harmonie leben oder auch keine Möglichkeit haben, überhaupt jemals einen „grünen Wildbach“ zu erleben.“

      Wo bitte polemisiere ich denn? Dass die Welt samt unserem Leben die Kontraste von Yin und Yang braucht, leuchtet doch ein. Wir schätzen die hellen Seiten unseres Daseins doch insbesondere darum, weil wir auch ihre dunklen kennen und schon gefühlt haben. Und die Zahl der Menschen, denen kein grüner Wildbach widerfährt, rechnet sich weltweit nicht in Millionen, sie überschreitet sogar die Milliardengrenze. Wird dadurch der Geist des Tao verletzt?? Aus kosmischer Sicht ist eine Sternengeburt ebenso ein Akt der Liebe wie die Zerstörung eines Planeten. Die Lebenskunst des Tao verheißt keine Idylle, es liegt am einzelnen Individuum selbst, wie es mit den Ausdrucksmitteln des Nichthandelns umgeht und dadurch auf die Qualität seines Lebens einwirkt.
      Theo Fischer

  3. Yong Han sagt:

    Die verkehrsüberlastete Strasse und der Wildbach sind gleich, wenn man nicht wertet.

    • Taononymus sagt:

      … und solange man beide nur aus der Ferne betrachten kann.
      Sobald man sie aber durchqueren muss zwingen sie einen, den Unterschieden Rechnung zu tragen, die zwischen ihnen bestehen.
      Wirklichkeiten wirken eben, d.h. Wirklichkeiten können es erzwingen, dass man sie erlebt, mag der Geist dabei auch schweigen.

      Viele Grüße,
      Taononymus

  4. Yong Han sagt:

    Über den Wildbach hüpfe ich von Stein zu Stein – über die Strasse gehe ich von Lücke zu Lücke. Der Weg ist der Weg.

  5. Taononymus sagt:

    … und wer auf dem Weg einmal innehalten muß, der kann dies auf einem Stein im Wildbach getrost tun und anschließend ausgeruht weitergehen. Versucht er das Gleiche in einer Verkehrslücke auf der überlasteten Durchgangsstraße, so ist der Weg an dieser Stelle höchstwahrscheinlich zu Ende. 😉

    Viele Grüße,
    Taon0nymus

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert