Einheit – L’Éloge de la Folie

Heute habe ich euch einen Text aus „Tendenzen des Wachstums“ ausgesucht, weil mich ein Leser nach dieser Skulpur von Jean Tinguely gefragt hat.                                                  Das Foto stammt aus dem Museum Tinguely, Basel, mit  dessen freundlicher Genehmigung ich es veröffentlichen darf.

Vor Jahren stand ich einmal in Basel vor einer Installation des Künstlers Jean Tinguely. Es handelte sich um ein grosses Mobilé, bestehend aus Antriebsrädern unterschiedlichster Größe und Form. Sie waren durch Treibriemen, Ketten, exzentrische Gestänge, Kardanantriebe und alle möglichen weiteren mechanischen Verbindungen alle miteinander im Eingriff und bewegten sich, je nach dem Übersetzungsverhältnis mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vorwärts oder rückwärts drehend. Und inmitten dieses bizarren Regelwerkes von Transmissionen befand sich, auf einem Fahrradsattel sitzend, ein menschliches Gebilde. Die Puppe trat mit den Beinen Fahrradpedale und trieb so über die Kette ein Ritzel an, das in das große Räderwerk fest integriert war. Seine beiden Arme bewegten ein weiteres Fahrrad-Pedalrad, dem anstelle der Pedale zwei Handgriffe montiert waren. Auch dieses Rad war über Kette und Ritzel mit dem übrigen Räderwerk verbunden. Das mächtige Kunstwerk zeigte also einen Menschen, der mit Händen und Füßen strampelte und aktiv war. Von dieser Aktion ausgehend, bewegten sich alle Räder, Übersetzungen und Transmissionen des vielgestaltigen, mobilen Mikrokosmos mit.

Die Skulptur stellt eine Frage: Bewegt nun dieser Mensch das Räderwerk oder wird er durch die Dynamik der vielen, zum Teil mächtigen Treibräder selber in Bewegung gehalten und sein Treten und Kurbeln ist schiere Illusion? Bewegt er oder wird er bewegt? Was geschieht, wenn er Hände und Füße von den Pedalen nimmt? Bleibt der ganze Apparat dann stehen? Oder läuft er unbeirrt weiter, egal, was der Mensch dort auf dem Fahradsattel unternimmt? Geht die Energie der ganzen Dynamik von diesem einsamen Menschen aus oder ist es die Energie des ganzen Getriebes, der er nicht ausweichen kann, gleich, ob er die Pedale bewegt oder es bleiben läßt?

Tinguelys  Kunstwerk ist eine gute Metapher für die ungeklärte Situation des modernen Menschen. Es wirft Fragen nach Sinn, Identität und dem freien Willen auf.  Und es deutet eine Antwort an, die nirgendwo in unser erlerntes, lebenslang praktiziertes Weltbild paßt. Logisch bilden die menschliche Puppe und das Räderwerk eine Einheit. Insofern wäre es unwichtig, von wem oder was die Bewegung ausgeht. Es greift alles ineinander, Mensch und Umfeld sind ein- und derselbe Vorgang. Dichten wir dieser Figur inmitten des Riesenmobilés Bewußtsein an, hätte sie die Wahl, wie sie ihre Position im Szenarium interpretiert: Möglichkeit eins wäre, daß sie sich für den Initiator aller Vorgänge hält, die in ihrem engeren Wahrnehmungsbereich liegen, sie wäre überzeugt, durch Treten und Kurbeln hätte sie unmittelbaren, wirksamen Einfluß auf die äußeren Vorgänge. Möglichkeit zwei wäre die fatale Einsicht, daß sie von der Übermacht des sie umgebenden Getriebes selber angetrieben wird und ergo keine eigene Willenshandlung möglich wäre. Bei Möglichkeit drei gelangt die Figur inmitten des Regelwerkes zu der Auffassung, getrennt von einem Ablauf zu existieren, auf den sie trotzdem willentlich einwirken kann, aber umgekehrt ebenso von dem Getriebegeschehen beeinflußt wird. Bei Möglichkeit vier erkennt die Figur sich und das gesamte Mobilé als ein zusammengehöriges, von der Identität her untrennbares Wesen. Was handelt, was sich bewegt, was Wirkung erzeugt, wäre dann allemal das Ganze.

Auf die Menschheit angewandt könnte das Gleichnis aussagen, dass jedes Element dieses sich gegenseitig beeinflussenden und bewegenden Räderapparates in der Überzeugung existiert, sein Bewußtsein wäre individuell, es wären seine von den Erfahrungen der anderen Elemente isolierten Erfahrungen, die dieses Element stets  unter der Prämisse seiner selbst definierten Position aus gesammelt, gespeichert und im Bedarfsfall als Paramter für seine Handlungen verwendet hat. Jedes Element lebt in dem Gefühl, es sei zu Handlungen fähig, die unabhängig von anderen Handlungen stattfinden. Wer die Welt am Modell einer Installation wie der von Tinguely betrachtet, begreift, dass hier Individualität, wie wir sie interpretieren,  technisch gar nicht möglich ist. Zieht man aus den vier Denkmodellen eine vernünftige Schlussfolgerung, dann beantwortet sich zum Beispiel die (in meinen Augen falsch gestellte) Frage nach dem freien Willen anscheinend recht simpel: Ich bin verstrickt in die Wechselwirkungen des Regelwerkes, das mein Leben ist und mit dem ich, metaphysisch gesehen, identisch bin. Aber ich kann allezeit bei Risiko auf Gewinn oder Verlust entscheiden, ob ich in die Pedale trete oder ob ich mich heraushalte. (Und da die Situationen ununterbrochen ihr Gesicht wechseln, sehen Mitmachen und Verweigern jedesmal anders aus.) Wenn es von Anfang an nie etwas anderes als die Einheit gegeben und die Welt die ganze Zeit auf der dualistischen Schiene halbwegs funktioniert hat,  dürfte erstmal erwiesen sein, dass Einheit gegebenenfalls kein  Hindernis für ein individuelles, original gestaltetes eigenes Leben ist. Sie beeinflusst dieses Leben nur in dem Sinne, daß es eingebunden ist in alle Ereignisse, die innerhalb dieser Einheit stattfinden. Wobei die Beteiligten nicht an der Strippe eines alles bestimmenden Puppenspielers hängen – sie können durch Überlegung und Tat Einfluß nehmen und als Individuen auf die Bewegungen des ganzen, zusammenhängenden Systems einwirken. Wenn ich mich zuweilen allzu sehr als ohnmächtiges Rädchen im Getriebe fühle, ist die Einsicht ein Lichtblick, dass diese Einheit im hintersten Hintergrund meiner materiellen Existenz  nicht das eigentliche Problem ist. Weil sich bei näherer Untersuchung herausstellt, dass das sich vom Ganzen isoliert fühlende Individuum in Wirklichkeit mehr Einfluß besitzt, als es sich zutraut. Wir sollten deshalb überlegen, ob sich aus der Hypothese von einer zusammengehörigen Welt nicht neue, vitalere Handlungsmuster ableiten ließen als die heute von uns so krampfhaft praktizierten.

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Eine Antwort zu Einheit – L’Éloge de la Folie

  1. Alter Chinese! sagt:

    Erinnere mich an diese Textpassage. Theo-Fischer-Bücher agieren heute als I Ging. Nur dass keine Schafgarbenstängel oder Münzen benötigt werden. Eines der (zum Teil bereits herrlich vergilbten und durch etliche Wanderrucksacktransporte verbogenen) Bücher an einer x-beliebigen Stelle aufschlagen und den betreffenden Absatz lesen genügt. – Schade, dass es von Theo Fischer keine Hörbücher gibt, am besten natürlich vom Autor selbst vorgelesen. Oder von einer weiteren Reinkarnation des guten alten Lao-Tse.

    Theo Fischer – unvergessen.

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