Geist

Derjenige, der von jener unaussprechlichen Wesenheit, die wir Gott nennen, am tiefsten denkt, wird am wenigsten davon sprechen. Wir können Gott in den rohen und gewissermaßen entfernten Erscheinungen des Materiellen wieder finden; aber wenn wir versuchen, ihn zu erklären und zu beschreiben, verlässt uns die Sprache und das Denken, und wir sind so hilflos wie Narren und Wilde. Jene Wesenheit lässt sich nicht in Lehrsätze einzwängen, doch wenn der Mensch sie geistig verehrt hat, so ist es die höchste Aufgabe der Natur, als die Erscheinung Gottes zu gelten. Sie ist das Organ, durch das der universelle Geist zu dem Individuum spricht und darum ringt, das Individuum zu ihm zurückzuführen.

Ralph Waldo Emerson

Der Gott, den Emerson in seinem Essay beschreibt, hat kaum Ähnlichkeit mit dem Schöpfer der Bibel. Ich hätte keine Schwierigkeit, das Wort Gott durch Tao zu ersetzen, ohne dass der Text des Philosophen mit dem Tao te king in Konflikt geriete. In einem früheren Beitrag habe ich einmal vermutet, Emerson könnte Kenntnis von der taoistischen Philosophie besessen haben. Das wäre möglich, aber es ist für das Verständnis der universalen Machtverhältnisse nicht unbedingt notwendig. Emerson um seiner tiefen Einsichten willen als Erleuchteten einzustufen, uns anderen Sterblichen dank seines begnadeten Geistes haushoch überlegen, hieße freilich, den Bogen zu überspannen. Nach meiner heutigen Erkenntnis ist das Wissen um den Grund der Dinge, das Erahnen der eigenen geistigen Identität in jedem Menschen vorhanden. Es wird nur durch das lebenslang angesammelte anders lautende Wissen vollkommen überlagert und seiner Wirkung beraubt. Ich rede von jenem aus Erfahrung gewonnenen Wissen, das die Bausteine zu unserem Selbstbild liefert und die Illusion unserer individuellen Identität so glaubhaft macht. Wir erleben uns so gut wie ausschließlich auf der Schiene des komprimierten Wissens über uns, nur in seltenen Momenten, meist durch irgendeinen Schock ausgelöst, verschwindet dieses Bild und macht für Sekunden einer Leere Platz, hinter der das Unbekannte schlummert. Emersons Hinweise, dass Gott in der Natur dem Menschen am nächsten ist, und sein Drängen, den Kontakt mit dem Höchsten eben dort zu suchen, sind keineswegs falsch. Ich habe mit vielen Menschen Gespräche über den Grund der Dinge bezw. das Tao geführt, in denen sie von diesem Ahnen des Unermesslichen erzählten, das sich insbesondere in Wäldern und Auen, im unmittelbaren Erleben der freien Natur einstellte. Ich stimme Emerson zu, dass, wenn ich die Natur beschreibe, ich mich in meinem Denken zugleich dem Prinzip nähere, das sie verursacht. Dort spricht der universelle Geist, sagt er, am deutlichsten hörbar zum Menschen. Aber ich möchte noch einen Schritt weiter gehen: Das Erleben der Natur erzeugt auch Stille in uns. In dieser Stille sind wir uns selber näher als im Getöse alltäglicher Verrichtungen. Und es ist diese Nähe, die uns jene universale Dimension fühlen lässt, die zum einen die enge Rinne unserer individuellen Identität ausfüllt, zum anderen aber einen unendlichen Durchmesser besitzt. Wer sich draußen in der Stille der Natur mit allen seinen Sinnen samt seinem Denken der Großartigkeit dieses Erlebens öffnet, wird dem Grund der Dinge begegnen, und zwar, indem er eine Pforte durchschreitet, die einzig und allein in ihm selbst auf geheimnisvolle Weise aufgegangen ist.

Und noch etwas: Die Natur, das betont Emerson zu Recht, ist ein Schlüssel zum Erleben Ihrer Einheit mit dem Universalgeist. Aber dieser Geist ist im gleichen Maß Teil Ihres Bewusstseins als Mensch und Lebewesen. Mit der richtigen Einstellung, was meint, mit einem empfangsbereiten Sinn, müssen Sie nicht bei jeder noch so kleinen Krise oder Störung in den Wald rennen, um dem Göttlichen zu begegnen. Ein winziger innerer Schwenk, von Ihrem Ego weg und hin zu dieser geheimnisvollen inneren Pforte, würde ausreichen, den Kontakt herzustellen. Werden Sie es tun?

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4 Antworten zu Geist

  1. Taononymus sagt:

    Lieber Herr Fischer,

    man kann auch einmal sich selbst, angefangen vom Wunderwerk des eigenen Körpers über die Geflechte der Gefühlswelt bis hin zu den fortwährend vor sich hin plappernden Gedanken als Natur begreifen.
    Dann reicht schon ein Blick in den nächsten Spiegel, um einem der unzähligen Wesen zu begegnen, dessen bloßes Vorhandensein Ausdruck der unglaublichen Kreativität ist, der wir durch die Natur begegnen.

    Wohl hat der Mensch das, was sich dort im Spiegel zeigt, mit dem einen oder anderen Erzeugnis so genannter „menschlicher Kreativität“ wie modischer Kleidung, einer Designerbrille oder einer teuren Armbanduhr garniert. Auch glaubt ein erstaunlich hoher Anteil dieser Natur-Wesen, dass sie die Natur irgendwie hinter sich lassen könnten, wenn sie sich nur lange und tief genug in glitzernden Glaspalästen, hochtechnologischen oder gar virtuellen Welten vergraben.

    Aber wie lächerlich sind all diese Kulturprothesen im Vergleich zu dem Wesen im Spiegel selbst, das allein die Natur entstehen ließ, einfach sö?

    Viele Grüße,
    Taononymus

    • gitti sagt:

      Hallo Taononymus,
      Goethe schreibt „….es ist der Geist der sich den Körper schafft…So gesehen wandeln wir uns in die eine oder andere Richtung. Je mehr wir mit dem Grund der Dinge, Tao,Gott, verbunden sind, desto positiver die Ausstrahlung.
      Liebe Grüße Gitti

      • Taononymus sagt:

        Liebe Gitti,

        klar, was den Zusammenhang zwischen geistiger bzw. psychischer Verfassung eines Menschen und seiner persönlichen Ausstrahlung angeht, haben Sie und Goethe sicher recht 🙂

        Allerdings meinte ich oben nicht die Wahrnehmung dieser Art von Ausstrahlung, auch wenn sie einem beim Blick in einen Spiegel natürlich ebenfalls entgegenschlägt.
        Ich habe vielmehr versucht, auf eine weitere, ganz simple Möglichkeit der Naturbegegnung hin zu deuten und die Stille zu erleben, die diese Begegnung auslösen kann.
        Zumindest bei mir funktioniert es so auch immer wieder mal, wenn die Natur draußen gerade nicht in Reichweite ist.

        Übrigens war ja Goethe auch ein begeisterter Naturforscher, siehe beispielsweise seine Farbenlehre. Und als solcher war er von der Einheit von geistigem und materiellem überzeugt, bzw. davon, dass die Spaltung der Welt in eine geistige und eine materielle ein Denkfehler ist.

        Viele Grüße,
        Taononymus

  2. JE sagt:

    Lieber Theo,
    ein sehr berührender Text.
    Jene Stille, jenen direkten und unmittelbaren Zugang und Bezug zur Natur, habe ich das erste Mal bei Euch auf La Costa empfunden und wahrgenommen.
    Inzwischen kann ich diese Stille auch in anderen Momenten, Dingen und Orten spüren, weil es eine Stille ist, die von innen kommt.

    Ich denke, dass dieses Gewahrsein mir aber erst durch diese unmittelbare Erfahrung, dem Einklang in und mit der Natur, überhaupt möglich wurde (Die äußere Stille sozusagen als Weg zur inneren Stille).

    Herzliche Grüße
    JE

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