Die Feinde, sagst du, geben dir
auf Erden keine Ruh.
Du hast nur einen wahren Feind,
mein Bruder: das bist du!
Mascha Kaléko
Was ist ein Feind? Auf jeden Fall jemand, der etwas gegen uns hat, der es nicht gut mit uns meint. Ob dieser imaginäre Feind es beim Gefühl der Abneigung belässt oder ob er zur Tat schreitet und uns spürbar schadet, macht wiederum einen Unterschied zwischen Feind und Feind. Merken Sie etwas? Wir verlieren uns bei der reinen Betrachtung des Begriffes bereits wieder einmal in Worten, statt dass wir uns über Tatsachen unterhalten. Also – hin zu den Tatsachen. Die zu der Frage führen, wie Sie zu sich selbst stehen. Eigentlich ist es unter der Oberfläche unseres Bewusstseins ein ständig wechselnder Vorgang. Da gibt es Phasen, in denen wir absolut zufrieden mit uns sind, in denen wir eine starke Sympathie für das eigene Ich spüren, also unserer selbst sehr sicher sind; und dann gibt es auch jene anderen, in denen wir uns schrecklich finden, in denen es uns vor dem eigenen Wesen graust, weil chronische Unzufriedenheit bis hin zum Lebensüberdruss uns das Dasein verleidet. Macht uns der negative Gemütszustand nun automatisch zum eigenen Feind? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Beziehung, die wir zu uns selbst kultivieren, ebenso wie alle anderen Dinge der Polarität von Yin und Yang unterliegt? Dass wir ein wohlwollendes Selbstvertrauen zu unserem eigenen Wesen vielleicht gar nicht realisieren würden, wenn da nicht auch Schattenseiten wären, die vor allem in Phasen selbstkritischer Beobachtung der eigenen Person auftauchen? Wir reden also die ganze Zeit über Stimmungen uns selbst gegenüber. Zum eigenen Feind machen Gefühle uns aber gewiss nicht. Wir brauchen im Gegenteil das Potpourri eines sich ständig bewegenden Gefühlslebens, damit wir überhaupt richtig lebendig sind. Ein gleich bleibender Gefühlshaushalt – zum Beispiel fortdauerndes Glück – würde ziemlich bald in eine Monotonie führen, die man dann am ehesten noch als Feind betrachten könnte.
Die Abwesenheit jeglichen Feindbildes, das völlige Fehlen eines Gefühls dafür, dass wir uns in manchen Situationen wie unser eigener Feind verhalten, würde unserer psychischen Gesundheit allerdings auch nicht besonders gut bekommen. So gesehen brauchen wir sogar von Zeit zu Zeit im Spiegel der Selbstkritik das Angesicht des Feindes, der unsere Züge trägt. Die meisten Fehler begehen wahrscheinlich Menschen, die unfähig zu Selbstkritik sind. Die Misserfolge grundsätzlich auf das Konto Fremdverschulden buchen und die von ihrer Umgebung erwarten, dass sie sich allezeit nach ihren Wünschen richtet. Von ihrer Warte aus werden bei Versagen alle anderen zu Feinden. Kein Mensch mit diesen Charaktermerkmalen nimmt wahr, dass er selber sein ärgster Feind ist. Den Gegenpol zu dieser selbstgefälligen Kategorie bilden jene, die ständig von einem unterschwellig schlechten Gewissen gequält werden. Die bei jeder Entscheidung, jeder Tat von Zweifeln geplagt werden, ob sie das Richtige tun und ob „man“ mit ihrem Verhalten zufrieden ist. Dieses „man“ schließt die ganze Außenwelt ein. So ein Geisteszustand lässt einen Menschen ebenfalls zum eigenen Feind werden.
Es stellt sich hier die Frage, ob es etwas gibt, das wir in Sachen „wahrer Feind“ tun müssten oder gegebenenfalls auch ohne dringende Notwendigkeit tun könnten? Ein Verhalten, das uns andauernd als der eigene Feind erlebt, ist ebenso falsch, so fatal und sogar krank, wie sein Gegenteil. Weder das vollständig abwesende Selbstvertrauen noch die selbstgefällige Überheblichkeit des „Fehlerlosen“ sind die Antwort auf die Forderung nach einem harmonischen Geist. Gehen wir einmal davon aus, dass Sie eine Konfrontation mit sich selbst als Ihrem eigenen Feind beschließen und nun überlegen, wie das funktionieren soll. Das ist wieder einmal so einfach, dass es schwierig zu verstehen ist: Wie beim Umgang mit anderen Ihrer Lebensprobleme beobachten Sie still und ruhig dieses neue Phänomen. Öffnen Sie Ihren Sinn den kleinen und größeren Dämonen, die Sie kontinuierlich umher treiben. So ein Dämon mag Ihr Drang nach Wachstum sein, Ihr ständiges Bemühen, an sich zu arbeiten und ein anderer Mensch, als der, der Sie in Wahrheit sind, zu werden. Oder Sie sehen Ihre Schwäche, eine qualvolle Beziehung zu beenden, die sich längst nicht mehr retten lässt. Das Wesen in Ihnen, das immerzu am Verkehrten festhält oder niemals mit sich so recht zufrieden ist und an sich herumbastelt – dieses Wesen i s t Ihr Feind, und natürlich sind Sie das selbst!
Damit sind Sie Ihrem Feind begegnet. Gestehen Sie, was er Ihnen antut – erkennen Sie glasklar, was in Ihrem Leben falsch läuft. Und dann – – – -, dann schließen Sie Frieden mit ihm! Führen Sie Friedensverhandlungen mit sich selbst und versöhnen Sie sich mit jenen Anteilen Ihrer gewachsenen individuellen Identität, mit denen Sie andauernd ringen müssen. Was auf Deutsch heißt: nehmen Sie sich selber so an, wie Sie beschaffen sind. Und hören Sie auf mit diesem Werden ohne Ende. Seien Sie SIE und stehen Sie dazu. In diesem zu sich Stehen ist ein guter Teil Aufgeben enthalten. Aber mit dem Aufgeben ehrgeiziger Bildnisse erzeugen Sie ein geistiges Milieu, in dem ohne Ihren ständigen Kampf mit sich selbst die positiven Veränderungen eintreten werden.
Lieber Herr Fischer,
ich denke, solche „Friedensverhandlungen mit sich selbst“ sind für viele Menschen keine Sache einer Umorientierung „einfach so“, innerhalb von wenigen Tagen.
Es mag einfach einzusehen sein, „was zu tun ist und wie es geht“, aber einfach umzusetzen ist es für deshalb noch lange nicht.
Denn nach gründlicher Erziehung zum ständigen Vergleichen, Bewerten und Konkurrieren mit anderen, zu Leistung, Ehrgeiz und zum als „Disziplin“ verkleidetem Kontrollzwang sowie nach jahrelanger Anpassung an die nach diesen so genannten „Werten“ tickende Arbeitswelt ist bei sehr vielen Menschen der „innere Feind“ eine tief in der Psyche verwurzelte und groß ausgewachsene Struktur. Nach längerem Leben im oben umrissenen Muster meist sogar die dominierende Struktur überhaupt.
Einem so heran gezüchteten „inneren Feind“ wieder schrumpfen zu lassen verlangt natürlich Entscheidungen und Entschiedenheit, vor allem aber auch jahrelange Geduld sowie die Fähigkeit, um Lebensmöglichkeiten zu trauern, die ihm zum Opfer gefallen sind.
Viele Grüße,
Taononymus