Ist der Geist im Schädel eingesperrt?

Darf ich Sie etwas fragen, während Sie diesen Text lesen? Sehen Sie die Schrift dieses Blog-Beitrages an dem Platz, an dem er sich im Augenblick befindet? Auf dem Monitor Ihres Gerätes? Oder ist das eine Täuschung und der Textblock ist in Ihrem Schädel drinnen? Wo er sich mit dem Licht in Ihre Augen bewegt und von den Sehnerven zur Sehrinde des Gehirns transportiert wird? Sehen Sie die Schrift dort, wo sie sich befindet oder erleben Sie ihren Anblick ausschließlich im Inneren Ihres Kopfes, wie es die Theorie so schön behauptet?

Ehe Sie sich darüber den Kopf zerbrechen, muss ich ein Geständnis machen: Zu den Fragen hat mich das Buch Der Siebte Sinn des Menschen von Rupert Sheldrake inspiriert. Sheldrake ist Biologe, kein Psychologe und auch kein Philosoph. In seinem Werk will er die reale Existenz außersinnlicher Phänomene, das Vorhandensein eines Siebten Sinnes belegen und er setzt seiner Arbeit eine fundamentale Erkenntnis voran. Sie deckt sich mit den Aussagen der taoistischen Philosophen von der Einheit der Dinge. Für ein Phänomen, das verbal so schwer zu erklären ist, hat Sheldrake wunderbar klare Argumente gefunden. Er verweist die Theorie der Neurologen und modernen Psychologen, dass Geist und Gehirnmasse identisch sind, ins Absurde. Falls dies zuträfe, würde sich die Welt unserer Wahrnehmung ausschließlich innerhalb unserer Schädelknochen abspielen. Das steht in krassem Widerspruch zu unserem eigenen Erleben, betont er und ich stimme ihm von Herzen zu. Der Biologe legt in seinem Buch dar, dass unser Geist sich weit über unser Gehirn hinaus erstreckt – sogar beim einfachsten Akt der Wahrnehmung. Die Bilder, die wir sehen, sind dort, wo sie zu sein scheinen. Wenn wir einen kilometerweit entfernten Berg anschauen, erstreckt sich unser Geist kilometerweit. Wenn wir einen fernen Stern betrachten, erstreckt sich unser Geist buchstäblich über astronomische Entfernungen. Weiter betont Sheldrake, dass Subjekt und Objekt nicht radikal voneinander getrennt seien, so, als ob sich das Subjekt im Innern des Kopfes und das Objekt in der Außenwelt befinde. Beide sind vielmehr wechselseitig miteinander verknüpft. Unsere Aufmerksamkeit erzeugt Wahrnehmungsfelder, die uns mit dem Angeschauten verbinden. So sind der Beobachter und das Beobachtete wechselseitig miteinander verbunden. Im Originaltext ist zu lesen:
„Vor allem aber ist die Erkenntnis, dass unser Geist über unser Gehirn hinausreicht, eine Befreiung für uns. Wir sind nicht mehr in der Enge unseres Schädels eingesperrt, unsere Geister sind nicht mehr voneinander getrennt und isoliert. Wir sind nicht mehr unserem Körper, unserer Umwelt und anderen Arten entfremdet. Wir sind wechselseitig miteinander verbunden.“

In seinem früheren Werk Das Gedächtnis der Natur hat Sheldrake bereits die
Existenz so genannter morphogenetischer Felder postuliert, die es zum Beispiel einer Vogelart bei veränderten Bedingungen ermöglichen, weltweit, ohne sich zu verständigen, gleichzeitig ihr Verhalten zu korrigieren. Im neuen Titel spricht er von morphischen Feldern und nimmt Bezug auf die allgemeine Feldtheorie, die auch Einstein in seiner Relativitätstheorie verwendet hat. In meinen eigenen Büchern stimme ich der Existenz von Feldern ebenfalls zu. Ich vermeide allerdings das Wort und halte mich lieber an die alten Taoisten, die den Jahrtausende später geprägten Begriff nicht kannten und an Stelle eines Feldes als Ausgangsbasis aller Erscheinungen kurzerhand die Leere oder das Nichts ins Spiel brachten. Setzen wir diese Wörter an die Stelle von Feld, könnte die Erkenntnis Sheldrakes ebenso gut von Chuang tzu stammen oder einem der 81 Sprüche Laotses entnommen sein.

Leere und Nichts stehen für das Unbekannte. Der Geist, von dem wir die ganze Zeit reden, ist ebenso unbekannt, er ist mit dem Nichts identisch – er ist das Tao. Es gibt nicht Ihren Geist und meinen Geist. Wenn mein Geist sich zeitgleich mit dem Geist von Nachbar Krause beobachtend bis zur Venus ausdehnt – dann ist Krauses Geist von meinem Geist nicht verschieden. Geist ist niemals jemandes Privatbesitz wie seine individuellen Erinnerungen. Wir erleben sein Vorhandensein subjektiv über die Medien Wahrnehmung und Bewusstsein, und da Geist allein auf diese Weise von uns erfahren wird, dürfen wir unterstellen, dass Wahrnehmung und Bewusstsein Aspekte dieses Geistes sind, der weit über die Begrenzungen des Individuums hinausreicht.

Sie werden mich nun fragen, was Ihnen die vorausgegangenen Ausführungen nützen sollen. Ich würde Sie gerne anregen, an einer Kette logischer Schlussfolgerungen teilzunehmen. Bedingung wäre freilich, (nur als Arbeitshypothese) Sheldrakes Feststellungen über die Eigenschaften des menschlichen Geistes als richtig anzuerkennen. Die folgende Gedankenkette über den Geist liest sich ein wenig wie die simple Logik einer Milchmädchenrechnung, die nur aufgeht, wenn man die Anfangsbehauptung akzeptiert. Dennoch hat sie Tiefe, die zu entdecken sich lohnt – selbst wenn der Nutzen nur ein Zuwachs an Information wäre. Es wurde gesagt – oder meinetwegen behauptet – unser Geist dehnt sich während einer Wahrnehmung unter Umständen bis zum Andromedanebel aus. Die Beobachtung erzeugt ein unsichtbares, nur hypothetisch existierendes Feld. Das Beobachtete, also zum Beispiel der erwähnte Spiralnebel, wird vom Bewusstsein erlebt (oder eben zur Kenntnis genommen). Das Bewusstsein übt in diesem Beispiel die Funktion des Geistes aus – es gibt in der Beobachtung keine Überschneidung von Geist und Bewusstsein, auch findet kein zweifacher Prozess statt, in dem erst der Geist und kurz darauf das Bewusstsein die Spiralgalaxie wahrnimmt. Es handelt sich um einen einzigen Vorgang. Und bei diesem einen Vorgang gibt es keine Trennung von Geist, Wahrnehmung und Bewusstsein. Die Trennung zwischen den drei Begriffen ist eine rein sprachliche, erdachte – präzise gesagt: erfundene. Es findet ein einziger Vorgang statt, die Beobachtung des Andromedanebels. Basta. Die Schlussfolgerung hieraus müsste nach den Regeln der Logik also lauten: Was der Mensch und insbesondere die Neurologie in drei Bausteine zerlegt, ist genau besehen nur ein einziger. Gewahrsein, Bewusstsein und Geist sind willkürliche Synonyme für den Urgrund, also für das Tao. Womit die Identität des Wesens, das im Individuum sein Leben erlebt, unmissverständlich auf etwas Ganzes, Unteilbares hinweist. Nicht umsonst tun sich Neurologen und Psychologen so schwer damit, eindeutig festzulegen, was Bewusstsein eigentlich ausmacht und wie es entsteht.

Gleich, ob Ihnen die Schlussfolgerungen einleuchten oder nicht – Sie brauchen sich deswegen nicht den Sinn schwer zu machen. Der Verstand, der in der Tat im Schädel eingesperrt ist und von dort aus die Ich-Zustände erzeugt, die unser Bewusstsein samt der Wahrnehmung in Beobachter und das Beobachtete zerlegen, wird Einheit höchstens als Glaubenssatz akzeptieren können. Aber er ist nicht dafür geschaffen, Dinge zu verstehen, die so weit wie die Erkenntnis vom Zusammenhang des Universums ins Unbekannte, Unerklärbare hineinreichen. Lassen Sie einfach stehen, was da steht. Versuchen Sie, ein Gefühl dafür zu finden, wenn Sie das nächste Mal bei Nacht am Sternenhimmel zum Großen Wagen (Urs Major) aufschauen. Lassen Sie die Vorstellung auf sich einwirken, dass Ihr Geist die enge Hirnschale verlässt und emporsteigt zu dem vertrauten Sternbild. Und spielen Sie ein wenig mit der Vorstellung, dass Ihr Selbst, Ihr ganzes Wesen sich bis weit hinein in den Nachthimmel ausdehnt.

Dieser Beitrag wurde unter Taoismus abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Ist der Geist im Schädel eingesperrt?

  1. Gitti sagt:

    Hallo und liebe Grüße!
    Voraussetzung ist wohl , daß man sich dieser Leere bewußt ist. Die Menschen von denen der Dichter Hanshan schreibt die weder gut noch böse sind und den magischen Turm in sich nicht sehen,spüren wahrnehmen…haben einen anderen Blick auf die Dinge. Die Feldtheorie findet wohl nur unter Wesen mit gleichem Energiefeld statt, wie das Beispiel mit den Vögeln zeigt.
    Auf jeden Fall ist die Wahrnehmung der eigenen Weite und Stille eine wunderbare Erfahrung.
    Gitti

  2. Taononymus sagt:

    Hallo Ihr,

    über Versuche, Beweise für Unbeweisbares herbei zu schaffen hat Chuang Tsu mit seinem glasklaren Verstand und seiner tiefreichenden Erkenntnisfähigkeit vor gut zweitausendvierhundert Jahren folgendes geäußert:

    „…Im Geteilten gibt es Unteilbares. In den Beweisen gibt es Unbeweisbares. Was heißt das? Der Berufene hat die Wahrheit als innere Überzeugung, die Menschen der Masse suchen sie zu beweisen um sie einander zu zeigen. Darum heißt es: Wo bewiesen wird, da fehlt die Anschauung. …“ *

    Und einen Absatz weiter: „ …Darum: mit seinem Erkennen halt machen an der Grenze des Unerforschlichen ist das Höchste. Wer vermag zu erkennen den unaussprechlichen Beweis, den unsagbaren SINN? Diese zu erkennen vermögen heißt des Himmels Schatzhaus zu besitzen. Dann strömt es uns zu und wir werden nicht voll. Es fließt aus uns hervor und wir werden nicht leer, und wir wissen NICHT von wannen es kommt…“

    Chuang Tsu hat die Begrenztheit seines Verstandes offensichtlich nicht nur als reflexhaft nachgeplapperte Leerformel postuliert nur um dann gleich mit dem nächsten Gedanken just diese Grenzen zu überschreiten. Er gebot seinem Verstand WIRKLICH an dessen Grenze Einhalt und hatte es so nicht nötig, ihn weg zu werfen um zu tieferen Erkenntnissen durch zu dringen. Und ganz nebenbei hat er seinen Lesern damit Texte wie den obigen erspart.

    Ganz nebenbei hat er seinen Lesern so automatisch auch in sich widersprüchliche Texte wie den obigen Exkurs über umstrittene naturwissenschaftliche Hypothesen erpart. Aber wie schon früher hier mal erwähnt: wem auch immer solche Konstruktionen nützen, wohl bekomm’s ihm 🙂

    Viele Grüße ins Piemont,
    Taononymus

    *aus Richard Wilhelm, das wahre Buch vom südlichen Blütenland, BuchII, Kap. 7: Jenseits der Unterschiede

Schreibe einen Kommentar zu Gitti Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert