Lasst mir meine Ruhe

Ein viel gesprochener Satz. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob er in unserer zivilisierten Welt häufiger als „Ich liebe dich“ ausgesprochen wird. Im Drang der Alltagsgeschehnisse ist das Bedürfnis, eine Weile für sich zu sein, nur zu verständlich. Doch was geschieht, wenn die Menschen dem Wunsch Rechnung tragen und Sie – angenommen Sie haben es wieder einmal zu Recht verlangt – eine Weile für sich allein lassen? Zieht dann auf der Stelle Ruhe und Frieden in Ihr Gemüt ein? Sie haben soeben die Tür hinter dem letzten Ihrer Artgenossen geschlossen, der Ihnen zum Schluss allein durch seine Präsenz schon auf die Nerven gegangen ist. Jetzt sind Sie allein im Raum und lassen sich auf eine bequeme Sitzgelegenheit fallen. Vielleicht stützen Sie den Kopf in die Hände, schließen die Augen und atmen tief durch. Drinnen in diesem Kopf freilich rotieren die Gedanken weiter. Mit der äußeren Stille allein wollen sie nicht zur Ruhe kommen. Wie ein Kaleidoskop wechseln in Ihrem Gehirn die Szenen und irgendwie unternehmen Sie schwächliche Versuche, aus dem Wirrwarr mindestens eine harmonische Idee herauszufiltern. Schließlich klammern Sie sich an einigen erträglichen Gedanken fest, aber auch diese entziehen sich wieder Ihrem ideellen Griff. Schließlich fühlen Sie nur noch Leere, Ihre Existenz draußen vor der Tür des Raumes, der Sie vom Rest der Welt verschonen soll, scheint sich wie im Nebel in Nichts auflösen zu wollen. Was Ihnen vorhin, selbst während Ihrer verärgerten Reaktionen noch wichtig erschienen war, hat unversehens keine Bedeutung mehr. Auf seltsame Weise wird Ihnen unbehaglich. Hinter der Leere, die sich in Ihrem Geist einzustellen im Begriff war, fühlen Sie eine unbeschreibliche Einsamkeit. Wäre da nicht noch ein Rudiment des Trotzes übrig, der Sie vorhin Ihre Ruhe fordern ließ, würden Sie am Liebsten wieder zurück zu den anderen gehen. Vielleicht aber spüren Sie in dieser Erfahrung der Stille und dieser jähen Leere in Ihrem Innenleben den Hauch einer anderen Dimension des Seins. Weil in diesem Nichts der Stille Sie das Unbekannte berührt, das ohne Gestalt für sie ist, weil Sie es nicht kennen können? Was Sie dabei ängstigt, ist die Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen, die Ihnen wichtig waren, und vor denen Sie sich nur für eine Viertelstunde in Sicherheit bringen wollten. Es ist ein Gefühl, das Sie sich als Todesnähe vorstellen könnten – und hier liegen Sie gar nicht so falsch. Es bedeutet freilich nicht Ihr Ende als Erdenbürger, aber es zeichnet sich hier ein Ende der Verstrickungen ab, denen Sie jenseits der Tür, die Sie hinter sich geschlossen haben, eine zeitlang zu entkommen suchten. Könnten Sie diesen leeren Raum, der sich da ungerufen in Ihrem Gemüt entfaltete, mit hinaus in den Alltag nehmen, der auf der anderen Seite der Tür auf Sie wartet, würden sich einige Ihrer Probleme lösen. Dann bliebe nämlich der emotionale Widerstand, den Sie gegenüber so vielen Dingen und Ereignissen reflexartig aufbauen, fort. Szenen, welche diesen dringenden Wunsch nach Ruhe und ein bisschen Frieden in Ihnen auslösen, würden mangels Reibung gar keine Chance mehr haben, Sie aus der Balance zu bringen. Das, schätze ich, könnte Laotse gemeint haben, wenn er vom Menschen des Tao sagt, er würde mit den Dingen gehen.

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Eine Antwort zu Lasst mir meine Ruhe

  1. gitti sagt:

    Das mit dem emotionalen Widerstand ist tatsächlich ein Problem, das ich bei mir auch beobachten kann. Im Moment des Begreifens löst er sich Gott sei Dank auf. Mit den Dingen gehen wie Laotse so schön sagt oder „go with the flow“ (nicht Mainstream gemeint) wie man heute oft hört, ist wunderbar.

    Schöne Tage in Ruhe und Achtsamkeit
    Gitti

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