Wenn ich heute eine andere, vernünftigere Einstellung zum Denken gefunden habe, stellt das die Inhalte meines Werkes Wu wei nicht in Frage – es nimmt bestenfalls Korrekturen an einer Aussage vor, die ohnehin kein Mensch würde realisieren können – auch die vom Meister gepiesackten Mönche nicht. Die im Kommentator zitierten Koans habe ich in je einer Ausgabe von TAGundTAO 2008 und 2009 verarbeitet. Es ist zwar für ein Blog viel Text – aber wen’s interessiert, der kann ja nachlesen, was ich damals verfasst habe:
Der Koan zum Sonntag
Meister Basho sagte zu den Mönchen: „Wenn ihr einen Stock habt,
werde ich euch einen geben. Wenn ihr keinen Stock habt, werde ich ihn
euch wegnehmen.“
Zenkei Shibayama, Zu den Quellen des Zen, S. 369
Gedanken über den Koan zum Sonntag
Sie kennen vielleicht den Bibelspruch aus dem 23. Psalm: „Denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“. Einen ähnlichen Status genoss damals der Stock, aus dem Basho einen Koan gemacht hat. Bei dem fraglichen Stück handelte es sich um ein etwa zwei Meter langes hölzernes Rohr. Der Stock war quasi der unverzichtbare Begleiter auf Wanderungen durch unwegsames Gelände. Das Straßennetz dürfte um die Wende des Jahres Null kaum unseren Status gehabt haben und wer sich in den Bergen und Wäldern verletzte, durfte nicht auf das Rote Kreuz oder die Bergwacht hoffen. Das mag der Grund sein, warum dem Stock auch eine starke spirituelle Bedeutung zukam. Er war Symbol für – wie es im Originaltext heißt – Eine das Universum durchdringende Wahrheit, das Wahre Selbst, das Grundlegende ES. Der Symbolgehalt des Stockes übertrifft bei weitem jenen anderer Gerätschaften des Zen, wie den der Reisschale oder des Gongs. Meister Mumon stimmt ein wahres Loblied auf den Stecken an: Wie frei und wunderbar wirkt dieser Stock. Du kannst mit ihm einen Fluss oder eine Brücke überqueren. Mit ihm bist du in einer dunklen, mondlosen Nacht sicher. In den Schwierigkeiten unseres alltäglichen Lebens kann es nichts Besseres geben, als diesen Stock. Warum? Weil er durch sein wunderbares Wirken alle Hindernisse beseitigt und eine durchscheinend klare Geistigkeit ohne jede Schranken zustande bringt.
Der Koan sagt eine Menge aus. Würde man den Text auf unsere Zeit übertragen, dann müsste die spontane hämische Auslegung lauten, dass denen, die viel haben, noch mehr gegeben wird, aber jenen, die Mangel leiden, auch das Letzte noch genommen oder zumindest verweigert wird. Also Ungerechtigkeit als unausgesprochenes Grundkonzept einer sich für human ausgebenden Gesellschaft. Das könnte leider sogar stimmen, wenn man auf die Zustände in unserer Umgebung blickt. Doch so einfach ist die Geschichte nicht. Es geht in allen Fällen, in denen ein Koan vorgelegt wird, um Erkenntnis. Die Erkenntnis muss nicht synchron mit der Lösung der Rätselaufgabe eintreten, sie kann sich beim vergeblichen Ringen um die richtige Antwort spontan einstellen – und unter Umständen überhaupt nichts mit den Inhalten der Fragestellung zu tun habe. Der Stock als materielles Werkzeug spielt in der Aufgabe nur insoweit eine Rolle, als er für die geistige Metapher herhalten muss. Ein quer denkender anderer Meister, er hieß Daii Bokitsu, kehrte den Koan um: „Ich bin anders als Meister Basho. Wenn du einen Stock hast, werde ich ihn dir wegnehmen. Wenn du keinen Stock hast, werde ich dir einen geben. Ich bin so. Könnt ihr Gebrauch von dem Stock machen oder nicht?“ Diese kontroversen Texte von dem Besitzer des Stockes, dem einer gegeben oder alternativ einer genommen wird und jenem, der keinen Stock besitzt und dem entweder der Anspruch auf einen solchen abgesprochen oder einer gegeben wird, erinnern an Chuang tzus Pferd, das ein Pferd, kein Pferd und drittens sowohl ein Pferd als auch kein Pferd ist. Der Umkehrung der Logik will dokumentieren, dass man sich beim Versuch der Lösung nicht an den vordergründigen Sinn der Worte binden darf.
Wie antwortet ein Mensch des Jahres 2009 auf den Koan? Sagt er uns außer dem Seitenblick auf die sozialen Missstände etwas? Gibt er Hinweise auf die Realisierung des Tao? Das tut er schon, aber die Hinweise sind durch die kreuz und quer verlaufenden Auslegungen nur durchschaubar, wenn man den verschlungenen Knoten mit einem Schwerthieb auseinander schlägt, um das Innenleben des Spruches aufzudecken. Die Antwort ist einfacher als Sie vermuten: Es geht um den Schritt zur Erkenntnis der Wahrheit. In einer anderen mir vorliegenden Übersetzung wird der Stock im Koan nämlich zum Krückstock – und das kommt der Geschichte deutlich näher. Damit wird das Rätsel unversehens transparent: Der Besitzer des Krückstockes ist der Benachteiligte, weil er auf seinem Erkenntnispfad die Krücke nötig hat – und dem legt Basho, um seine Unselbständigkeit zu betonen, nahe, noch eine zweite zu benutzen. Jener andere geht seinen Weg ohne dass er Krücken bräuchte, und der Umstand, dass ihm symbolisch Krückstöcke abgesprochen werden, betont seine geistige Selbständigkeit.
Auf uns Leute von Heute umgemünzt ist die Lösung des Koans nicht unbedingt schmeichelhaft. Wer sich Erkenntnis wünscht, aber dauernd auf Reisen ist, um sie irgendwo einzusammeln, gleicht einem Menschen, der bereits am Stock geht und dem man am Besten noch einen zweiten spendiert, damit er nicht ins Straucheln gerät. Mit anderen Worten: Wenn ich wie einst als Kind und Jugendlicher meine geistigen Lernprozesse aus zweiter Hand, also von anderen beziehe, dann ist unvermeidbar, dass eine frühe Vergreisung einsetzt, ohne dass ich je erwachsen geworden wäre. Ich mache aus mir einen Menschen aus zweiter, dritter Hand mit Wesensmerkmalen, die es symbolisch gesehen, wenn der Trend so weiter läuft, bald bei Ebay zu ersteigern gibt. Ich bleibe ein Mensch, der nie ein selbstbestimmtes Leben führen wird. Die Alternative ist jemand, der ohne die Krückstöcke der Lehrer und spirituellen Führer auskommt. Er hat begriffen, dass Leben zugleich ein permanentes Lernen ist. Aber ein Lernen, das nicht sammelt, sondern versteht. Diese Feststellung bedeutet nicht, dass Sie zum Beispiel keine Philosophen mehr lesen sollen oder Gespräche über Lebenskunst führen. Der Dichter Wang wei schreibt ja auch in einem seiner Verse, dass er einen Freund zu Besuch erwartet, damit sie miteinander in den Büchern über das Tao schmökern können. Der Unterschied liegt in der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Lernens und Erkennens. Wenn eine Erkenntnis in Ihnen wächst, dann gehört sie Ihnen. Und sie sind ihr nur so lange verpflichtet, wie sich diese Einsicht bewährt. Sie sind – und darin liegt die Schönheit – nicht verpflichtet, Ihre selbst gewonnenen Einsichten für ewig als gültig festzuschreiben. Wenn Ihnen eine neue, vitalere begegnet, dann gibt es keine Hemmungen, ältere, verbrauchte abzulösen. Fremd bezogenen Lebensmodulen haftet nun einmal der Geruch von Verbindlichkeit an. Solange Sie geistig nicht selbständig sind, begleitet Sie immer die Furcht vor einem Fehler, wenn Sie Situationen gegenüberstehen, die einen Paradigmenwechsel erfordern würden. Der Mönch ohne Stock, dem der Stock genommen wird, ist dieser Typ von Mensch, der sich alles anhört, der sich nichts verweigert, aber niemals fremde Autoritäten über sein geistiges Leben bestimmen lässt.
Der Koan zum Sonntag
Meister Shuzan hielt seinen Stab hoch, zeigte ihn den versammelten Schülern und sagte: „Wenn ihr Mönche dies einen Stab nennt, dann seid ihr an den Namen gebunden. Wenn ihr es keinen Stab nennt, dann leugnet ihr das Faktum. Sagt mir, Mönche, wie nennt ihr es?“
Zenkei Shibayama, Zu den Quellen des Zen, S. 364
Gedanken über den Koan zum Sonntag
Das Dilemma dieses Koans ist offensichtlich: Ich blicke in der Stadt zur Spitze des Kirchturms empor, auf der sich gerade ein weißer Vogel niederlässt. „Eine Taube“, sagt mein Denken – und damit wäre ich ein weiteres Mal in der Falle der Dualität gelandet. Die Zen-Buddhistische Forderung nach der Überwindung der Dualität und zugleich den Zwiespalt, in den jeder gerät, der es versucht, drückt Meister Mumon im Kommentar zu diesem Rätselspruch aus:
Der Mensch muss ein für allemal in den Abgrund dualistischer Widersprüche gestürzt werden und seinem kleinen Selbst in den Tiefen geistigen Ringens vollkommen sterben. Wenn er die Sperre der Dualität nicht durchbrochen hat, kann er nicht wirklich frei sein jetziges alltägliches Leben führen. Um seiner Subjektivität Herr zu werden, wird er mit dem Widerspruch zwischen „Sich-an-den-Namen-binden und Leugnen des Faktums konfrontiert. Die, die es erfassen können, tun es, wenn der Meister seinen Stab zeigt, ehe er noch ein Wort gesprochen hat. Wenn sich deine Zunge auch nur rührt, dann hast du es schon verfehlt. Warum? Das ganze Universum ist nur Eins. Alles ist nur Eins. Wenn aber hier ein Gedanke an Unterscheidung aufkommt, dann ist die absolute Klarheit dieser Geistigkeit schon verloren.
Wenn vor meinen Sinnen ein Objekt auftaucht und ich es bewusst wahrnehme, gibt es eigentlich keinen vernünftigen Grund, dass ich es über die Wahrnehmung hinaus auch noch beim Namen nennen muss. Der Koan zwingt mir die Frage auf, warum ich das dann andauernd tue. Habe ich unbewusst Angst, etwas vom Leben könnte mir entgehen, meine Sinneseindrücke gingen verloren, wenn ich sie nicht mit Etiketten versehe? Folgt etwas in unseren Köpfen dem Wahn, Leben ließe sich zur späteren Wiederverwendung konservieren, wir bräuchten es nur in Marmeladegläsern einzukochen und deutlich beschriftet in den Vorratsschrank unseres Gedächtnisses zu stellen? Das Problem tritt täglich hunderte von Malen auf. Bei jedem Anblick, der uns auffällt, reagieren wir aus Reflex und nennen das geschaute Ding beim Namen. Da hebt einer einen Stock in die Höhe – und wir sagen in Gedanken den Satz: „Der hält einen Stock hoch“, ehe er die Frage stellt, was das ist, was er da in der Hand hält.
Unser Denken erzeugt offenbar kontinuierlich einen Ausstoß völlig unnötiger Kommentare zu Sinneseindrücken, deren Gewahrsein an sich bereits den Sinngehalt des Seins erfüllt und deren aufmerksame Beobachtung zu intuitiven Einsichten in Sachverhalte führt. Allerdings ist bei der kategorischen Verneinung jeglicher Benennung, zum Beispiel von Gegenständen, auch eine gewisse Vorsicht geboten. Bei alltäglichen Verrichtungen kommt das Denken oft um Namen gar nicht herum, wenn es seine Arbeit ordentlich verrichten will. Wenn Sie vor einem Marktstand stehen und Gemüse für das Mittagessen auswählen, werden Sie natürlich Namen denken oder leise murmeln: „Bohnen, Brokkoli, Erbsen, Blumenkohl, Tomaten“ und so fort. Jemandem zu verbieten, Dinge künftig nicht mehr in Gedanken zu etikettieren, nicht mehr beim Namen zu nennen, hieße, ihn bis zu einem gewissen Grad entmündigen. Es käme einem Denkverbot gleich. Für mein Gefühl geht der Zen in diese Richtung. Da werden bei organisierten Übungen über die Meditation hinaus bestimmte Verhaltensweisen gelehrt, die man sich antrainieren kann. Eben zum Beispiel das Nicht-Benennen. Die Unterdrückung Namen nennender Gedanken geschieht über den Willen und wird als Disziplin verstanden, der zu folgen Nutzen bringt. Etwa so, als ob ich mir antrainieren würde, beim Überqueren von Zebrastreifen nur noch auf die weißen Markierungen zu treten, den dunklen Asphalt aber als etwas Gefährliches meidend. Aber so funktioniert das nicht. Wer auf diese Weise vorgeht, hat lediglich eine sinnlose Angewohnheit gegen eine andere, ebenso sinnlose und obendrein anstrengende eingetauscht.
Über das Problem der Dualität des Denkens hinaus ist der Koan schwierig zu lösen, weil die Behauptung, man würde den Stock als Tatsache verleugnen, wenn das Benennen unterbleibt, schlichtweg falsch ist. Je tiefer man in die Aufgabe eindringt, umso mehr nehmen die Widersprüche zu. Es beginnt damit, dass die meisten Sinneseindrücke unregistriert an uns vorbeiströmen. Wir bewegen uns halb blind, halb taub und in unseren Gefühlen weitab vom pulsierenden Leben des Jetzt durch die Landschaft des Alltags. Wir registrieren die Dinge hauptsächlich dann bewusst, wenn sie uns auffallen oder wenn wir vor der Notwendigkeit einer gezielten Auswahl unter mehreren Objekten stehen. Im letzteren Fall ist das Benennen, wie oben vermerkt, als Denkhilfe gerechtfertigt. Das eigentliche Problem ist die Wahrnehmung der Phänomene, die auffällig genug sind, dass sie unser Interesse finden. Und genau hier verfallen wir dem Irrtum, dass wir diese Dinge wirklich gesehen hätten. Das haben wir meistens nämlich nicht! Weil das Wort, das Etikett, mit dem wir die Dinge bezeichnen, uns die Arbeit des Beobachtens erspart und damit der Ersatz für genaues Hinschauen ist. Die Sprache muss als Hilfsmittel herhalten, um über das menschliche Unvermögen, im Jetzt zu leben, hinwegzutäuschen. Und gegen dieses Übel wendet sich der Koan zum Sonntag.
Eine Antwort, die aus einem kurzen Satz besteht, gibt es für die Aufgabe nicht. Das ist auch nicht ihr Sinn. Aber es gibt eine natürliche, und entsprechend einfache Lösung. Wenn Sie sehr intensiv einen Gegenstand oder ein Lebewesen betrachten, werden Sie spüren, dass überhaupt kein Bedürfnis nach Formulieren da ist. Die Begegnung mit dem Objekt Ihres Interesses wird sprachlos, ausschließlich über das Medium Ihrer Beobachtung erlebt. Ein wacher, uneingeschränkt an den Vorgängen des Lebens interessierter Geist ist auf die Routinen des Benennens nicht angewiesen, um Sicherheit oder Erfüllung daraus zu gewinnen. Sein Erleben ist direkt, unmittelbar. Menschen, die so wahrnehmen, haben begriffen, dass jegliches Ereignis vor ihren Sinnen, sobald sie ihm einen Namen geben, im Rückspiegel des Beobachters zur Vergangenheit wird.
Das Problem der Dualität tritt in den Hintergrund, wenn trotz gelegentlich notwendigen Benennens in Ihnen das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Dingen, denen Sie Namen geben, vorhanden ist. Wichtiger als alle Ideen vom Nichtunterscheiden ist das Wissen um Ihre umfassende Identität. Dann mögen Sie unter den Augen der Marktfrau die Früchte des Feldes betrachten und ihnen die vertrauten Namen geben – entscheidend bleibt das Gefühl, das Sie bei diesem harmlosen Tun begleitet. Sie spüren, dass Sie von den Tomaten, die Sie „Tomaten“ denken, nicht wirklich getrennt sind.
Erstmal – schönen Sonntag!
Ja, es ist viel Text. Doch in einem Blog ist genug Platz und lohnenswert ist der Text schon. Oder genauer – ich betrachte ihn als wertvoll. Das mag bei anderen Menschen ganz anders sein.
Zwischendurch macht sich da schon, wenn auch kurz, ein bisschen Verwirrung breit. Allerdings hat sich das schnell gelegt. Spontan ist mir jemand eingefallen der neulich meinte nicht die richtigen Worte für seine Gefühle zu finden. Den schicke ich mal hierher, bin auf den Kommentar gespannt.
Am meisten verwirrt hat mich allerdings nicht der Text, nein, eher der fehlende Hinweis auf die Schwaben 😀
Jedenfalls Danke für die Anregungen.
Partielle Verwirrung ist nicht vorgesehen, aber kaum zu vermeiden. Ein Wort genügt manchmal schon, dem zwei Leute verschiedene Bedeutung beimessen – und es gibt Probleme. Wie sagte Robespierre zu Zeiten der französischen Revolution? „Lasst mir den Gerechtesten zehn Zeilen schreiben, und ich finde etwas darin, ihn zu hängen.“ Na also. TF
so wie der der Lau Dan schon wusste – viele Worte, viel Verlust…
deswegen die Äusserungen im TAO auch in sehr bildhaften Worten.
Ich glaube, dass wirklich beste Buch über den Tao sind die Ochsenbilder.
Und eine kleine Anmerkung über die Koans – sie sind nur dazu da, um den Geist zu lösen. (Ein gutes Beispiel ist der von Ihnen zitierte Stockkoan.) Lösen von den Anhaftungen an Begriffen und Logik. Sonst kann sich der Geist nicht klären. Kommt man auf die Antwort eines Koans, so fällt man in die Leere von allem. Das erste Gefühl der Befreiung.