Nichthandeln

Wer das Lernen übt, vermehr täglich.
Wer dem Tao nachgeht, vermindert täglich.
Er vermindert und vermindert,
bis er schließlich beim Nichthandeln ankommt.
Beim Nichthandeln bleibt nichts ungetan.
Laotse, 48. Spruch

„Wer das Lernen übt, vermehrt täglich“ ist eigentlich als Warnung gedacht. Die leise Häme des Textes kritisiert nicht den Erwerb von Fachwissen oder Allgemeinbildung. Der Alte redet von einem Lernen der anderen Art: der Vermehrung des psychologischen Wissens. Laotse sagt kurz und bündig: Im Lernen zu Themen wie dem eigenen Selbst, dem Schöpfer, dem Lebenszweck und dem Woher und Wohin des Daseins wird jemand kontinuierlich sein Wissen vermehren, aber nie zu einem Ende kommen.

Vermindern bedeutet das Abwerfen aller Prägungen, gleich, ob es sich um Ihr allgemeines Weltbild handelt, Ihr Selbstverständnis oder Ihre religiösen Überzeugungen. Im Grunde gehört der ganze Lehrstoff, die Summe all der lebenslangen Prozesse der Vermehrung aus dem Spiel genommen. Wir vermindern und vermindern, indem wir unseren vertrauten, ein Leben lang gewachsenen geistigen Standort aufgeben. Und zwar ersatzlos.

Sie müssen nichts zu tun, es gibt nichts zu lernen, Sie brauchen nur aufzugeben. Dieses aus Lernen gewonnene Bild Ihres Selbstverständnisses ist das Hindernis, das weg muss. Und das verschwindet in dem Maß, wie Sie ihm nicht mehr gestatten, sich in Alles und Jedes einzumischen. Lassen Sie die in Ihnen vorhandene natürliche Leere zu, wenn Sie etwas tun müssen.

„Bis er schließlich beim Nichthandeln ankommt.“ Wenn Sie allen Resultaten früherer Lernprozesse auf psychischer Ebene ade gesagt haben, wenn Sie mit absoluter Klarheit realisiert haben, dass damit auch das Reservoir Ihrer gesammelten Lebenserfahrungen fragwürdig geworden und – zumindest zum kreativen Gebrauch – nur noch bedingt geeignet ist, wenn Sie dies erkannt haben, dann ist Nichthandeln Realität geworden. Chuang tzus Kommentar zu diesem Spruch ist kurz,  aber er drückt bildhaft die Schwäche des Vermehrens und die Kraft des Verminderns aus, das zum Nichthandeln wird:

„Wenn ein Heizer ein Feuer unterhält, indem er mit der Hand ein Scheit aufs andere legt, gibt es eine Grenze. Aber wenn ein Brand sich von selbst ausbreitet, ist der Vorgang ein dauernder.“

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4 Antworten zu Nichthandeln

  1. JE sagt:

    Lieber Theo,

    meine erste Reaktion zu Laotses Spruch:

    Erst mal habe ich „nichts verstanden“
    – dann ‚dachte’ ich: es soll so sein.
    Vielleicht ist das der Grundgedanke?
    – lass es stehen, lass es sein:
    dann kommt „Verständnis“ von allein.

    Ein tiefsinniger Spruch von Laotse, der „wirken“ will, mehr, als dass er mit dem Verstand wirklich begriffen werden kann…nicht ganz einfach in unseren antrainierten „Gedanken-Karussels“, um so hilfreicher Deine Interpretation hierzu. Vielen Dank!

    Herzliche Grüße
    JE

    • gitti sagt:

      Ich denke, daß es zum Nichthandeln kommt wo nichts ungetan bleibt, braucht es mehr als nur das Abwerfen alter Prägungen. Solange das wieder nur ein Lernprozess ist, spürt man diese besondere unendliche Energie nicht.
      Man muß eine große Sehnsucht nach dieser Leere in sich spüren, damit sich der Brand von selbst ausbreitet.
      Liebe Grüße Gitti

      • Taononymus sagt:

        Liebe Gitti,

        wieder einmal hast Du den Nagel auf den Kopf getroffen 🙂

        Wenn Jahrzehnte des „Lernenwollens“, „Wachsenwollens“ und „Werdenwollens“ nichts als bleierne Müdigkeit und Überdruß bis zum Ekel zur Folge haben, dann ist kein Holz mehr da, das man noch auf den Brand legen könnte.

        Und wenn DIESES künstliche Feuer irgendwann ausgebrannt ist, brennt eine Sehnsucht ohne „Wollen“ stetig und unablässig all den aufgetürmten Ballast nieder.

        Viele Grüße,
        Taononymus

  2. Michael sagt:

    Lieber Theo Fischer, lieber JE, liebe Gitti,

    auch ich tue mich mit diesem 48.Spruch etwas schwer:
    Wenn jemand Interesse am Selbst, am Ursprung der Dinge, am Woher und Wohin hat, dann versucht er doch zunächst, etwas zu lernen.
    Und es gibt ja auch gute Bücher hierzu, wie eben die Bücher von Ihnen, lieber Theo Fischer.
    So ging es mir auch und ich habe Wissen vermehrt.
    Das hat mir durchaus interessante und sehr aufbauende Einsichten in die Gesetze der Wirklichkeit vermittelt.
    Und es stimmt tatsächlich, man kommt durch Wissen an kein Ende.
    Hat man eine Frage beantwortet, dann kommen 10 neue Fragen dazu.
    Aber es hat meiner Meinung nach trotzdem etwas Gutes:
    Ich komme an den Punkt, an dem ich wirklich verstehe, dass das Geheimnis nicht gewusst werden kann, dass es „erspürt“ und „realisiert“ werden muss.
    Jemand, der sich nie für die genannten Fragen interessiert hat, kommt wahrscheinlich auch nie an diesen Punkt.
    Ich denke manchmal, dass nur der, der alles versucht hat, das Geheimnis zu verstehen,schließlich wirklich aufgeben kann und damit wirklich leer wird und sich öffnet.
    Oder, um es mit den Worten Laotses zu sagen, ich vermehre so lange, bis ich aus eigener Einsicht wirklich vermindern kann.

    Liebe Grüße
    Michael

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