Nichtwissen

Es ist seltsam, dass man nie sagen kann: „Ich weiß nicht.“ Um es wirklich sagen und auch fühlen zu können, muss man demütig sein. Doch nie gibt man die Tatsache zu, nichts zu wissen. Es ist die Eitelkeit, die den Geist mit Wissen füttert. Eitelkeit ist eine seltsame Krankheit, immer hoffend und immer entmutigt. Doch das Nichtwissen zugeben heißt, den mechanischen Prozess des Wissens zu beenden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zu sagen „Ich weiß nicht“ – durch Verstellung mit all ihren subtilen, listigen Methoden, durch Beeindrucken, durch das Erlangen von Geltung und so weiter. Das „Ich weiß nicht“, das in Wirklichkeit ein Innehalten ist, um etwas herauszufinden, und das „Ich weiß nicht“, das nicht versucht zu wissen. Der erstere Zustand lernt nie, er sammelt nur und lernt auf diese Weise nichts, und der letztere ist immer im Stadium des Lernens, ohne jemals anzuhäufen.
Krishnamurti
Das Notizbuch, S. 207

Krishnamurti redet hier nicht von Fachwissen, es geht nicht um den Beruf, auch nicht um humanistische Bildung. Er spricht über ein Nichtwissen vom Sein, vom Grund der Dinge – und vom Bewusstsein des Menschen. Gerade das Letztere ist ein flagrantes Beispiel für die Weigerung, zuzugeben, dass man etwas nicht weiß. Die Neurologen konnten bis heute das Geheimnis unseres Bewusstseins nicht entschlüsseln. Eine zeitlang wurde das Nichtwissen eingestanden, um dann später in der ebenso falschen wie gewaltsamen Lösung zu enden, die es auf eine Funktion der Gehirnzellen reduziert. Ebenso wird Geist entweder ignoriert oder kurzerhand mit Verstand gleichgesetzt, ergo ebenfalls zu Hirnmasse, Haut, Knochen und Verdauung gerechnet. Dies ist der Hochmut, den Krishnamurti angreift. Ich weiß von vielen Leserinnen und Lesern, wie sehr sie um Erkenntnis ringen, welche Anstrengung sie aufwenden, um Einblick in die Metaphysik ihrer eigenen geistigen Position zu gewinnen. Aber der Schlüssel zu aller Einsicht ist in der Bereitschaft zum Nichtwissen zu finden. Unser Verstand kann Formeln lernen und entschlüsseln, aber niemals etwas so Komplexes wie seine eigene Beziehung zum Schöpfungsprozess. Die Lösung dieses Problems, das unter den Menschen auch heute noch so unendlich viel Leid und Terror auslöst, ist wieder einmal zu einfach, um sie zu sehen: Ein Geist, der zugibt, nichts, absolut nichts über Schöpfung und Sein zu wissen, wird das Vakuum der eigenen Leere zu spüren beginnen, das vom Nichtwissen geschaffen wird. Und in diesem Zustand, der nichts mehr wissen will, setzt ein Lernen ein, das keine Notizen braucht, um sich den Stoff zu merken. Bei meinen Ferienkursen geschieht es oft, dass Teilnehmer mit Block und Kugelschreiber bewaffnet an den Tisch sitzen. Ich weise dann immer höflich darauf hin, dass schriftliche Aufzeichnungen keinen Sinn machen. Weil das, was vermittelt wird, die Tür zum Nichtwissen öffnen soll. Denn nur dann wird der Geist aufnahmefähig für das, was aus dem metaphysischen Grund in ihm aufsteigt. Und um die so gewonnene Erfahrung für alle Zeit zu bewahren, braucht es keiner Aufzeichnungen, weder auf Papier, noch, wie Krishnamurti es oben ebenfalls betont, im Gedächtnis.

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6 Antworten zu Nichtwissen

  1. Machtnix sagt:

    Vielleicht kommen wir dem Nichtwissen näher, wenn wir uns klarmachen, dass Wissen eigentlich nur Abfallprodukt des Erkennens ist. Doch in unserer Gesellschaft wird dieser Abfall angehäuft und verehrt, während das Erkennen auch gefürchtet ist, so nach dem Motto: „Gefahr erkannt – Erkenntnis verbannt“. Ebenso wird das Gesehene mehr geschätzt als das Sehen, das Gehörte mehr als Hören, das Geschriebene mehr als das Schreiben.

    Das Wissen, der angehäufte Abfall, behindert das Erkennen und kanalisiert es in Kategorien. “ Die fünf Farben machen das Auge blind“ ,sagt Laozi und ich bin mir ziemlich sicher, dass er diesen Sachverhalt damit gemeint hat.

  2. Rouven sagt:

    Immerhin sprengt eine tiefe Erkenntnis alte Macht- oder Abhängigkeitsstrukturen bzw. relativiert diese ziemlich, überall da, wo etwas zum Dogma „verkrustet“ (und das will gewiss nicht jeder)…

    • gitti sagt:

      Ich sehe, daß sich Menschen mit hoher Intelligenz wesentlich härter tun mit dem „Nichtwissen“, als Menschen mit emotionaler Intelligenz . Obwohl ich viel weniger weiß als die super Gebildeteten, komme ich mit unvorhergesehenen Dingen leichter zurecht, dank diesem Lernen ohne „Block und Kugelschreiber“.
      Nichts festmachen, offen sein und immer bereit für das RICHTIGE genügt eigentlich. Ich gebe zu, es gelingt nicht immer-aber immer öfter.
      Liebe Grüße Gitti

      • Taononymus sagt:

        😉 😉 😉

        Und ich sehe mal wieder mit Schmunzeln, wie erstaunlich gleich und einig sich viel und wenig Wissende, Gering- und Supergebildete sind, wenn sie sich über „Intelligenz“ äußern.

        Alle scheinen gleichermaßen unwiderstehlich gezwungen zu sein, Intelligenzvergleiche anzustellen, nur um dann auf jeweils unterschiedlichen Wegen klarzustellen: „Irgendwie bin ich ja dann doch intelligenter als die anderen!“

        😉 😉 😉

        Augenzwinkernde Grüße,
        Taononymus

        • gitti sagt:

          Hallo Taononymus!
          Es ist tatsächlich schwierig mit ein paar Sätzen auszudrücken was man meint und beim Durchlesen meines Textes, habe ich oft das Gefühl, überheblich, belehrend oder besonders intelligent zu wirken.
          Was ich aber nicht bin.
          Mit Augenkontakt würde das besser funktionieren.
          Funktionieren die Spiegelneuronen auch im Internet?
          Liebe Grüße Gitti

  3. Taononymus sagt:

    Für mich ist gleich der erste Satz aus dem Krishnamurti-Zitat oben der wichtigste:

    „Es ist seltsam, dass man nie sagen kann: ‚Ich weiß nicht.‘ Um es wirklich sagen und auch fühlen zu können, muss man demütig sein.“

    Solche Demutsübungen bleiben derzeit gerade auch den „Lieblingsprügelknaben“ aller Wissenschaftshasser, den Physikern, nicht erspart.
    Mußten sie doch dieses Jahr für den von ihnen selbst fachlich korrekt erbrachten Nachweis des riesigen Ausmaßes ihrer Unwissenheit über ihr ureigenstes Forschungsgebiet einen Nobelpreis vergeben:

    http://www.zeit.de/2011/41/Nobelpreis-Physik/seite-3

    Nicht mehr als 5%, das kann man bei dem Universalanspruch, den sehr viele in diesem Fach vor nur 10 Jahren noch hatten, schon als Bußübung begreifen.

    Viele Grüße,
    Taononymus

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