Reife – der Schlüssel zum Glück Kapitel 10

Bin ich, weil ich denke?

Descartes‘ cogito ergo $um – ich denke, also bin ich -deckt sich im Prinzip haargenau mit unseren Einsich­ten aus Übung i. Wir könnten den Satz in der Wortfolge anders gesetzt so formulieren: <lch> bin (mir meines Selbst bewußt), weil ich denke. Bereits während der Renaissance dürfte in der gewaltigen Spanne menschlicher Evolution der Höhepunkt des in­dividuellen Selbst-Bewußtseins erreicht gewesen sein. Und die Fundamental-Erkenntnis des Philosophen Descartes über die menschliche Fähigkeit zum Denken von Gedanken wurde für un­sere Kultur zur Grundlage jeglichen Strebens und jeglichen Selbstverständnisses. Seitdem der Mensch sich als von seiner Um­welt losgelöstes unabhängiges Individuum erfährt und diese Unabhängigkeit mit einem mächtigen Gebilde aus Theorien, Phi­losophien und Weisheitslehren samt den dazugehörigen Weltbil­dern stützt und sich schützend damit umgibt – ist er aus seinen psychischen Problemen nicht mehr herausgekommen.

Nicht, daß ich etwas gegen das Denken hätte. Wir wären übel dran, wenn-uns diese Gabe fehlte – dann gäbe es wenig, was uns von Affen unterscheiden würde. Alle Wissenschaft, jeder techni­sche Fortschritt, alle Wohltaten, wie Verkehrsmittel, Kommuni­kationseinrichtungen, aber auch aller Fluch, wie chemische Kampfmittel, Waffen und Kriegsmaterial, sind dieser Fähigkeit entsprungen. In vielen Lebensbereichen ist Denken unerläßlich. Sie könnten keinen Nagel in die Wand kriegen (manche bringen das wirklich nicht fertig, doch das ist ein anderes Thema), wenn Sie sich nicht an die einmal erlernte Fertigkeit via Gedächtnis erin­nerten. Im Gesundheitswesen und auch im Unterrichtsbereich hat Denken seine fundierte Berechtigung. Wir brauchen es.

Dennoch: Im Zusammenhang mit unserem Selbstverständnis ist es so nötig wie ein Hirntumor – es ist überflüssig und sogar schädlich. Ich habe in den voraufgegangenen Kapiteln keinen Pieps über eine Alternative zum erdachten Ich geäußert. Und ich werde mich hü­ten, es zu tun. Nicht, weil ich es nicht wüßte oder keine Lust habe oder was weiß ich, weshalb. Die Antwort wäre eine glatte Lüge, denn sie würde, wie sie lauten mag, bloß ein anderes Etikett für Sie und mich abgeben. Es muß genügen, daß wir dies begreifen: Mein Ich-Bild existiert, weil ich es denke. Basta. Wer hinter dieses My­sterium der eigenen Persönlichkeitsstruktur gelangt, hat keinen Grund zur Vcrunsichcrung. Als Hilfsmittel, durch das ich mich von anderen Leuten unterscheide, als Adresse für Ansprechpart­ner und das Meldeamt ist unsere Identität durchaus brauchbar. Mit der neuen Möglichkeit, unseren Wahrnehmungsapparat von bekannt und gewohnt auf neu und unbekannt umzuschalten, be­sitzen wir bereits den Zugang zu unseren kreativen, nonverbalen, spontanen Gehirnbercichen. Sie müssen unserer Identität mit al­len ihren Eigenarten und ihrem Reichtum hinzuaddiert werden -und daraus, wie Sie noch lesen werden, resultiert ein Mehr an Existenz und, so komisch es klingt, auch ein Mehr an Individuali­tät und vor allem; Originalität.

Irgendwo in finsterer Vergangenheit muß es einen Bruch in der Entwicklung der geistigen menschlichen Reife gegeben haben. Nicht als Scherz hat Erich Fromm in bezug auf menschliche Emo­tionen die Steinzeit zitiert und ich meine provozierende Notiz hin­zugefügt, seit jener Zeit wären die wenigsten Menschen unseres Kulturkreises wirklich erwachsen geworden. In jener Epoche ist der Mensch aus seinem dumpfen Sippenbewußtsein und seiner Naturverbundenhcit herausgetreten. Die gesamte Menschheit hat in einem kollektiven Prozeß zur Individuation gefunden, zur Erkenntnis, daß der einzelne in viel stärkerem Maße ein autono­mes Selbst ist, als die Stammesmythen vorsahen. Mit der Emanzi­pation des menschlichen Intellektes traten weitere Nebenwirkun­gen auf. Die Bindungen an Familie, Sippe und Stamm, die man bisher uneingeschränkt mit zur eigenen Identität gezählt hatte, samt der umgebenden Natur, wurden nach und nach gelost. Frei­heit. Der Mensch trennte die Nabelschnur zu seiner Umwelt durch. Erwarjetzt frei und unabhängig. Er identifizierte sich hin­fort in erster Linie mit sich selbst, das heißt dem Bild, das er von sich besaß. Mit dem Einsetzen des Denkens traten neue Fragen auf, die der Mensch über sich und den Sinn des Lebens zu stellen begann. Zu keiner Zeit hat jemand bei Null angefangen und selbst in sich geforscht, was der Vorgang, den man <Leben> nennt, tat­sächlich bedeutet. Schließlich waren als Ratgeber immer noch die Schamanen, die Priester und Eingeweihten da – die natürlich glei­chermaßen im Sog der kollektiven Individuation ihr Selbst-Ver­ständnis neu orientierten. Die bisher nicht bezweifelten Bezie­hungen zur Außenwelt und zu den Göttern der Naturgewalten wurden hinterfragt und – leider nicht einfach abgelegt. Sie wur­den durch andere, neuere Bindungen ersetzt.

Denn mit seiner Loslösung stellten sich die ersten Daseinsäng­ste ein, die psychischer Natur waren. Wohl kannte der Mensch Furcht: vor den Götttern, Katastrophen oder Feinden. Es war eine berechtigte, rationale Angst und ein gesunder Reflex des Selbst­erhaltungstriebes. Und Ängste dieser Art waren zum Überleben notwendig. Die neue Furcht jedoch hatte andere Dimensionen. Sie entstand aus der ungerechtfertigten Ausklammerung der Welt, aus der Abspaltung des Individuums von den Lebensvorgängen mit Hilfe des Denkens. Und mit dem Mehr an Gedanken, mit dem Wachstum des Intellekts traten Gefühle der Isolierung auf, Ge­fühle des Ausgeschlossenseins. Man war allein. Und man trug alle Verantwortung für sich. Unter der Last ihrer Ohnmachtsgefühle begann die kollektive Individuation zu lahmen. Der Mensch jener Zeit überwand die Ängste nicht mit Hilfe seiner Vernunft. Er be­gann seine Gefühle zu verleugnen, er rationalisierte sie. Und statt des Durchbruchs zu voller Autonomie als Einzelwesen trat er den Rückzug in die Bindung an. Nicht mehr die alten Bindungen na­türlich, das Tor war und blieb verschlossen. Er fand neue. Es wuchsen andere, komplexere Machtstrukturen; in jener Zeit be­gannen die ersten Gründungen größerer Ortschaften, aus denen später Städte wurden. Man wählte sich Führer (damals wie heute die größten Schreihälse, die sich hervortaten) und unterwarf sich ihrer Macht. Diese damals begründeten Strukturen sind uns bis heute erhalten geblieben. Wohl wird Macht heute – jedenfalls in Demokratien – subtiler ausgeübt, aber wir alle sind nach wie vor Untertanen, und keine Regierung traut ihren Bürgern zu, daß sie ohne Gesetze, ohne das Prinzip von Belohnung und Strafe funk­tionieren würden.

Die vorangegangenen Ausführungen haben Sie womöglich ge­langweilt. Doch jetzt wird es wieder interessanter. Sie waren not­wendig, denn es gibt in unseren Tagen eine Analogie dazu. Vom menschlichen Fötus ist bekannt, daß er binnen weniger Wochen bei der Bildung seiner Gestalt den ganzen evolutionären Prozeß im Zeitraffertempo durchmacht. In den ersten Lebenstagen im Mutterleib ist der kleine Mensch durch nichts vom Embryo einer Kaulquappe oder Forelle zu unterscheiden. Offenbar wiederholt sich die Geschichte jahrmillionenlangcr Mutationen in jeder neuen menschlichen Existenz. Weniger bekannt und kaum beachtet ist der Umstand, daß es in der Keifung des menschlichen Geistes eine vergleichbare Parallele gibt: Auch hier findet im Zeit­raffer bei jedem Kind in der Spanne zwischen Geburt und Pubertät der ganze Prozeß der Evolution statt: vom tierisch-instinkthaften Zweibeiner frühester Epochen bis zum aufgeklärten homo sapiens der Neuzeit. Und inmitten der Entwicklung des Einzelwesens vom Kleinkind zum erwachsenen Mann oder zur Frau wiederholt sich im persönlichen Schicksal jedes Menschen um das vierzehnte Le­bensjahr herum der historische Bruch.

Ungefähr im zehnten Lebensjahr beginnt der psychische Vor­gang, den C. G. Jung dndividuatiom genannt hat. Er ist mit dem Ende der Pubertät abgeschlossen. Während dieser Zeitspanne ist der Organismus des heranwachsenden jungen Menschen kräftig und stark geworden, und sein Gehirn hat das volle Volumen er-reicht. Er hat Wissen und Erfahrung gesammelt, und die grundle­genden Einflüsse der Wissens- und Informationsbildung haben ihren Höhepunkt überschritten. In dieser Phase wird sich der Mensch in immer stärkerem Maße seiner selbst als unabhängigem Wesen bewußt. Er beginnt an den Banden der Autorität zu rütteln und zu zerren und unternimmt die ersten Ausbruchsversuche. Normalerweise findet in den Jahren zwischen zehn und fünfzehn auch die innere Loslösung vom Elternhaus statt. Ohne daß die Zuneigung wesentlich nachließe, wirft der heranwachsende Mensch die jahrelang geübten Verhaltensmuster teilweise ab: er gehorcht nicht mehr so bedingungslos, er verliert die Ohnmachts­gefühle gegenüber der elterlichen Gewalt, er wird im Handeln und Denken selbständiger, und ein Gefühl für Verantwortung stellt sich ein. In diesem wie ein mechanisches Räderwerk sich abspu­lenden Prozeß wäre es normal und gesund, daß die psychische Loslösung von Eltern und Lehrern in einen Zustand innerer Frei­heit mündete, in der ein Mensch künftig der Welt und dem eige­nen Leben gegenübertritt. Unabhängig, produktiv, frei von behin­dernden Bindungen und offen für alles Neue. Jetzt beginnt für den erwachsen Gewordenen das Abenteuer des Lebens. Keiner Auto­rität mehr verpflichtet, aus freien Stücken seine künftige Existenz gestaltend, trifft er die Wahl seiner Freunde und entscheidet sich für einen Beruf. Gut, bei der ferneren Ausbildung, sei es Lehre oder Studium, muß er sich eine gewisse Autorität gefallen lassen, wenn er etwas lernen will – aber er sollte nunmehr dieser Autori­tät neutral und unabhängig kritisch gegenüberstehen.

Wäre und sollte. Wenn da dieser historische, unverstandene Bruch nicht wäre. Was ich oben schrieb, liest sich plausibel und klingt nach Realität. In Wirklichkeit verläuft die Geschichte im Einzelfall weniger glatt. Da gibt es infolge elterlichen Fehlverhal­tens bei der Aufzucht ihrer Kinder in jungen Menschen die unge­stillte Sehnsucht nach Elternliebe, die in vielen Fällen lebenslang anhält und sich im Verhalten des Betroffenen in seinen Partner­schaften manifestiert und fortpflanzt. Das heißt, bereits die Abtrennung von den Bindungen der Kindheit erfolgt nie konsequent, wie wir dies zum Beispiel bei Tieren kennen. Wenn unsere Katze Junge auf die Welt bringt, zieht sie sie aufopfernd und mit aller Hingabe groß. Aber dann, eines Tages, ist Schluß, und sie faucht sie an, wenn sie sich ihr nähern. Die Kleinen müssen fortan auf eigenen Pfoten durchs Leben gehen. Die Mutter hat das Ihre ge­tan, und beide Parteien sind künftig frei in ihrem Tun. Dieses Muster auf den Menschen zu übertragen ist undenkbar. Die Werte unserer Gesellschaft lassen den Gedanken einer konse­quenten Schnittstelle zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus nicht zu. Die Grenzen sind fließend und verschwommen. Das führt so weit, daß unter dem Diktat des Familienzusammenhalts Kinder Kinder bleiben, solange die Eltern leben. Und die Kinder sich endlos und vielfach unbewußt nach wie vor an elterlicher Au­torität orientieren.

Und wem es gelingt, sich vom Elternhaus und den elterlichen Vorbildern und Einflüssen abzunabeln, dem widerfährt der andere Schock. Es ist der Schock des Einsamseins, der Isolation. Denn mit der Phase der Übernahme eigener Verantwortung für sich und sein Schicksal überfällt den jungen Menschen, ohne daß es ihm klar bewußt würde, ein schreckliches Gefühl der Ohnmacht dem Leben gegenüber. Daß dieses Gefühl auftreten kann, wurde be­reits durch die Erziehung vprbereitet. Der Nährboden von Exi­stenzängsten befindet sich innerhalb des Weltbildes, den die indi­viduelle Erziehung vermittelt. Wie viele Mädchen und Jungen gibt es, die voller Befangenheit und verzagter Bereitschaft, sich unterzuordnen, in die Berufsausbildung gehen. Weil Vater und Mutter ihnen jahrelang eingetrichtert haben, daß Lehrjahre keine Herrenjahre sind und man sich anzupassen hat. Jeder kennt die Forderung: Du mußt dich verhalten wie die anderen, damit du nicht unangenehm auffällst. Sei konform, fall nicht aus der Rolle, laß dich nicht bei einer aufsässigen Geisteshaltung erwischen, be­halt gut für dich, was du denkst, wenn du anderer Meinung bist. Und was es an Einschüchterungen mehr gibt. Wohlgemeint von lebenslang angepaßten, stromlinienförmig denkenden Eltern, die dem Nachwuchs das Beste wünschen, damit das Kind bloß nicht aneckt und an den Rand gedrängt wird.

Angesichts derartiger Vorbereitungen aufs Leben ist es kein Wunder, wenn die so umsorgte und scheinbar wohl umhegte kindliche Psyche keinen Grund sieht, ihr Selbst zu voller Autono­mie zu verwirklichen. Lieber bleiben sie hinter dein Rockzipfel der Mutter oder dem Rücken des Vaters verborgen, als sich mit eige­nen Regeln den geltenden Normen zu widersetzen. Die heran­wachsenden Kinder sind alle so hoffnungslos normal. Genormt. Und die größte Angst eines jungen Menschen ist, nicht normal zu sein. Für absonderlich zu gelten. Ein Außenseiter zu sein. Und diese Furcht, die alles Originelle, Individuelle, Eigenständige aus­merzt und jede Initiative, anders als die Masse zu sein, untergräbt, ist eine der kollektiven Reaktionen des Menschen unserer Zeit am Ende seiner Pubertät. Da ist erstens die Weigerung, sich vollstän­dig von den Eltern und Lehrern und Vorbildern der Kindheit ab­zunabeln, und zweitens der Drang, sich anderwärts so rasch wie möglich zu binden, damit ja keine Lücke zwischen dem Zustand der Bindungen der Kindheit und den neuen Engagements des Er­wachsenen entstehe. «Neue Engagements» ist höflich und unver­bindlich ausgedrückt. Es handelt sich in Wahrheit um Fallen, die den Menschen schnellstmöglich die kaum gewonnene neue Frei­heit rauben. Egal, wo der orientierungssuchende Jugendliche hin­fort seine geistige Heimat findet, es wird eine Heimstatt sein, die ihn bindet, weil sie ihm Sicherheit gibt. Entlassen aus der Gebor­genheit der Kindheit und auf eigenen emotionalen Beinen nicht gehfähig, sieht sich der Mensch eilends nach Krücken um. Und diese gibt es im Angebot der Überzeugungen in reicher Auswahl. Wir verzichten lieber auf Freiheit für ein bißchen meistenteils illusorischer Sicherheit. Wir haben die Kindheit scheinbar hinter uns gelassen und sind ins Leben hinausgetreten – um uns von irgendeiner Ideologie, einem Ideal, einer Idee, einer Glaubensrich­tung cinfangen zu lassen. Und von dem Moment an, da ich mir eine endgültige Meinung über mich, das Leben und meine Chan­cen darin gebildet habe, habe ich zugleich aufgehört, ein freier, autonomer Mensch zu sein. Es hat sich der historische Bruch der Steinzeitmenschen in mir nachvollzogen. Ich habe die Bewegung der Evolution im privaten Bereich mitgespielt.

Sie können einwenden, wenn das so ist, dann dürfte die Um­kehrbewegung auf halbem Wege zur Autonomie genetisch veran­kert sein. Das ist sie Gott sei Dank nicht. Es handelt sich um eine intellektuelle Überlegung und die dieser Überlegung folgende Entscheidung. Der Schritt in neue Bindungen, ins Untertanentum, in die Abhängigkeit und die Unterwerfung ist ein Schritt, der mit nüchternem Kalkül vom Verstand herbeigeführt wird. Uns fällt dieser Umstand nicht auf, weil er vollkommen zum sozialen Bild unserer Gesellschaft gehört. Man muß doch einen Glauben haben, irgendeine Überzeugung braucht der Mensch, man muß wissen, wohin man gehört und was noch alles an halbwahrem Un­fug verzapft wird. Weshalb muß man denn das? Doch nur, weil keiner vollkommen auf eigenen Beinen stehen will. Lieber verläßt man sich auf andere. Daß wir immerzu gehorchen müssen, ist doch gerade die Konsequenz aus dieser Geisteshaltung. Sie wurde uns über viele tausend Generationen eingeprägt. Für uns Normal­bürger ist es undenkbar, daß der Mensch keine Obrigkeit braucht. Nach allem, was wir gelernt und erfahren haben, ist Autorität un­erläßlich, -um uns vor allgemeiner Anarchie zu schützen. Dies, liebe Leserin, lieber Leser, ist ein signifikantes Merkmal der eige­nen Unfreiheit. Weil wir selber niemals drückend spüren, wie an­dere über unser Schicksal befinden.

Jeder Mensch in unserer Zivilisation schleppt sein Leben lang die Last seiner Kindheit mit sich herum. Die wirklichen Werte, die beglückenden kindlichen Eigenschaften sind ihm verlorengegan­gen. Das, was er hatte bewahren sollen, ist ihm genommen wor­den, und das, was er besser bald hätte vergessen sollen, trägt er bis zum Lebensende mit. Beobachten Sie sich einmal kritisch auf fol­gende Frage hin: Wie sehr gleichen Sie heute noch in Ihren Reaktionen und Lebensäußerungen dem kleinen Mädchen, dem Buben von einst? Und in welchem Umfang verwirklichen Sie in Ihrem Alltagsverhalten Charaktereigenschaften der Eltern – insbeson­dere solche, die Ihnen eigentlich schon verhaßt waren, als sie vom Vater oder von der Mutter demonstriert wurden? Bei ehrlicher vorurteilsloser Selbstbetrachtung wird Ihnen das eine oder andere auffallen. Und damit hätten Sie höchstens die Spitze des Eisberges entdeckt. Im Grunde wiederholen wir über Jahrhunderte hinweg ein Muster, das nur an der Peripherie sich den Gegebenheiten des neueren Zeitalters anpaßt. Im Reich der späten Teutonen und Kimbern läuft immer noch Hella, Freya, Ingo oder Ingraban herum. Die uns überlieferte Mentalität ist sich – leider – weitge­hend gleich geblieben.

Erwachsen werden, reif sein, bedeutet, mit den Prägungen der Kindheit Schluß zu machen. Wenn wir die Wahrheit, die Realität über unsere Position in der Welt herausfinden wollen, dann müs­sen wir alles Wissen, alle Information und alle Erfahrung unseres Gedächtnisspeichers beiseite lassen und die Dinge und Ereignisse direkt, unmittelbar anschauen. Ohne Einschaltung dieses endlo­sen, reflexartigen Vergleichsvorgangs. Wir leben tatsächlich vom Vergleich. Wir sehen einer Rose nicht deshalb an, daß sie eine Rose ist, weil wir das unmittelbar erleben – wir erkennen eine Rose wieder, weil wir im Gedächtnis Bilder von Rosen gespeichert haben, Wissen über eine Blume. Und im Vergleich, der uns zu­gleich Sicherheit, Gewißheit liefert, begegnen wir dann dem Ver­trauten, ohne es wirklich zu sehen. Nur wenn wir dieses Wissen über die Dinge beim Wahrnehmungsvorgang beiseite lassen, er­schließt sich uns der spontane Bereich des eigenen Gehirns. Darum sind diese <Künstler-Übungen> so bedeutsam. In der direk­ten Betrachtung von Konturen, Schattierungen, Farbtönen, Pro­portionen, Zwischenräumen eröffnen sich uns der Reichtum und das schöpferische Energiepotential unserer kreativen Gehirnbe-reiche. Bereiche, in denen es keine Beziehung zu Zeit, zu Gestern, Heute und Morgen gibt, keinen Vergleich, einzig das unmittelbare, das direkte Sehen. Betrachten Sie einmal die Rose: Verfol­gen Sie die Linien ihrer eingerollten Blattränder, bemerken Sie, wie die Blüte aufgebaut ist, in sich verschachtelt, wo Schatten und Licht auf der Blüte liegen, nehmen Sie ihren Duft wahr, als ob Sie noch nie eine Rose erlebt hätten. Berühren Sie sie, tasten Sie die Stile und Dornen ab, die Knospe der künftigen Frucht an der Basis der Blüte. Schauen Sie hin, riechen Sie, fühlen Sie, wie Sie noch die zuvor wahrgenommen haben. In dieser mühelosen, unkon-zentrierten Intensität öffnen sich zwangsläufig Ihre schöpferi­schen Gehirnbereiche und das andere, das Wissen, das schweigt.

Und lassen Sie es sich ein Anliegen sein, die Art zu schauen auch im Alltag immer stärker einzusetzen. Schließlich, das sei hier ganz, ganz klar herausgestellt, schließlich besteht Ihre Welt nicht aus Gegenständen und Namen dafür. Das sind Ideen über die Welt. Die Welt selbst besteht aus Zwischenräumen, aus Raum, aus dem Feld und den Erscheinungen, die daraus hervorgehen. Aus Linien, Flächen, Strukturen, Mustern und sich gegenseitig beeinflussenden Zusammenhängen. Schauen Sie die Dinge künf­tig mit anderen Augen an. Mit den Augen des Künstlers. Denn es ist eine Kunst, reif zu sein. Auf diese Weise Ihren Geliebten, die Liebste ansehen, wird Ihnen ein vollkommen neues Gefühl schen­ken. Es wird Liebe sein, aber nicht die vom Denken abgeleitete, die gar keine ist. Probieren Sie es aus.

 

 

 

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