Reife – der Schlüssel zum Glück Kapitel 12

Der abgewertete Körper

Der Mensch leidet unter zwei verschiedenen Komplexen von Problemen: den psychischen, wie Depression, Mutlosigkeit, Verzweiflung, Schmerz, Vereinsamung, Da­seinsangst und weiteren, und den realen: Krankheit, Geldmangel, kriselnde Partnerschaften, Karriere- knicks, Steuerprüfungen, Na­turereignissen, Arbeitslosigkeit, Behördenschikanen, Suchtpro­blemen und tausend anderen. Könnten wir unsere psychischen Probleme lösen – dann wären wir den materiellen, konkreten durchaus gewachsen. Mit Hilfe der neu erschlossenen Fähigkeit zum spontanen Verstehen eines Sachverhaltes wären wir zu den richtigen Schritten imstande. Selbst chronische körperliche Krank­heit hat ihren Ausgang vielfach in der Psyche. Würde unser Gehirn vollständig funktionieren, dann kämen interne Mißverständnisse wie psychosomatische Störungen nicht vor. Denn dann fände zwi­schen dem Immunsystem und den spontanen Funktionen ein Aus­tausch statt, der intellektuell und unbewußt herbeigeführte Blockaden eliminieren würde. Und wer inmitten einer verfransten Le­benssituation mit einer massiven Ansammlung ungelöster, realer Existenzprobleme steckt, ist in der Lage, mit Hilfe seiner neu ent­deckten spontanen Produktivität die richtigen Schritte zur mate­riellen Genesung zu unternehmen, vorausgesetzt, er hat zuvor seinen Seelenmüll ausgeräumt. Natürlich stellen sich selbst dann über Nacht keine Wunder ein. Jedoch beginnt ein Prozeß natür­licher Selbstorganisation zum Besseren bin. Und dieser benötigt logischerweise einen Teil der Zeit, die der Betroffene dazu verwandt hatte, den Karren in den Dreck zu fahren.

Es ist also ungeheuer wichtig für ein glücklicheres Dasein, daß wir die Bedeutung unseres Wahrnehmungsapparates und seine Art wahrzunehmen, in einem neuen, realistischeren Licht erken­nen. Dem Verständnis widersetzt sich alles Wissen unserer Erzie­hung. Es ist die unbewältigte Erkenntnis der Endlichkeit des menschlichen Organismus, die alle Welt zu Idealen verleitet, so daß sie in sich eine unvergängliche Wesenheit konstruieren, die dem Körper überlegen ist. Natürlich besitzen wir ein unvergäng­liches Element. Es geht von den spontanen Funktionen unseres Gehirns aus. Dort befindet sich die Öffnung zum Nicht-materiel­len. Sofern der Mensch Geist besitzt, ist dieser Geist kein Produkt erfahrener Erinnerung oder des Kombinationsvermögens – er äu­ßert sich kreativ, spontan und gedächtnisunabhängig. Lassen Sie es mich vorwegnehmen (mit diesem Komplex befasse ich mich gegen Ende des Buches), daß jedermann das tatsächlich Unver­gängliche an und in sich immer erlebt, es aber aus Gewohnheit und Desinformation ganz und gar nicht realisiert: Es ist sein Exi­stenzgefühl, sein Gefühl, ein lebendes Wesen zu sein an sich, das fortbestehen wird, was immer geschieht. Weil wir zwar Gefühle, unsere Auffassung von Gefühlen, grundsätzlich mit der Psyche koppeln und unlogischerweise dennoch vage registrieren, daß sie körperliche Merkmale, wie Herzklopfen, Kribbeln im Solarplexus, Zittern und noch mehr, als Begleiter haben, argwöhnen wir zu Recht, es könnte sich um Funktionen handeln, deren Fortbestand von der Unversehrtheit unseres Organismus abhangt. Wir trauen ihnen nicht vollkommen. Infolgedessen erachten wir das Basisge­fühl unseres Vorhandenseins für ebenso ungesichert, wie die son­stigen Eintagsfliegen unserer Gefühlswelt. Die Verwirrung wird ersichtlich, sobald wir uns mit der Entflechtung dieses Kaleido­skops im Kopf befassen. Da konkurrieren Bestrebungen, Glücks- ­und Lustgefühle aufrechtzuerhalten, mit solchen, die schnellstens weg wollen von Kummer und Schmerz. Das kann nicht gutgehcn. Auf alle Fälle mischen in jeder Phase Ich-Gefühle mit: ich will, ich habe, ich möchte, ich werde, ich muß, ich, ich, ich.

Im spontanen Gehirnbereich existiert auch die Gewißheit des Fortbestandes. Sie drückt sich freilich nicht verbal aus, sie teilt sich noch nicht mal unseren Gedanken mit. Es strömt ein starkes Ge­fühl von Zuversicht und echter Sicherheit hervor, sobald die intel­lektuellen Ich-Funktionen unter unserer Kunst der Wahrneh­mung eine Weile schweigen. Ich wünsche Ihnen dieses Gefühl ein einziges Mal, und sei es nur für den Bruchteil einer Sekunde. Denn wer es einmal erfahren hat, für den hören vom Moment an die Fragen nach Zeit und Unendlichkeit auf. Weil er es gespürt hat. Sie haben einen Moment lang die Wahrheit berührt. Das ist keineswegs sentimental, es ist ein reales Gefühl, so deutlich wie die Berührung Ihrer Hand mit der sonncnheißen Oberfläche eines Granitblocks. Beweisen kann ich Ihnen die Wirklichkeit des be­schriebenen Gefühls nicht, und ich will auch kein weiteres Wort darüber verlieren. Es stellt sich von selbst ein, wenn Ihre gewohn­ten Voreingenommenheiten und Prägungen schweigen. Dann ist eine Einsicht da, die Fragen nach Leben und Tod und Weiterleben nach dem Tod und Reinkarnation und Himmel und Hölle und Jüngstes Gericht und Gott überflüssig macht. Ein Gefühl, das eine Realität vermittelt, die unser Intellekt nicht kennt und ergo nicht formulieren kann. Es gibt nichts zu formulieren. Es wird gespürt. Fertig! Und wer sich aus Gründen einer verkorksten Erziehung damit nicht zufriedengibt, der findet eben seinen Platz in der Welt nicht. Er wird bis ans Ende seiner Tage nörgeln, forschen, suchen, rätseln und sich ängstigen. Und seine Sehnsucht wird niemals durch mehr als Worte gestillt.

Das Ich-Gefühl ist ein Produkt unserer Gehirnzellen. Das menschliche Gehirn bildet in seinem intellektuellen Bereich die Ich-Vorstellung als Gegenpol zum Organismus, weil es schon in der Kindheit Kenntnis vom Tod bekam, der ja zugleich sein, des Gehirns, eigenes Ende bedeutet. Durch die Überbetonung des Verstandes geht der Zugang zum kreativen Bereich, der die Ant­worten kennt, verloren. In unserem Oberstübchen weiß die Linke nicht, was die Rechte tut. Infolgedessen sieht sich der nach Ge­wißheiten verlangende Intellekt nach Hilfsmitteln zum ideellen Überleben um. Das ist das Motiv für seine Idee vom ewigen Ich.

Ich kenne keine Philosophie oder Religion, die den menschlichen Körper auch nur annähernd zu seinem Recht kommen läßt. Entwe­der wird er vollständig verteufelt, als Werkzeug der Sinnlichkeit oder Sünde, oder man läßt ihn kurzerhand beiseite oder veranlaßt den vom Denken erfundenen Betreiber des Organismus, ihn aller­lei quälendem, sinnlosem Unfug auszusetzen wie Kasteien, Fasten und albernen Übungen. Selbst liberale Philosophien meiden die Frage nach der echten Bedeutung des Leibes wie die Pest. Man ignoriert kurzerhand, was doch sowieso vergänglich ist. Und in genau dieser Einschätzung des Organismus liegt der größte Fehler unseres Weltbildes. An dieser Stelle müssen wir uns grundlegend neu orientieren und umdenken. Kein Mensch begreift, daß er außer seinem Körper nichts weiter besitzt! Unser Organismus, das sind wir\ Und was drinnen rumort und denkt und fühlt – das ist ebenso der Körper, nämlich der vom Denken ins Abseits gedrängte. Und das einzige Instrument des Lebens, des Erlebens und Wahrneh­mens verachten wir insgeheim. Weil uns über Tausende Genera­tionen hinweg diese falsche Vorstellung eingetrichtert wurde. Sie war im Mittelalter bereits das wirksamste Werkzeug in der Hand der Kirche, die Untertanen bei der Stange zu halten mit den Mitteln von Angst vor Hölle und Fegefeuer und der Entsagung leiblicher Genüsse (die diese armen Teufel sowieso nicht bekamen).

Der Mensch besitzt in seinem Existenzgefühl etwas Ewiges. Bloß sein Ich-Verständnis, sein Selbst, seine Psyche sind es nicht. Sie sind Produkte organischer Zell verbände, die mit uns eines Tages ins Grab oder Krematorium wandern. Aus, vorbei und auf ein neues. Sie brauchen nur den Zyklus der Natur zu betrachten. Was alljähr­lich über die Jahreszeiten hinweg von der Natur praktiziert wird, ist das Abbild menschlichen Lebens. Wir kommen, gedeihen, bauen ab und gehen dahin. Es wird in jeder menschlichen Existenz Herbst und Winter. Aber es wird der nächste Frühling gewiß kommen, und mit ihm bekommt das Urgefühl, ein Mensch zu sein, einen neuen, frischen, gesunden Organismus als Werkzeug des nächsten Som­mers.  Glauben Sie dies bitte nicht. Sollten sie es akzeptiercn, dann fühlen Sie es einfach. Fühlen Sie. In sich, dort, wo Spontaneität und Kreativität und das Schöpferische daheim sind. Trotz kollektiver Vernachlässigung des Körpers regen sich in unserer Zeit aufgeklärte Stimmen, die eine Änderung unserer Haltung fordern. Wir haben die Wochenzeitung Die Zeit abon­niert, und unlängst las ich in einer Buchbesprechung ein Zitat von Adolf Muschg, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte, weil es zur Sache spricht und erleichtert, was ich Ihnen in der Folge zu sagen habe:

«… mit dem Imperativ, daß jede des Aufhebens würdige Erfah­rung am Leitfaden des Leibes zu machen sei. Die Begründung dafür ist schlicht, sie kehrt nur unsere Welt um. Denn sie an­erkennt, daß die physische Organisation des Lebens jeder geistigen oder sozialen so kategorisch überlegen ist wie die Mathematik dem kleinen Einmaleins. Pure Gotteslästerung in Zeiten, welche den Primat des Geistes und seiner Ideen kultivie­ren – und sie sind ja identisch mit der Geschichte der westlichen Zivilisation. Ketzerei bis heute, wo gerade die neuen Körper­kulte den Beweis dafür liefern, was am Körper versäumt wurde. Die Hirnforschung läßt uns ahnen, was wir an unseren neuro-physiologischen Netzwerken haben: eine Trägerschaft des Le­bens, die den Geist (ihr angeblich nobelstes Produkt) buchstäb­lich spielend überholt.»

Wir müssen Abschied nehmen von unserem Chauffeur-und-sein-Auto-Dcnken, in dem unser Geist der überlegene Fahrer und un­ser Körper das unbedarfte Vehikel ist. Im Gegenteil: Wer hinter die Schliche seines Denkens gelangt, wird bald feststellen, wer in diesem Hause der Dumme ist. Die vegetative Intelligenz des orga­nischen Nervensystems inklusive der spontan-kreativen Gehirn­bereiche sind dem Intellekt haushoch überlegen. Er, der Verstand, ist das lahmste, untauglichste, auch für das Lebensglück hinder­lichste Werkzeug und gehört endlich, endlich auf den Platz ver­wiesen, der ihm gebührt: in die zweite Reihe!

Um Ihnen Selbstversuche im Freistil zu ersparen, schlage ich eine zweiteilige Übung vor. Verwenden Sie, wie gehabt, pro Stunde eine Minute darauf;

Leben Sie sich stärker als je zuvor in Ihren Körper hinein. Lassen Sie sein Gefühl zu existieren, ganz stark in den Vordergrund tre­ten. Während Sie Ihr Umfeld wahrnehmen, machen Sie sich bitte klar, daß es Ihre Augen, Ihre Ohren, die Nerven Ihrer Tast­organe und Ihres Geschmacks- und Geruchssinnes sind, die am Leben teilnehmen. Und verbinden Sie diese Übung mit der be­wußten Betrachtung Ihres inneren Existenzgefühls, das der Emp­fänger Ihrer Wahrnehmungen ist. Dieses Gefühl stattzufinden, ist das Merkmal aller Dinge. Das der Planeten ebenso wie das der Schwalbe am Himmel oder der Ameise draußen vor der Tür. Der Grashalm spürt es auf seine Weise und auch der Kaktus auf Ihrem Fenstersims. Alles lebt und fühlt, daß es vorhanden ist. Leben Sie sich wachen und klaren Sinnes in dieses seither so vernachlässigte Empfinden ein. Selbst unter der Last Ihrer Sorgen dürfen Sie auf diese Übung nicht verzichten. Sie ist ein Baustein zwischen Lehrzeit und Meisterschaft. Wenn Ihnen der Zugang zu diesem Gewahrsein gelingt, werden Sie un­vermittelt feststellen, daß die Tatsache Ihrer Lebendigkeit millionenmal wichtiger und bedeutsamer ist als alle Ihre Nöte.

 

 

 

 

 

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Eine Antwort zu Reife – der Schlüssel zum Glück Kapitel 12

  1. Matthias sagt:

    Vielen Dank für diesen Text, Frau Fischer!
    Er kommt zur rechten Zeit.
    Ich habe ja die Bücher Ihres Mannes sozusagen von hinten nach vorn gelesen, also mit dem neuesten begonnen und mich dann zu den früheren vorgearbeitet. Dort wie auch in seinen Beiträgen hier sprach er sehr oft vom Gehirn. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass er mal ausführlicher auf den Körper einging, von dem das Gehirn ja nur ein Teil ist.
    Umso beruhigender nun, diesen Text zu lesen.
    Ich hoffe, Theo Fischer wird auf einer Nicht-Wolke im Tao-Himmel sitzend milde lächeln, wenn ich die am Ende des Kapitels vorgeschlagene Übung für zu schwierig für Einsteiger halte. Die meisten Menschen sind so weit „außer sich“, dass ihnen das schwer fallen, wenn nicht gar unmöglich sein dürfte. Nicht umsonst beginnen ja die meisten Meditationspraktiken mit der Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Atmung. Meistens werden wir uns unseres Körpers erst wieder bewusst, wenn er nicht mehr so funktioniert wie gewohnt, z.B. nach einem Unfall. Man muss sich aber nicht erst verletzen, um das zu erreichen. Es gibt viele kleine Übungen, um sich seines Körpers wieder bewusster zu werden. Dazu gehört, Dinge, die wir weitestgehend automatisiert erledigen (gehen, Schuhe zubinden, Zähne putzen, mit Messer und Gabel essen) auch mal anders erledigen (in „Zeitlupe“ gehen, mit Links statt mit Rechts ausführen, die Schleife anders herum binden).
    Auf dieser Basis fällt die von Theo Fischer vorgeschlagene Übung (die ich im Übrigen für sehr wertvoll halte) sicher leichter.

    Herzliche Grüße,
    Matthias

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