Reife – der Schlüssel zum Glück Kapitel 13

Kummerkasten Gehirn

Das Gehirn des Menschen unserer Gesellschaft gleicht einem Kummerkasten. Es ist voller Ressentiments, voller Gier nach Leben und Erfüllung und voller unbefriedigter Wünsche. Selbst die Fähigkeit, Liebe zu empfangen, ist verküm­mert, weil keiner von uns – oder fast keiner – soviel Zugang zu den eigenen Gefühlen hat, daß er selber uneingeschränkt lieben könnte. Infolgedessen liegt die Vorstellung, andere könnten uns auf andere als die selbst empfundene Weise mit Zuneigung entge­genkommen, außerhalb unseres Begriffsvermögens. Wir ringen und kämpfen um die kleinen Kästchen Glück, die sich in die karge Rinne unseres Ich-Gefühls mehr durch Zufall als durch gezielte Maßnahmen verirren. Spontane Glücksmomente sind selten, und wenn sie unvermutet auftreten, zerstören wir sie durch andres­sierte Reflexe, sie festhalten zu müssen. Es gibt übrigens nichts, was spontanes Glück weniger verträgt als erfüllte Wünsche. Denn die Art von Wünschen, die unser Denken mit sich herumträgt, ist ideell – es handelt sich um Ideen ohne Wirklichkeit. Die Bilder vom künftigen Glück errungener Ziele sind Elemente unserer Vorstellungswelt. Sie haben nur theoretischen Bezug zum wirk­lichen Leben. Darum kann unser Sinn mit eingetretenen Ereignis­sen zunächst nichts anfangen. Im Gegenteil, es steigen Gefühle der Enttäuschung in uns auf, die einzig deswegen nicht in sofor­tige Verzweiflung umschlagen, weil wir uns das niemals eingeste­hen dürfen: Wir vermögen diesen Sprung von !dee zu Realität innerlich nicht nachzuvollziehen. Darum wandelt unser Denken eingetretene beglückende Ereignisse schnellstens in neue Ideen um und setzt den Betrieb mit Hilfe ergänzender Ziele und neuer Wünsche fort.

Unerfüllte Wünsche sind schmerzhaft und frustrierend, und unbefriedigte Gier tut weh. Gewiß hört ein Mensch, der im Geist spontanen Tätigseins lebt, nicht mit Wünschen auf. Doch diese Wünsche sind frei von Gier- ihr Wesen ist Sehnsucht, und Sehn­sucht schmerzt nicht, sie ist bittersüß auf eine kreative, leise be­glückende Weise. Die bewußte, gezielte Umstellung Ihres Ge­mütszustandes von Gier und Verlangen nach Erfüllung hin zu spontaner Sehnsucht gehört mit zur Lektion dieses Buches. Vor­aussetzung für die neue Geisteshaltung ist, daß Sie sich über Ihre Unfähigkeit zum Glücklichsein klarwerden und sich diese ehrlich eingestchen. Beobachten Sie sich, wenn wieder mal ein kleiner oder großer Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Betrachten Sie bei dieser Gelegenheit vorurteilslos und gegen Ihre gewohnten Verteidigungsreflcxc den tatsächlichen Vorgang: Es wird die Weh­mut des Abschiedes von einer Illusion sein. Der Illusion, daß Sie das Erreichte zufriedenstellt. Die Erkenntnis, daß dies genau nicht der Fall ist, sondern zu weiteren Forderungen Ihres Intellekts führt, ist der Schlüssel, der Sie in der Folge aufgeschlossen macht für die Schönheit der Sehnsucht, die aus sich heraus lebt und be­friedigt ohne die endlose Kettenreaktion immer sich neu gebären­den Verlangens. Seien Sie kritisch und absolut ehrlich. Verleug­nen Sie sich selbst gegenüber nicht das Manko ihrer Fähigkeit zum Glück nach eingetretenem Erfolg. Gut, es mag sich Freude, Triumph einstellen – doch der Genuß ist kurz, und schnell sinnt Ihr Geist auf neue Forderungen, die Sie weiter umtreiben und Sie im Zustand dieser beständigen Anspannung halten, die zu der ver­trauten Karussellbewegung Ihres Denkens führt.

Unabhängig von Ideen und Idealen zu leben, macht uns nicht lebensuntüchtig. Nur scheinbar verliert ein Mensch durch Verlas­sen seiner Ideenwelt die Kriterien zum Handeln. Das wirkliche Leben ist nicht sentimental, aber es ist auch nicht hart und erbar­mungslos, wie viele Theoretiker behaupten. In gewissen Kreisen interpretiert man Darwins Lehre ja auf recht simple Weise: Es überlebt und gedeiht der Stärkere. Natur ist gewalttätig, und nur wer mit Gewalt ans Licht drängt, hat Garantien für ein glückliches Leben. Die Interpretation ist eigennützig, dumm und grund­falsch. Wer die Natur sorgfältig beobachtet, wird zu einer anderen Erkenntnis kommen: Nicht der Stärkste, der Rigideste wird über­leben – es sind die Organismen, die am besten mit ihrer Umwelt harmonieren, denen es gelingt! Der Erfolgreiche braucht Darwins fehlinterpretierte Thesen, um seine Ellenbogentaktik und Rück­sichtslosigkeit als naturgegeben zu rechtfertigen. Er nimmt für sich in Anspruch, er habe die Forderungen des Lebens begriffen und halte sich eben daran. Was die anderen, die Getretenen, Un­terdrückten, Ausgebeuteten mit den Scherben ihres kleinen Le­bens anfangen, ist denen da oben egal. Hauptsache, ihnen geht es prächtig. Dabei ist keiner der Super-Erfolg reichen, der Hyperrei­chen, der Übermächtigen besonders glücklich. Lesen Sie von Gruen «Der Wahnsinn der Normalität». Der Schweizer Psycho­loge beschreibt klipp und klar das Pathologische in der Psyche ex­trem mächtiger Männer und Frauen, ich selber bin bei meinen Seminaren schon Menschen dieser Art begegnet. Habe sie ken­nengelernt und ihren Gesprächen bei Tisch oder in Pausen ge­lauscht. Da war von Reisen die Rede, China, Argentinien oder die Kaffeepause in Boston. Der schnelle Kauf einer neuen Villa, eines Luxuswagens, Pläne, Ziele, Verantwortungen. Ich saß oder stand still daneben in meiner wirtschaftlichen Unbedarftheit und Be­deutungslosigkeit – und war kein bißchen neidisch. Sie dauerten mich, denn ich wußte um ihre Probleme. Mir sind in den vergan­genen zehn Jahren einige Angebote gemacht worden, wie ich (bei 12-16 Stunden Arbeit pro Tag) sehr reich hätte werden können, und ich habe sie allesamt ohne eine Sekunde des Überlegens dan­kend abgelehnt. Lieber höre ich mir gelegentlich beim Abendbrot Gespräche über Macht und Reichtum an und vergleiche das Lu­xusleben lächelnd mit dem Leben in unserem alten Haus in den Vogesen, wo ein Einkaufstrip nach Freiburg oder Basel (mit ein paar Mark oder Fränkli in der Tasche) mehr Erlebnisinhalt besitzt als deren ausschweifende Unternehmungen.

Es gehört zur Eigenart des intellektuellen Erlebnisgefühls, daß es ständig der Steige­rung bedarf, wenn die Reizschwelle überschritten werden soll. Insbesondere dieses Phänomen unserer Psyche gehört gründlich untersucht und die Selbstverständlichkeit dieses Suchtverhaltens (ja, Sucht ist es) in Frage gestellt.

Die Übung zum Schluß dieses Kapitels dient der Kunst des Auf­gebens. Benutzen Sie dazu unsere Minute:

Lassen Sie vor Ihrem geistigen Auge Ihre Wünsche Revue pas­sieren, die alten lang gehegten ebenso wie die aktuellen, die gro­ßen wie die kleinen. Und betrachten Sie sie. Und dann -dies ist sehr wichtig – rekapitulieren Sie aus der Erinnerung, was aus Wünschen geworden ist, die sich vor Wochen, Monaten oder Jahren erfüllt haben. Wie Sie heute dazu stehen, wie weit die Befriedigung gereicht hat. Von Ausnahmen abgesehen, die die Regel bestätigen – zum Beispiel eine Verlobung, Heirat oder die Geburt eines Kindes -, werden Sie mit einer gewissen Resigna­tion feststellen müssen, daß Ihnen von der einst erträumten Würze (selbst wenn’s große Träume waren) arg wenig übrig ge­blieben ist. Und nun ziehen Sie aus dieser Einsicht die vernünf­tige Konsequenz. Geben Sie alle Ihre Wünsche, die Ihnen als derzeit vorhanden in den Sinn kommen, auf. Entsagen Sie, und zwar absolut. Nicht als Abschied von der Erfüllung – nehmen Sie Abschied von den damit verbundenen Träumen. Im Aufgeben liegt eine große Befriedigung. Die Kunst, etwas zu beenden, ist gegenüber der Kunst des Beginnens die bedeutsamere für unser Gemüt, denn so wird Verlangen zu Sehnsucht. Lassen Sie freiwillig los – es entgeht Ihnen nichts. Wünsche entschweben las­sen heißt nicht, daß Sie hinfort nichts mehr bekommen, im Ge­genteil. Das neue Phänomen bei dieser Geisteshaltung ist der Umstand, dass sie unverlangte Erfüllung befriedigt, wenn sie eintritt! Sie ist real und kein Traum, der Sie leer läßt, wenn er wahr wird.

 

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