Kummerkasten Gehirn
Das Gehirn des Menschen unserer Gesellschaft gleicht einem Kummerkasten. Es ist voller Ressentiments, voller Gier nach Leben und Erfüllung und voller unbefriedigter Wünsche. Selbst die Fähigkeit, Liebe zu empfangen, ist verkümmert, weil keiner von uns – oder fast keiner – soviel Zugang zu den eigenen Gefühlen hat, daß er selber uneingeschränkt lieben könnte. Infolgedessen liegt die Vorstellung, andere könnten uns auf andere als die selbst empfundene Weise mit Zuneigung entgegenkommen, außerhalb unseres Begriffsvermögens. Wir ringen und kämpfen um die kleinen Kästchen Glück, die sich in die karge Rinne unseres Ich-Gefühls mehr durch Zufall als durch gezielte Maßnahmen verirren. Spontane Glücksmomente sind selten, und wenn sie unvermutet auftreten, zerstören wir sie durch andressierte Reflexe, sie festhalten zu müssen. Es gibt übrigens nichts, was spontanes Glück weniger verträgt als erfüllte Wünsche. Denn die Art von Wünschen, die unser Denken mit sich herumträgt, ist ideell – es handelt sich um Ideen ohne Wirklichkeit. Die Bilder vom künftigen Glück errungener Ziele sind Elemente unserer Vorstellungswelt. Sie haben nur theoretischen Bezug zum wirklichen Leben. Darum kann unser Sinn mit eingetretenen Ereignissen zunächst nichts anfangen. Im Gegenteil, es steigen Gefühle der Enttäuschung in uns auf, die einzig deswegen nicht in sofortige Verzweiflung umschlagen, weil wir uns das niemals eingestehen dürfen: Wir vermögen diesen Sprung von !dee zu Realität innerlich nicht nachzuvollziehen. Darum wandelt unser Denken eingetretene beglückende Ereignisse schnellstens in neue Ideen um und setzt den Betrieb mit Hilfe ergänzender Ziele und neuer Wünsche fort.
Unerfüllte Wünsche sind schmerzhaft und frustrierend, und unbefriedigte Gier tut weh. Gewiß hört ein Mensch, der im Geist spontanen Tätigseins lebt, nicht mit Wünschen auf. Doch diese Wünsche sind frei von Gier- ihr Wesen ist Sehnsucht, und Sehnsucht schmerzt nicht, sie ist bittersüß auf eine kreative, leise beglückende Weise. Die bewußte, gezielte Umstellung Ihres Gemütszustandes von Gier und Verlangen nach Erfüllung hin zu spontaner Sehnsucht gehört mit zur Lektion dieses Buches. Voraussetzung für die neue Geisteshaltung ist, daß Sie sich über Ihre Unfähigkeit zum Glücklichsein klarwerden und sich diese ehrlich eingestchen. Beobachten Sie sich, wenn wieder mal ein kleiner oder großer Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Betrachten Sie bei dieser Gelegenheit vorurteilslos und gegen Ihre gewohnten Verteidigungsreflcxc den tatsächlichen Vorgang: Es wird die Wehmut des Abschiedes von einer Illusion sein. Der Illusion, daß Sie das Erreichte zufriedenstellt. Die Erkenntnis, daß dies genau nicht der Fall ist, sondern zu weiteren Forderungen Ihres Intellekts führt, ist der Schlüssel, der Sie in der Folge aufgeschlossen macht für die Schönheit der Sehnsucht, die aus sich heraus lebt und befriedigt ohne die endlose Kettenreaktion immer sich neu gebärenden Verlangens. Seien Sie kritisch und absolut ehrlich. Verleugnen Sie sich selbst gegenüber nicht das Manko ihrer Fähigkeit zum Glück nach eingetretenem Erfolg. Gut, es mag sich Freude, Triumph einstellen – doch der Genuß ist kurz, und schnell sinnt Ihr Geist auf neue Forderungen, die Sie weiter umtreiben und Sie im Zustand dieser beständigen Anspannung halten, die zu der vertrauten Karussellbewegung Ihres Denkens führt.
Unabhängig von Ideen und Idealen zu leben, macht uns nicht lebensuntüchtig. Nur scheinbar verliert ein Mensch durch Verlassen seiner Ideenwelt die Kriterien zum Handeln. Das wirkliche Leben ist nicht sentimental, aber es ist auch nicht hart und erbarmungslos, wie viele Theoretiker behaupten. In gewissen Kreisen interpretiert man Darwins Lehre ja auf recht simple Weise: Es überlebt und gedeiht der Stärkere. Natur ist gewalttätig, und nur wer mit Gewalt ans Licht drängt, hat Garantien für ein glückliches Leben. Die Interpretation ist eigennützig, dumm und grundfalsch. Wer die Natur sorgfältig beobachtet, wird zu einer anderen Erkenntnis kommen: Nicht der Stärkste, der Rigideste wird überleben – es sind die Organismen, die am besten mit ihrer Umwelt harmonieren, denen es gelingt! Der Erfolgreiche braucht Darwins fehlinterpretierte Thesen, um seine Ellenbogentaktik und Rücksichtslosigkeit als naturgegeben zu rechtfertigen. Er nimmt für sich in Anspruch, er habe die Forderungen des Lebens begriffen und halte sich eben daran. Was die anderen, die Getretenen, Unterdrückten, Ausgebeuteten mit den Scherben ihres kleinen Lebens anfangen, ist denen da oben egal. Hauptsache, ihnen geht es prächtig. Dabei ist keiner der Super-Erfolg reichen, der Hyperreichen, der Übermächtigen besonders glücklich. Lesen Sie von Gruen «Der Wahnsinn der Normalität». Der Schweizer Psychologe beschreibt klipp und klar das Pathologische in der Psyche extrem mächtiger Männer und Frauen, ich selber bin bei meinen Seminaren schon Menschen dieser Art begegnet. Habe sie kennengelernt und ihren Gesprächen bei Tisch oder in Pausen gelauscht. Da war von Reisen die Rede, China, Argentinien oder die Kaffeepause in Boston. Der schnelle Kauf einer neuen Villa, eines Luxuswagens, Pläne, Ziele, Verantwortungen. Ich saß oder stand still daneben in meiner wirtschaftlichen Unbedarftheit und Bedeutungslosigkeit – und war kein bißchen neidisch. Sie dauerten mich, denn ich wußte um ihre Probleme. Mir sind in den vergangenen zehn Jahren einige Angebote gemacht worden, wie ich (bei 12-16 Stunden Arbeit pro Tag) sehr reich hätte werden können, und ich habe sie allesamt ohne eine Sekunde des Überlegens dankend abgelehnt. Lieber höre ich mir gelegentlich beim Abendbrot Gespräche über Macht und Reichtum an und vergleiche das Luxusleben lächelnd mit dem Leben in unserem alten Haus in den Vogesen, wo ein Einkaufstrip nach Freiburg oder Basel (mit ein paar Mark oder Fränkli in der Tasche) mehr Erlebnisinhalt besitzt als deren ausschweifende Unternehmungen.
Es gehört zur Eigenart des intellektuellen Erlebnisgefühls, daß es ständig der Steigerung bedarf, wenn die Reizschwelle überschritten werden soll. Insbesondere dieses Phänomen unserer Psyche gehört gründlich untersucht und die Selbstverständlichkeit dieses Suchtverhaltens (ja, Sucht ist es) in Frage gestellt.
Die Übung zum Schluß dieses Kapitels dient der Kunst des Aufgebens. Benutzen Sie dazu unsere Minute:
Lassen Sie vor Ihrem geistigen Auge Ihre Wünsche Revue passieren, die alten lang gehegten ebenso wie die aktuellen, die großen wie die kleinen. Und betrachten Sie sie. Und dann -dies ist sehr wichtig – rekapitulieren Sie aus der Erinnerung, was aus Wünschen geworden ist, die sich vor Wochen, Monaten oder Jahren erfüllt haben. Wie Sie heute dazu stehen, wie weit die Befriedigung gereicht hat. Von Ausnahmen abgesehen, die die Regel bestätigen – zum Beispiel eine Verlobung, Heirat oder die Geburt eines Kindes -, werden Sie mit einer gewissen Resignation feststellen müssen, daß Ihnen von der einst erträumten Würze (selbst wenn’s große Träume waren) arg wenig übrig geblieben ist. Und nun ziehen Sie aus dieser Einsicht die vernünftige Konsequenz. Geben Sie alle Ihre Wünsche, die Ihnen als derzeit vorhanden in den Sinn kommen, auf. Entsagen Sie, und zwar absolut. Nicht als Abschied von der Erfüllung – nehmen Sie Abschied von den damit verbundenen Träumen. Im Aufgeben liegt eine große Befriedigung. Die Kunst, etwas zu beenden, ist gegenüber der Kunst des Beginnens die bedeutsamere für unser Gemüt, denn so wird Verlangen zu Sehnsucht. Lassen Sie freiwillig los – es entgeht Ihnen nichts. Wünsche entschweben lassen heißt nicht, daß Sie hinfort nichts mehr bekommen, im Gegenteil. Das neue Phänomen bei dieser Geisteshaltung ist der Umstand, dass sie unverlangte Erfüllung befriedigt, wenn sie eintritt! Sie ist real und kein Traum, der Sie leer läßt, wenn er wahr wird.