Reife – der Schlüssel zum Glück Kapitel 14

Integration

Bedeutende Psychologen, unter ihnen Erich Fromm, sagen einmütig, das menschliche Leben bleibt unfrei, fremdbestimmt und unproduktiv, wenn es uns nicht gelingt, in unserer Beziehung zur Welt eine Integration herzustellen. Die Philosophien des Ostens, die zugleich deren Psychologie sind, verstehen unter Integration etwas anderes als die Denker der westlichen Welt. Im Osten ist Integration mit allerlei spirituellen Elementen vernetzt, und unter Freiheit wird dort ein anderes Phänomen angesprochen als bei uns. In unseren Breiten hält man allgemein Integration für Anpassung. Ein Schüler ist in die Klasse integriert, wenn er nicht mehr unangenehm auffällt, ein Werktätiger in seinen Betrieb, wenn er sich reibungslos in die Gemeinschaft der Arbeitskollegen und die Normen der Direktion einfügt. Und in die Gesellschaft integriert ist jeder, der sich nach außen an ihre Spielregeln hält. Aber das ist im psychologischen Sinn keine Integration. Es ist das Gegenteil von ihr. Mit unserem Alltagsbegriff Integration wird die Notwendigkeit der Anpassung und Unterordnung, des Gehorsams und der Zustimmung zur herrschenden Norm beschrieben. Die Integration, von der ich in diesem Kapitel rede, ist absolut anders.
Sie ist ein menschlicher Geisteszustand, der keine Spuren des einstigen evolutionären Bruches mehr aufweist. Der Prozeß des heutigen Einzelmenschen zur Bildung seines Selbst führt zur Entfremdung von seinen Gefühlen – das hatten wir bereits. Und er führt zur Entfremdung von der Welt. Wenn Sie die Welt außerhalb Ihrer Hautoberfläche erleben, dann widerfährt Ihnen die Begegnung mit etwas ewig Fremdem. Integration wäre ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen Ihnen und Ihrer Welt
Dazu müßten Sie Ihren Widerstand gegen alles, was nicht Sie sind, aufgeben. Was insofern schwierig ist, als Sie diesen Widerstand nicht bemerken, weil er Ihnen beinahe angeboren ist. Von den frühesten Lebenstagen an sind Sie darauf abgerichtet wor¬den, sich als getrennt von Welt und Leben zu erkennen und zu definieren. Der geistige Überbau unserer Ich-Vorstellung ist das Resultat dieser Einflüsse. Kein Kind würde von sich aus auf die Idee kommen, die Außenwelt und es selbst seien zwei Paar Stiefel. Es würde seine Erlebnisse erfahren und diese auch in sein einheitliches, ungespaltenes Weltbild mit einbeziehen. Anstelle der ursprünglich fühlbaren Einheit des Menschen mit der Welt hat das Denken das isolierte Selbst konstruiert. Die Idee vom individuellen Ich ist allmählich gewachsen und besitzt damit, wo es die Autonomie, Unabhängigkeit und Mobilität des Organismus betrifft, seine Berechtigung.
Weil sich Plausibles – die Mobilität des Organismus und seine Entscheidungsfähigkeit — mit dem Erfundenen zu einer einleuch¬tenden Mischung verbunden hat, findet heute kein Mensch mehr heraus, wie die Dinge in seinem Inneren wirklich beschaffen sind. Nun haben wir im Laufe einiger Übungen versucht, gewisse Irrtümer über unsere Person besser zu erkennen. Mit Ihrer zunehmenden Fähigkeit, anstelle von Begriffen und Wortgebilden die Realität der Strukturen, Proportionen und Konturen bis ins Detail liebevoll wahrzunehmen, gewinnt hoffentlich noch eine Ahnung mehr Gewicht: Sie brauchen eigentlich zum Erleben des Lebens Ihre Ich-Vorstellung gar nicht! Direkt im vitalen Strom der Sinneserfahrung kann die innere Persönlichkeit mit ihrem ewigen «Etwaswollen» und ihren konstruktionsbedingten Konflikten und Sorgen zu Hause bleiben. Während der Minuten einer intensiven Wahrnehmungsübung ohne das Ich haben Sie die Schönheit unmittelbaren Erlebens kennengelernt. Ihr Organismus – das sind Sie – mit seinen Neuronennetzen und der vegetativen Intelligenz eines kaum ausgelasteten Gehirns kann ausgezeichnet ohne das denkend kultivierte Charakterbild auskommen. Und Sie werden mich jetzt fragen: Ja, bitte, wie wird man denn seinen Charakter oder das Selbst los? Wie wird man selbst-los?
Nun, wer ist es, der die Frage stellt? Man? Man wird los? Dieses <man>, das fragt, will sich doch selbst loswerden. Was natür¬lich auf diese Art nicht geht. Wenn Sie zu verstehen beginnen, daß das, was Sie meinen loswerden zu sollen, bloß ein Denkkonstrukt ist, dann reicht es doch völlig, daß Sie von nun an direkt das Leben wahrnehmen. Als Folge davon bleibt das Ich-Denken aus dem Spiel. Es setzt doch immer dann ein, wenn Sie den altvertrauten Standpunkt einnehmen, der Sie den Dingen und Vorgängen, die Ihre Sinne erleben, als isoliertes Wesen gegenüber¬stellt. Es bedarf keiner Eingriffe, nichts muß psychotherapeu¬tisch herausoperiert werden. Es fällt einfach kurzerhand weg, wenn der Mensch wirklich begreift, daß es eine andere, direktere Art von Wahrnehmung gibt: die Dinge sehen und erleben, wie sie jetzt sind. Ohne den begleitenden Vergleich, wie sie gestern waren und wie Sie sie gerne anders hatten und was Sie gerne täten, damit sie anders sind. Die letztere Haltung dem Leben gegenüber ist die Position einer konditionierten Psyche. Einer Psyche, die aus den bewußten und unbewußten Erinnerungen ihrer Traumen, Verletzungen und anderen Erfahrungen lebt. (Ich rede hier ganz und gar nicht von Fachkenntnissen, die sind gesund und untraumatisch und dringend notwendig – sie haben nichts mit dem Ich oder der Psyche zu schaffen.)
Was uns so viel Kummer macht, ist der eigene Gemütszustand, die Verfassung, in der sich unser Charakter befindet. Da Charakter und Ich Synonyme für ein und dasselbe Phänomen sind, bleibt selbiger bei der direkten Interaktion Organismus-Umwelt außer Betrieb. Sobald das Gehirn aus seinen spontanen Funktionen heraus handelt, schweigen die intellektuellen Funk¬tionen, bis sie von der kreativen Seite her befruchtet und angeregt werden. Anschließend darf der Verstand dann die Handlung formulieren und veranlassen. Es findet alles wie gewohnt statt, mit der einzigen, gravierenden Ausnahme, daß gewöhnlich das Denken alleinherrschend bestimmt, was zu tun oder zu lassen ist, und nunmehr eine vorgesetzte, überlegenere Instanz das Ruder übernimmt. Das Diktat des Intellekts ist beendet.
Wenn Sie keine unerkannten Voreingenommenheiten und Vorurteile über sich und Ihre Position zur Welt besäßen, wäre die Sache ganz einfach: Sie brauchten dann nur – von einer Minute zur nächsten – die Last der Vergangenheit Ihrer Persönlichkeit beiseite zu lassen. Einfach loslassen, weil Sie begriffen haben, sie wird nicht mehr gebraucht – zum Glück. Seien Sie gewiß, das geht. Und für Momente mag es Ihnen gelingen. Dann geht wahrscheinlich die alte Leier wieder los. Und weshalb? Weil Sie den Fehler machen und versuchen, ein Phänomen, dessen Zeitachse senkrecht steht, umzuklappen wie eine Bahnschranke, die sich schließt, um sie Ihrem andressierten Wahn vom Gestern, Heute und Morgen anzugleichen. Mit anderen Worten: Wir versuchen aus Reflex immerzu, jeglichem Ding Fortbestand zu verleihen, indem wir es im Gedächtnis weiterverarbeiten. Als ob wir damit die Wirklichkeit bannen könnten. Von diesem Wahn müssen wir uns befreien. Die Realität ist vorhanden. Wir können sie weder annehmen noch ablehnen, weil sie ist, wie sie ist.
Wenn Ihr Verstand mit Hilfe Ihres Charakters jeden Tag den gewohnten Versuch unternimmt, mit der Wirklichkeit fertig zu werden, tut er das auf Verdacht. Er errechnet sich aus Daten der Vergangenheit die Wahrscheinlichkeit, daß etwas klappen könnte, wenn er das damals angewandte Rezept wiederholt. Oft klappt es so. Nicht gerade glänzend, aber man wurstelt sich durch. Der Auslöser Ihrer Entscheidungen ist eine Mischung aus wahrgenommenen augenblicklichen Tatbeständen beziehungs¬weise deren Interpretation – und Ihren heimlichen, unerkannten, unreflektierten Wünschen und Ängsten. Sie tragen wie eine Zeitbombe die unbewußten Handlungsauslöser mit sich herum, und diese wirken, ohne daß Sie Macht darüber hätten, in Ihr Leben hinein und bestimmen letztlich dessen Qualität. Nun denken Sie sich, welch ein herrlicher Trick das doch wäre, wenn Sie auf einen Schlag diese ganzen Bedingtheiten hinwegfegen könnten. Und das können Sie. Nicht Sie, als Ich, als Psyche oder Selbst — wie Sie es nennen mögen – Sie vermögen es, indem Ihr Gehirn, Ihr Körper, Ihr Organismus mit seiner vegetativen Intelligenz sich der Dinge unmittelbar, ohne die Erfahrung aus der Vergangenheit dazwischenzuschalten, annimmt. Dann ist der Spuk augenblicklich zu Ende. Und wenn Sie erst ein einziges Mal dieses Vollgefühl eines von der Last seiner psychischen Erfahrung befreiten kreativen Geistes erlebt haben, werden Sie sich niemals mehr den alten Zustand herbeiwünschen.

Eine der letzten Übungen dieses Buches möchte ich mitten im Kapitel bringen. Sie dient der Realisierung eines Gefühls der Integration, das unbemerkt im Grunde schon immer vorhanden war. Sie können es aber nicht leben, weil Ihr Denken darüber anderer Meinung ist.

Wo Sie gerade sind, nehmen Sie bitte Ihre Umgebung im Vollbesitz der Erkenntnis wahr, daß Ihr Ich ein Denkkonstrukt ist, also keine materielle Realität besitzt. Beginnen Sie die Übung wie jene mit den Strukturen und Proportionen und weiten Sie Ihre Betrachtung auf den ganzen Raum aus. Nehmen Sie ihn vollständig wahr und lassen Sie Ihr Denken sich mit etwas anderem beschäftigen, wenn es keine Ruhe gibt. Lassen Sie es zum Hintergrundgeräusch werden wie Verkehrslärm durchs Thermopanefenster. Und jetzt beginnen Sie mit dem eigentlichen Versuch: Fühlen Sie, wie hautnah Ihre Umwelt in Wirklichkeit ist. Spüren Sie, wie unmittelbar, unentrinnbar Ihre Welt mit Ihnen verbunden ist, wie angeschweißt. Machen Sie sich klar, «Außenwelt» ist eine Ortsbestimmung des Intellektes, erfunden zum Zwecke der Isolierung des Individuums. In Wahrheit beginnt Außenwelt in Ihnen drinnen, sie durchdringt Ihren Körper und haftet Ihnen an, so innig wie Zahnschmerzen oder Kopfweh.

Beide Wehwehchen haben die Eigenheit, daß Sie sich nicht von Ihnen entfernen können, solange sie anhalten. Ebenso ist es um Ihre Außenwelt bestellt. Sie können sich keinen Millimeter und keinen Augenblick lang aus ihr entfernen. Sie gehört zu Ihnen, egal, was Ihre bisherige Erfahrung dazu sagt. Und sobald Ihr Denken mit dem Unfug seiner abspaltenden Ideen aufhört, können Sie Ihre Nähe zur Welt wie selbstverständlich spüren. Im Moment, da unsere Interpretation der Erfahrung schweigt und Erfahrung pur erlebt wird, ist das Gefühl, mein Organismus und die Umwelt gehören zueinander, auf der Stelle da. Versuchen Sie es. Leben Sie sich ohne trennende Gedanken hinein in das Gefühl der Unmöglichkeit, Ihre Welt von sich abzustreifen.
Wenn diese Übung funktioniert, verabschieden sich die alten Gefühle der Fremdheit. Denn Sie lassen das Leben näher an sich heran. Ohne Angst, dadurch verletzt zu werden. Wenn Sie die unmittelbare Wahrnehmung der Welt durch Ihren Sinnesapparat verwirklichen, dann besteht keine Verletzungsgefahr für die Psyche mehr, denn sie bleibt aus dem Spiel. Im direkten Erleben des augenblicklichen Realitätsgeschehens hat die Vergangenheit keinen Platz, Und Kummer und Schmerzen, die natürlich nach wie vor auftreten können, treffen in Ihnen drinnen niemanden mehr an, bei dem sie sich quälend auf Dauer einnisten können. Sie klingen an, werden erlebt und verschwinden wieder ins Nichts, aus dem sie hervorgetreten sind.
An anderer Stelle habe ich gesagt, wir wären der Überzeu¬gung, unsere Vergangenheit würde die Gegenwart bestimmen. Beim gewöhnlichen, normalen Geisteszustand des Menschen trifft dies zu. Da handelt das Ich, das von der Vergangenheit gebildet und bestimmt wird. Unsere individuelle Persönlichkeitsstruktur ist in sich selber der Faktor oder besser: die Summe aller Faktoren, die unser Leben so eng und konfliktreich machen. Der Zugang zur Welt und unser Platz darin öffnet sich von allein, wenn wir unseren Organismus in Zukunft als unser Selbst iden¬tifizieren und ihm unbeeinflußt Gelegenheit geben, seine Einheit mit außen und innen emotional zu realisieren. Wir finden uns ohne Gegenmaßnahmen mit seiner Sterblichkeit ab, und im Moment, da jemand das aus Überzeugung tut, stellt sich das Gespür für die Antworten auf Fragen nach Leben und Tod leise und verheißungsvoll ein, wie das Ahnen des welken, fallenden Blattes, daß es im Frühling wieder sprießen wird.

Probieren Sie es ab und zu minutenlang: Lassen Sie sich gehen, fallen. Lassen Sie allen Druck sich auflösen. Schreien Sie zuweilen wenn niemand Sie hören kann, und schauen Sie genauer hin; was Ihre Sinne auch wahrnehmen, bemerken Sie es mit Zuneigung. Im direkten, abwehrfreien Gewahren der Lebensvorgänge ist die Integration ohne unterstützende Maßnahmen Realität geworden. An ihr gibt es nichts zu beschreiben. Die Aussage, der Mensch habe dann seinen Platz in der Welt gefunden, wird gefühlt, erlebt, aber sie kann nicht detailliert beschrieben werden, weil damit etwas Neues, Unbekanntes beschrieben werden müßte.
In einer Welt, die mit den Augen des Künstlers erfahren wird, bestimmt keine Vergangenheit mehr die Gegenwart und beeinflußt die Zukunft. Weil in einer unmittelbar erlebten Welt die Dinge richtig herum laufen: da geschieht in der Gegenwart ein Ereignis – ich lasse eine Flasche zu Boden fallen -, und nachdem sie zerschellt ist, ist das Ereignis damit zur Vergangenheit geworden. So einfach ist das. Hier hat nicht das Vergangene die Gegenwart beeinflußt – der Einfluß ging von meiner jetzt loslassenden Hand aus und bestimmte die Geschichte, die ich morgen dem Postboten am Gartentor erzähle: «Gestern habe ich aus Versehen eine Ketchupflasche zu Boden fallen lassen; können Sie sich vorstellen, was das für eine Sauerei war?»
Daß die kaputte Ketchupflasche mich in Zukunft nicht determi¬niert, ist ziemlich klar. Ich vergesse die Panne rasch. Aber wie wäre es, wenn nun bei allen künftigen Gelegenheiten, sobald mir eine Flasche in die Hände gerät, ich mich unbewußt verkrampfen würde und mich die Angst heimsuchte, ich könnte sie plumpsen lassen ? Das liest sich wie ein nicht mal guter Witz. Doch überlegen Sie: Handelt unser Ich denn nicht auf genau diese aberwitzige Weise? Sein Bedürfnis, sich zu schützen und gegenüber künftigen Fährnissen abzusichern, ist derartig groß und übermächtig, daß es alle möglichen und unmöglichen Ereignisse in sich verinnerlicht, sie in seine Struktur mit einbezieht, bloß damit nichts mehr passiert.

In dem Maße, wie Sie die Ungereimtheiten der Ich-Aktivität durchschauen, in dem Maße wird sich die Freiheit von diesen Mechanismen einstellen. Was man dem Denken nachsagt —zum Narren macht es sich nicht gern. Das läßt sein Ehrgeiz nicht zu. Darum hört es freiwillig auf, nutzlose Aktionen zu vollbringen. Es ist unser Denken allein, das die Änderung auf Seiten der intellektuellen Hirnfunktionen herbeiführt. Seine Zurückhaltung bei direkter Wahrnehmung der Außenwelt mit den Sinnen des Künstlers ist freiwillig. Es ist eigentlich nur der Übergang von der einen auf die andere Weise zu leben schwierig. Und der Übergang ist keine Frage von Training oder Methoden – es ist eine Frage der Erkenntnis. Sonst nichts. Und dazu habe ich die Übungen erfunden. Als Katalysatoren. Die Übungen sollen selber keine Änderung herbeiführen – denn sonst wären es ebenso Dressurakte wie alle sonstigen erzieherischen Maßnahmen, die versuchen, den Menschen zu ändern oder in eine bestimmte Richtung zu leiten.

Integration findet statt, wenn Sie sich damit abfinden, daß es Sie als von der Welt isolierte Psyche gar nicht gibt! Dabei sage ich nicht, die Psyche existiere nirgendwo. Sie existiert in der vom Denken unterstützten Einbildung. Alles Ich-Gefühl resultiert aus dieser Erfahrung des abgespaltenen Fühlens und Handelns, Und der etwaige Einwand, unser Heer von anerkannten, begabten Psychologen sei angesichts derartiger Ketzerei eine Horde von Idioten, muß kategorisch zurückgewiesen werden. Denn der die Psyche aufrechterhaltende Denk- und ergo Gefühlsvorgang, der jetzt und immerdar stattfindet, ist ein wirklich ablaufender Prozeß. Die Realität besteht darin, daß der die Psyche erzeugende und sie erhaltende Prozeß in der Gegenwart stattfindet. Doch damit gewinnt unser Ich kein Jota mehr reales Gewicht. Und die ernsthaften Psychologen und Therapeuten wissen um das Illusionäre. Schon Sigmund Freud schrieb in seinem Alterswerk von der Sehnsucht nach Psychosynthese, nach der Verschmelzung seiner als Ich, Selbst, Über-Ich und Es postulierten Gebilde mit dessen Welt, und prophezeite für die ferne Zukunft, daß es vielleicht möglich würde. Ebenso haben es andere begriffen. Daß sie nichtsdestotrotz an dieser Psyche so etwas wie Flickschusterei betreiben, indem sie sich auf die krankhaften Prägungen konzentrieren und sie durch Analyse aufdecken und damit beim Individuum ausmerzen – das entspricht etwa der Schönheitsoperation am Gesicht einer potthäßlichen Dame, der die gröbsten Mängel beseitigt werden, wo eine Enthauptung besser am Platz wäre. Man weiß um die Dinge. Ich lese gern Aufsätze über neuzeitliche Strömungen der Seelen¬heilkunde. Zwischen den Zeilen und mitunter direkt wird es aus¬gesprochen: diese Psyche ist ein schwer faßbares Gebilde, weil ihre Existenz konkret nicht nachweisbar ist.

Und Argumente, man könne sich schließlich nicht geistig selbst entleiben, man brauche so etwas wie dieses geistige Selbst, lassen sich mit einer wenig bekannten Tatsache widerlegen. Was im Mittelalter und selbst bis in die jüngere Zeit hinein für Besessenheit gehalten wurde und mit hanebüchenen Mitteln ausgetrieben werden sollte, erweist sich heute als «Multiple Persönlichkeit». Es gibt Menschen, die aufgrund eines Schocks oder Traumas nicht nur eine Psyche gebildet haben. Sie sind Besitzer von zweien oder so¬gar noch zahlreicheren. Angeblich soll es in Afrika Stämme geben, bei denen jede zweite Frau (warum nur Frauen, vermag ich nicht anzugeben, ich zitiere bloß) davon befallen ist. Es gibt inzwischen einen korrekten Namen dafür: «Dissoziative Identitätsstörung». Es gibt Spezialisten, die solche Patienten behandeln. Die Betroffe¬nen pendeln in regelmäßigen oder unregelmäßigen, auslöserbedingten Zeitintervallen zwischen dem einen und anderen Charakter hin und her. Wobei jede Persönlichkeit ihr eigenes Profil besitzt und unterschiedliche Vorlieben, Meinungen und psychische Bedürfnisse vorweist. Das technische Prinzip des Generierens einer Psychostruktur ist bei multiplen Persönlichkeiten das gleiche wie bei der solo auftretenden Psyche der Allgemeinheit. Sie wird aus Erfahrungen gebildet. Und diese Erfahrungen sammeln sich aus voneinander isolierten Lebensweisen an, die den Neigungen gemäß sind, welche von den einstigen Schocks der Kindheit determiniert werden. Psychosynthese im Sinne Freuds und der anderen Experten ist nichts anderes als die Integration des menschlichen Organismus in seine Umwelt, indem er sich nicht mehr durch die Ich-Funktionen des Denkens getrennt davon fühlt und aus Angstreflexen heraus agiert.
Gönnen Sie sich den Spaß und versetzen Sie sich einmal für ein paar Minutentakte in ein «Mich-gibt-es-nicht-Bewußtsein». Betrachten Sie die Welt frei von Ideen über sich. Sofern es Ihnen gelingt, könnte sich eine Überraschung einstellen. Dem anfäng¬lichen Gefühl der Leere und Inhaltslosigkeit gesellt sich bald ein Wohlbehagen der Freiheit von aller Last hinzu – und plötzlich ist Liebe da, Liebe zur ganzen Welt.

 

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3 Antworten zu Reife – der Schlüssel zum Glück Kapitel 14

  1. Michael Poschmann sagt:

    8.1.2015 – das Resümee aus dem Text habe ich soeben auf Facebook gepostet, mit dem Link auf diese Seite. Ich finde, er passt so gut in diese Zeitsituation, nach Paris: Je suis Charlie…

    • gitti sagt:

      Hallo und liebe Grüße!
      Herr Fischer schrieb in seinem Text…“die wenigsten Menschen sind reif und erwachsen geworden….“
      Ich stelle die Frage, warum soll ich Menschen achtsam zuhören die viel reden aber nichts zu sagen haben?
      Gitti

      • Sabine sagt:

        Hallo Gitti, ich denke 1. weiß ich ja vorher nicht unbedingt, ob jemand was zu sagen hat oder nicht. Und wenn ich jemanden gut kenne und deshalb davon ausgehe, dass er oder sie nichts zu sagen hat, dann werte ich ja auch. Und 2. kann ich ja nicht ausschließen, dass er oder sie eben doch etwas für mich in diesem speziellen Moment Wichtiges sagt. Und vieles, was Theo geschrieben hat, liest sich sehr kategorisch, war aber von ihm eher „durchlässig“ gemeint. Also kann ich doch einfach jedesmal selber entscheiden, ob ich zuhören will oder nicht.
        LG Sabine

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