Reife – der Schlüssel zum Glück Kapitel 8

 Sehen, wie ein Künstler sieht

Das menschliche Gehirn ist ein noch weitgehend uner­forschtes Organ. Wahrscheinlich erfassen wir den wirk­lichen Umfang seiner Leistungsfähigkeit noch lange nicht. Eini­germaßen bekannt ist, daß wir für die Gedächtnis- und Intellekt­funktionen kaum ein Zwanzigstel der vorhandenen {theoretisch gemessenen) Kapazität einsetzen. Wobei diese Theorie für unsere Belange nicht unbedingt wichtig ist. Wichtig ist die Erkenntnis, wie sehr der Mensch als Gattung durch die Überbenutzung des Intellektes in die Sackgasse geraten ist. Wer das bezweifelt, möge sich in der Welt umsehen, die Zeugnisse menschlicher Fehllei­stung in jeder gewünschten Menge aufweist. Bis in die privatesten Sphären hinein wirken sich die Fehler unserer Art zu denken und zu handeln aus. Unsere gesamte Lebensführung wird von der Ver­gangenheit bestimmt. Sie wirkt sich auf unsere Gegenwart aus und gestaltet sie mit den Mitteln unseres Wissens und unserer Erfahrung. Wir sind dadurch im Grunde äußerst unproduktiv, wenn es um kreative Ideen zur Verbesserung der eigenen Situa­tion geht. Unsere Existenz wird von Anstrengung und Kampf be­stimmt. Und dieses relativ armselige Leben führen wir, obgleich unsere Gattung mit diesem Gehirn, das das Ergebnis von Millio­nen Jahren Entwicklung ist und in sich alle Elemente schöpferi­schen Wachstums vereinigt, bedeutend müheloser und glück­licher leben könnte.

Sie haben bei den voraufgegangenen Übungen einiges über sich erfahren. Und zwar nicht durch Botschaften von außen, aus zwei­ter Hand – Sie haben sich selbst betrachtet und sind zu bestimmten Einsichten gelangt. So dürfte Ihnen auch klar sein, wie schwer Sie sich tun, Ihre Umwelt unvoreingenommen, ohne ständige Interventionen Ihres Denkens wahrzunehmen. Nun könnte Ihre Frage auftauchen, was denn so schlimm daran ist, wenn Sinnesein­drücke vom Denken verarbeitet werden. Diese ständige intellek­tuelle Verarbeitung Ihrer gesamten Wahrnehmung hält Sie vom Erleben der Realität ab. Was wir in unserem gewöhnlichen Zu­stand Tag für Tag gewahren, sind Ideen über die Realität – es ist nicht die Wirklichkeit selbst. Und wir selektieren mit unserem Verstand den Strom der unaufhörlich in uns einströmenden Ein­drücke und pflücken uns jene heraus, die für unser Ich-Bild von Interesse sind. Das heißt, bei den engen Grenzen unserer Inter­essen-Sphäre – in der Regel drehen wir uns wie ein Brummkreisel um die eigene Achse – bekommen wir wach und bewußt höchstens Bruchteile des tatsächlichen Geschehens mit. Der Mensch unserer Zeit lebt halbwach und halbblind, halbtaub und halbbewußt in den Tag hinein und verdämmert in diesem Zustand das Schönste, das es auf dieser Welt gibt-sein Leben!

So, dies ist der knappe Zustandsbericht der menschlichen Wahrnehmung. Es ließen sich Bände füllen über das, was der Mensch im Bereich seiner Sinnestätigkeit alles verpaßt. Und es besteht die reale Gefahr, daß unter der Berieselung immer kom­fortablerer Medienprogramme bis hin zum Cyberspace die Ge­hirne der Teilnehmer an diesen Fluchtwegen aus der Realität sy­stematisch verblöden!

Wir müssen lernen, die Welt mit den Augen des wahren Künst­lers zu sehen und aufzunehmen. Damit wollen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen. Die folgenden Übungen haben allerdings nur dann Sinn für Sie, wenn Sie vorher die anderen Übungen über längere Zeit praktiziert haben und sich des wirklichen Zustands Ihres Wahrnehmungsapparates klar bewußt sind. Nur so können Sie Unterschiede zwischen den beiden Arten von Gewahrsein fest­stellen. Ein Künstler sieht dort, wo der Normalbürger flüchtige, komplexe Eindrücke seiner Umwelt total mit seiner gedanklichen Begriffswelt vermischt, klare Linien, Konturen, Strukturen und Räume. Diese Art zu sehen liegt dem intellektuellen Gehirnbereich überhaupt nicht, und das Denken hält sich heraus, weil es nicht mitkommt. Irgendwo im Wahrnehmungsbereich gibt es eine Grenze, die das Denken trotz seiner sonstigen Penetranz, mit der es allezeit präsent und tätig ist, nicht überschreitet. Es hört dann auf und läßt das strapazierte Hirn in Frieden. Diese Grenze zu ertasten, sie kennenzulernen und später jederzeit bewußt über­schreiten zu können, wollen wir mit Hilfe der Übung 8 erreichen. Im künstlerischen Tätigsein wird der spontane Gehirnbereich ak­tiviert, und es gibt Forschungsergebnisse, die belegen, daß unser Hirn mit hoher Kapazität arbeitet, sobald es eine Aufgabe aus­führt, die den intellektuellen Teil zum Schweigen bringt. Dies trifft zum Beispiel zu, wenn Ihnen jemand einen Text vorlegt, der verkehrt herum geschrieben ist oder auf dem Kopf steht. Sie be­gegnen bei der schlichten Aufgabe, einen auf dem Kopf stehenden Text – oder ein Bild, eine Zeichnung – zu entschlüsseln, erstmals bewußt dem Phänomen des Umschaltens von Intellektuell zu Spontan. Dies ist noch keine Übung, aber lassen Sie sich einen beliebigen, Ihnen unbekannten Text von einer anderen Person rückwärts aufschreiben: dnegut – lesen Sie es – Tugend, anders­rum. Richtig geschrieben erkennen Sie es wieder, in Spiegelschrift setzt Ihr Denken aus, und Sie müssen mit den Augen und dem Hirn die Struktur entziffern. Probieren Sie es an ein paar Beispie­len aus. Stellen Sie eine Fotografie auf den Kopf und decken Sie einen Teil ab. Und betrachten Sie das Bild und versuchen Sie zu spüren, wie plötzlich Ihre Gedanken zu einem leisen Hintergrund­geräusch wie ferner Verkehrslärm verhallen und Ruhe geben.

Wenn uns etwas bekannt ist, das wir wiedersehen, betrachten wir es mit dem Verstand, analysieren es blitzschnell und denken: aha, eine Blumenvase mit Tulpen, rot, schon ein wenig welk. Mit diesem gedachten Satz ist bereits jede Chance für ein intuitives Verständnis des Objektes vertan. Klar, einen Strauß verwelkender Tulpen muß man nicht unbedingt verstehen, es sei denn, man ist Künstler und will gerade diese Melancholie einer sterbenden Blume ausdrücken. Ich habe das Beispiel gewählt, weil es einfach ist. Nehmen wir an Stelle der Tulpen Ihren Lebenspartner oder einen Elternteil. Betrachten Sie ihn und stellen Sie fest, wie schwer es Ihnen fällt, ihn vom Denken unbeeinflußt zu betrach­ten. Es gibt ein Hilfsmittel, wie Ihnen das gelingt. Sie werden es nach der Wahrnehmungsübung kennen und anwenden können.

Hier wäre Übung 8. Es ist wiederum eine Übung für die Minu­ten je Stunde, wobei hier keine Beschränkung besteht, die Übung länger auszudehnen, wenn die Sache einmal verstanden ist.

Betrachten Sie wieder Ihre Umgebung, aber achten Sie während der Übung nicht auf die Gegenstände selbst, sondern auf die Räume dazwischen. Betrachten Sie bei dem, was Sie sehen, die Zwischenräume. Führen Sie außerdem Ihre Augen den Kontu­ren, also den Umrissen der Gegenstände entlang, von denen Sie den umgebenden Raum anschauen. In der Forderung, leeren Raum anstelle der Gegenstände zu bemerken, liegt ein Schlüssel für den Zugang zur spontanen Hirnfunktion. Sie tun etwas völlig Ungewohntes. Ihr Denken ist auf die Wahrnehmung von Er­scheinungen fixiert, die es kennt und die es benennen kann. Mit Kontur und Raum kann es absolut nichts anfangen. Ergo hält es sich zurück.

Und nachdem als Folge meiner gemeinen Frage am Ende des vori­gen Kapitels gar nicht mehr feststeht, oh überhaupt Sie Ihre Ge­danken denken, stellt sich bei Übung 8 zugleich die Frage, wer nun sich zurückhält. Es ist der Denkvorgang selbst, nicht Ihrer und meiner, es ist, klipp und klar ausgedrückt, Denken an sich, weiter nichts.

Unterschätzen Sie bitte diese Übung nicht. Sie ist ungemein wichtig, weil Sie dadurch etwas kennenlernen, das mit Worten nicht beschrieben werden kann. Denn Worte gehören zur intel­lektuellen Gehirnfunktion und erreichen die andere Seite nicht. Die muß erspürt werden. Ich befinde mich bei den Lektionen von Kapitel acht in der Situation eines Menschen, der anderen Leuten, die noch niemals Vanilleeis gegessen haben, ja, Eis gar nicht kennen, verbal beschreiben soll, wie Vanilleeis schmeckt. Ein Unding, nicht wahr? Und Sie sind in der Position des Zuhörers, dem einer den Geschmack von Vanilleeis nahebringen will. Ganz wichtig ist, daß Sie beim visuellen Abtasten Ihrer Umgebung mit keinem Ge­danken die erfaßten Objekte in Ihrem Sichtbereich mit Namen nennen, denn dies würde den Denkmechanismus aufrechterhal­ten. Sie brauchen auch keinen Versuch zu unternehmen, dem Denken Einhalt zu gebieten, weil das zu keinem Ergebnis führt, also völlig nutzlos wäre. Was Sie lernen sollen, ist das mühelose Umschalten von Intellektuell auf Spontan. Und das ist dann mög­lich, wenn Sie ein feines Gespür für diese besondere Art des Wahr­nehmens entwickeln.

Achten Sie bei dieser Übung auf noch etwas anderes: Betrach­ten Sie die Proportionen der sichtbaren Dinge zueinander und in sich. Also, in welchem Größenverhältnis zum Beispiel der Tisch vor Ihnen zum Fenster steht oder der Rahmen des Bildes an der Wand zum Abstand vom Fenster oder die Stirnpartie ihres Gegen­übers im Verhältnis zur Nasenlänge und dem Abstand zum Mund oder Kinn. Variieren Sie Ihre Methode, aber bleiben Sie beim un­gewohnten, unorthodoxen Schauen. Allein dies sichert Ihnen den Zuwachs an Gespür für das Neue zu. Es ist absolut nichts Geheimnisvolles dabei Sie erproben eine Ihnen seit Ihrer Geburt inhärente Begabung des Sehens und Wahrnehmens. Von der an­dersartigen Betrachtung der Dinge werden wir später wieder ab­kommen. Es ist nicht so, daß Sie von jetzt an bloß noch auf Kontu­ren, Zwischenräume, Abstände und Proportionen achten dürfen. Es ist ein Zwischenstadium, in dem Ihr eigenes Gehirn mit sich selber vertraut wird, und Ihr Denken – das gewiß nicht blöde ist -wird nach und nach einsehen, daß es nicht untergeht oder das Leben aus dem Griff verliert, wenn es die bisher unbekannte Seite der Gehirntätigkeit ungestört in Aktion treten läßt. Das ist der Witz bei der Sache: Ihr Denken ist sehr besorgt darum, das Leben unter Kontrolle zu behalten, und vertraut keinem anderen Organ, keiner anderen Funktion als sich selbst. Aber das Denken macht das allein deswegen so, weil das Gehirn, aus dem es hervorgeht, es schon als Kind von den Eltern so gelernt und abgeschaut hat.

Üben Sie fleißig und nicht nur hin und wieder für ein paar Au­genblicke. Und haben Sie Geduld, wenn sich zunächst kein Erfolg einstellt. Es ist gar nicht falsch, wenn Ihr Denken die Übung un­tersucht – ich meine die Vorgabe, die Aufgabe, nicht den Gehalt der Übung. Denn dann bereitet es sich auf eine Änderung im Ge­samtverhalten der Wahrnehmung vor. Und ist dann imstande, den Umschaltvorgang auch intellektuell und bewußt zu verste­hen. Das Denken hat zwar keinen Zugang und keinen Einfluß auf die kreativen Gehirnbereichc, aber umgekehrt existiert durchaus ein Informationskanal. Die spontanen Funktionen können die in­tellektuellen befruchten und beeinflussen. So herum geht das, nur die Rückkoppelung, Intellekt Richtung Spontaneität, geht nicht. Sie dürfen mich jetzt fragen, was denn um Gottes willen das Be­trachten von Konturen, Zwischenräumen, Spiegelschrift-Texten, auf dem Kopf stehenden Bildern oder Proportionen mit Sponta­neität zu tun hat, Nun, unmittelbar gar nichts, Die Übung ist ein Katalysator, der selbst keine Funktion hat, aber andere Prozesse auslöst.

Schalten Sie aus der Übung bitte ganz bewußt zurück, wenn Sie sie beenden. Das ist wichtig! Es geht darum, daß Sie klar den Un­terschied zwischen beiden Arten zu sehen registrieren. Nach der Übung kehren Sie zurück in Ihre gewohnte Methode, die Dinge zu sehen. Ihr Denken schaltet sich wieder ein und flüstert: oh, eine Schwalbe – so häßlich ist die Nase von Ludwig nicht, wie sie als Kontur wirkt – und so weiter.

Wegen der Bedeutung dieses Komplexes und wegen meiner Be­denken, Sie könnten den Zugang zu Ihrem Spontangefühl nicht finden, will ich Übung 8 mit anderen Worten und im Spektrum erweitert wiederholen: Sie sollen in einem bewußt herbeigeführ­ten Vorgang Ihre Wahrnehmung, also die Funktion Ihrer Sinne, primär Ihres Sehens, von einem Gehirnbereich auf einen anderen umstellen. Dieser Schritt gelingt seitens Ihrer Willensausübung nur einseitig, und zwar von der intellektuellen Funktion her. Diese Funktion ist selber Sitz Ihres Willens, und sie ist infolgedes­sen imstande, in freier Entscheidung eine Tätigkeit aufzunehmen oder sie einzustellen. Unsere Übung will bewirken, daß Ihr Intel­lekt während einer bestimmten Sinnestätigkeit jede Aktivität freiwillig aufgibt. In der Zurückhaltung Ihres intellektuellen Ge­hirnbereiches liegt bereits der Auslöser für den Wechsel zum Spontanbereich. Dieser tritt unaufgefordert hervor, sobald das al­les beherrschende Denken endlich einmal für ein paar Momente still ist. Und diese Stille stellt sich – spontan! – ein, wenn Sie unorthodox beobachten.

Ich hätte gerne, daß Sie unsere Minute-pro-Stunde-Übung auch auf andere Objekte, als es Konturen, Zwischenräume und Proportionen sind, ausdehnen. Und zwar auf lebendige Dinge: Ihre Frau, Freundin, Ihren Freund oder Lebensgefährten, den Chef, den Busfahrer, Briefträger oder Ihre Katze, den Wellensit­tich oder das Hundchen. Und wählen Sie sich einen eindrucksvol­len Baum aus oder das Licht einer Stehlampe oder das Bild auf dem Buchumschlag. Versuchen Sie, Ihre Kenntnis über das betrachtete Objekt beiseite zu lassen, das geht ganz gut. Die Einflüsterungen Ihrer Gedanken, die unter allen Umständen der Meinung sind, Sie müßten Ihnen erklären, was Sie gerade sehen, hören in dem Mo­ment auf, wo Sie Ihre Art und Weise des Sehens verändern. Indem Sie es auf bisher unbekannte Weise tun. Das Unbekannte – alles Unbekannte, auch Fremdes auf anderen sinnlichen Ebenen – ist dem auf dem Erlernten, Vertrauten basierenden Intellekt suspekt, und er läßt die Finger davon, er ignoriert es. Und dies zugunsten Ihrer wahren Gaben des Handelns, der kreativen, spontanen. Be­mühen Sie sich deshalb um Himmels willen nicht, während der Übung Ihrem Denken den Betrieb zu verwehren. Das wäre die sicherste Methode, es an der Arbeit zu halten, denn diese Abwehr gegen das Denken ist selber ein Denkvorgang, Sie würden damit lediglich einen weiteren kleinen Teufelskreis in sich auslösen. Das Aussetzen kommentierender Gedanken findet ganz still und un­auffällig statt. Sie werden das Fehlen von Gedanken während Ih­rer ungewöhnlichen Wahrnehmung erst registrieren, wenn sie wiedereinsetzen. Tun Sie also nichts. Schauen Sie nur hin. Betrachten Sie Details. Die Hände Ihres Gegenübers, verfolgen Sie mit den Augen jede Linie der Finger, die Nägel, die Krümmung des Daumens, die Runzeln der Haut und die hervortretenden Adern. Alles Dinge, die Sie sonst nie wahrnehmen, weil Sie zuviel über Ihr Objekt wissen. Es wird vielleicht sogar ein ungewöhn­liches Gefühl von Liebe und Rührung aufkommen, wenn Sie plötzlich bemerken, wie nahe Sie diese intensive Aufmerksamkeit dem anderen bringt. Wenn Sie im Park die Rinde eines Baumes berühren oder das feine Geäder der Zweige einer Trauerweide im Spiegel der Teichoberfläche gewahren – dann verfolgen Sie bitte voller Zuneigung die Linien, die Spiegelung, die Struktur der Rin­den ober flache, ihre Kühle, das Rauhe, Lebendige – und kommen­tieren Sie es nicht. Unser ewiges Geschwätz über die Dinge ver­hindert gründlicher als alles andere, daß wir sie wirklich begreifen und kennenlernen. Wenn es Ihnen gelingt, auf diese ungewöhn­liche und ungewohnte Weise einen anderen Menschen anzu­schauen, wird etwas Neues, Frisches, Vitales in Ihr Leben treten. Sie werden dann, vielleicht zum ersten Mal, in unmittelbare Ver­bindung mit Ihrer Außenwelt treten, die Sie bisher über das Filtersystem Ihres Wissens von den Dingen erlebt and erfahren haben.

Dehnen Sie gelegentlich die Übung auch auf Ihre anderen Sinne aus. Das alles läßt sich ohne Anstrengung, ohne Kraftaufwand vollbringen. Es ist keine Konzentration nötig, im Gegenteil. Ich möchte Sie bitten, das Ganze mehr spielerisch anzugehen, indem Sie sich selber minutenlang gehen lassen, unverkrampft, gelöst sind. Beobachten Sie von keinem besonderen Punkt in Ihrem In­neren aus. Wenn Ihre spontanen Gehirnfunktionen die Tätigkeit aufnehmen, geschieht dies von keinem Zentrum aus. Sie werden in keiner Phase der Übung das Gefühl haben, Ihre Wahrnehmung käme von irgendwo oder würde irgendwohin münden. Das ist zu­gleich Ihr erster Eindruck von der wirklichen Weite Ihrer Identi­tät. Also tasten Sie, berühren Sie, kosten Sie. Denken Sie beim Genießen einer leckeren Mahlzeit mal an Ihre Übung. Versetzen Sie sich in Zunge und Gaumen hinein, so, als wären Sie Ihre Zunge. Das Ergebnis wird Sie überraschen. Denn dann bemerken Sie wahrscheinlich, wie lieblos und mechanisch Sie doch selbst die besten Gerichte hinunterschlingen – grübelnd, debattierend, den Blick bereits auf den nächsten Gang, den Kaffee oder die Zigarette gerichtet – oder, noch schlimmer, im Geist bereits wieder auf der Straße, auf dem Weg zur nächsten hektischen, unbefriedigenden Aktivität. Die intensive Art der Wahrnehmung schließt übrigens die Umgebung der Vorgänge und Objekte nicht aus. Sie werden sogar feststellen, daß Sie vom Umfeld mehr registrieren als sonst bei Ihrem Alltags-Wahrnehmungsverhalten.

Schwieriger wird wahrscheinlich meine letzte Bitte auszufüh­ren sein: Übertragen Sie ab und zu Übung 8 auch auf die vorherge­gangenen Übungen. Sie sollen also anstelle materieller Struktu­ren und Konturen und Proportionen nunmehr den Blick nach innen richten und aus der Weite Ihrer Spontaneität auf sich selber blicken. Das ist in dem Moment nicht mehr schwer, wenn Sie das Prinzip des Umschaltens verstanden haben und das Gefühl für die neue Art des Schauens sich in Ihnen zu stabilisieren beginnt. Durch die Wiederholung der Übungen beginnt Ihr Unbewußtes mitzuspielen, es pendelt sich auf die andere Wahrnehmungsform ein und neigt im Laufe der Zeit mehr und mehr dazu, sie von sich aus hervorzubringen. Dies ist einer der Effekte, die ich mir für Sie erhoffe. Denn leider läßt sich die ganze Geschichte, die viel stärker in den Gefühlsbereich als in den verbalen gehört, nicht erläutern. Denken Sie ans Vanilleeis! Wenn Sie es einmal gekostet haben, erscheint Ihnen jeder Erklärungsversuch lächerlich, aber ebenso absurd werden Ihnen dann Ihre Schwierigkeiten des Begreifens vorkommen.

Ein kleines Hilfsmittel möchte ich Ihnen zum Schluß noch an die Hand geben, damit Sie ein Gespür für die Mühelosigkeit be­kommen. Lesen Sie aus Ihrem Telefon Verzeichnis oder dem Fern­sprechbuch die Telefonnummer samt Vorwahl eines vorher von Ihnen ausgewählten Teilnehmers, dessen Nummer Sie nicht aus­wendig wissen. Blicken Sie bitte nur ganz kurz hin, lesen Sie die Zahlenreihe einfach locker ab, ohne den Versuch, sie sich zu mer­ken. Sie werden staunen, daß Sie später Teile oder die ganze Num­mer noch wissen. Auf diese gelöste Weise müssen wir alle lernen, dem Leben wach und aufmerksam gegenüberzutreten. Machen Sie sich klar: Jeglicher Vorgang, der Ihre Sinne erreicht, ist real, findet statt und bewegt sich auf Sie, den Betrachter, zu, ohne daß Sie etwas dafür oder dagegen zu unternehmen brauchen. Wir benehmen uns im allgemeinen so, als ob das Leben nur dann statt­fände, wenn wir das Wenige, das unser Verstand aus den Millio­nen Sinneseindrücken herausfiltert, selber vollbringen müßten. Die Methode unseres Intellekts, der Realität zu begegnen, ent­spricht der Vorstellung eines Autofahrers, der meint, wenn er sich gegen den Sicherheitsgurt stemmt, würde das Vehikel anfahren.

 

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