Reife – der Schlüssel zum Glück, Kapitel 9

 

Zwischenstation

Es ist Zeit für eine kleine Pause, in der wir Zwischenbilanz  ziehen. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß Ihnen bei den Minutenübungen einiges aufgefallen ist. Sie haben sich durch meine Vorschläge möglicherweise erstmals im Leben von einer neuen, ungewöhnlichen Perspektive betrachtet. Und sich Fragen ausgesetzt, die zu stellen nicht zum Erziehungsprogramm Ihrer Kindheit, Ihrer Jugend oder Ausbildungs- und Studienzeit ge­hörte. Was ich Ihnen bis zu diesem Kapitel an Anregungen gab, habe ich nicht aus anderen Büchern abgelesen und mir angeeignet. Ich habe die Pfade zur Einsicht in die Mechanismen der Psyche mühsam und auf langen Irrwegen eigenständig herausgefunden und ausprobiert – im Selbstversuch sozusagen. Mit einem Buch wie diesem ist es wie mit manchen Arbeiten über biologisches Gärtnern. Da gibt es Publikationen, bei deren Lektüre der Leser rasch merkt, woher der Wind weht, das heißt, bei wem und wo der Autor oder die Autorin abgekupfert hat. Dann gibt es gottlob auch Ratgeber, mit denen man wirklich etwas anfangen kann. Späte­stens zur Erntezeit beweist sich, wie brauchbar und ausgetestet die Behauptungen sind. Vor Jahren haben meine Frau und ich mit Hilfe ausgetüftelter Kräutermixturen Kompostbeschleuniger hergestellt, geheimnisvolle, beinahe alchimistische Verfahren an­gewandt, Mondphasen beachtet – und am Ende wirklich wunder­vollen humosen Kompost bekommen. Bloß – als ich über die Ge­schichte eines Tages gründlich nachsann, gelangte ich zu einer ge­genüber den Rezepturen sehr ketzerischen Einsicht: organisches Material wird wieder zu Erde, von der es hervorgegangen ist. Jeder Organismus zerfällt, wenn das Leben heraus ist, und kehrt im großen Zyklus der Natur zu seinem Ursprung zurück. Wen ich einen Haufen Abfälle aufschichte und dafür sorge, daß er ge­nügend Sauerstoff bekommt, kann ich noch nicht mal verhindern, daß er kompostiert, geschweige denn, daß die Sache mißlingt. In den Anfängen bin ich also auf den billigsten Trick der Welt herein­gefallen, daß man mich Hokuspokus betreiben ließ, um zu einem Ergebnis zu kommen, das sich ohne diesen Aufwand sowieso ein­gestellt hätte.

Aus diesem Grund habe ich mich bei meinen Versuchen auf diese scheinbar primitiven Übungen beschränkt. Es gibt weltweit genug Heilslehren und Therapieformen, die dort, wo eine Spritze in den Muskel genügen würde, zuerst Rituale und Kulttänzc des Medizinmannes vorschreiben, ehe sie dann, wie nebenbei, erwäh­nen, eine kleine Spritze dazu würde die Sache abrunden. Die Hauptsache wird bagatellisiert, und hervorgehoben wird der nutz­lose Plunder. Weil der mehr Furore macht, weil er eindrucksvoller ist und Hirnen, die an die Lüge vom Preis, der niemals ohne Fleiß gewonnen wird, gewöhnt sind, eher einleuchtet. Die meisten ge­nialen Lösungen bestechen durch ihre Einfachheit.

Freilich muß ich mich am Ende mit den Dingen anfreunden, die ich an und in mir entdecke. Das Verleugnen von Tatbeständen, die zum Beispiel bei einigermaßen aufmerksamer Betrachtung so of­fenkundig sind wie unsere Ich-Identität, führt zur Fortführung einer Illusion, die unser Leben in allen Teilen reduziert. Sie haben eine Tatsache gesehen, wenn Sie entdecken mußten, daß alle Be­weise, Sie seien ein von der Welt losgelöstes Ich, aus Gedanken und vom Denken betriebenen Gefühlen bestehen. Sie haben fer­ner klar festgestellt, daß alle die Theorie vom unabhängigen gei­stigen Ich stützenden, erklärenden, postulierenden Aussagen und Meinungen ebenso aus Gedanken bestehen wie alle übrigen Si­gnale Ihres Selbst.

Wem diese Erkenntnis klar wird, bei dem löst sie beträchtliche Irritation aus. Zwangsläufig drängt sich die Frage auf, wer ich denn dann bin, wenn dieses Ich-Bild lediglich der Widerhall des Gedächtnisses an vergangene Lernprozesse ist. Die nächste logische Konsequenz ist die Nachfrage, wer denn bitte tagaus, tagein meine Gedanken denkt, wenn <ich> selber <erdacht> bin. Irgendwo muß doch dieser Selbst oder Psyche genannte Wesenskern zu fin­den sein. Das ist er nicht! Sie werden nichts dergleichen in Ihrem Innenleben vorfinden. Immerzu begegnen Sie Gedanken und nochmals Gedanken. Sie mögen sich in eine jahrelange Analyse begeben, wo Schicht um Schicht Ihre Persönlichkeit aufgedeckt wird. Vom ersten Lebenstag an bis gestern aufgeblättert, wird sich am Schluß nichts finden, das mehr als Erinnerung ist. Auch die bewußten Gedächtnisinhalte sind – im technischen Sinne – Erin­nerungen. Natürlich wird mir jeder heftig und aggressiv wider­sprechen, der sein Selbst-Bild dringend für den emotionalen Wei­terbestand benötigt. Er, sie, wird wie ein Löwe um das Bewahren einer Illusion kämpfen, welche die Menschen seit der Steinzeit schon aufs Abstellgleis führt, wo jede geistige Weiterentwicklung stagniert.

Die weiteren Übungen, als nächste die Betrachtung Ihrer Pflich­ten und Verantwortungen, zielen in die gleiche Richtung. Wenn mein Ich-Gefühl erdacht ist, dann trifft dies analog auf meine Verpflichtungen zu. Es findet eine Korrektur des akzeptierten Status statt: Etwas, das vom Denken konstruiert wird, kann eigentlich
keine Pflichten übernehmen. Das Denken kann zwar zwischen dem Inhalt einer Pflicht und dem Ich hin- und herpendeln, aber haben, haben kann <Ich> keine Pflichten. Infolgedessen sind Vor­stellungen der Pflicht Bestandteile des Gedächtnisses und damit, weil <Ich> dito Bestandteil des Gedächtnisses ist, ebenso Frag­mente der gedanklichen Ich-Struktur. Klingt kompliziert – ist es jedoch nicht. Es gibt nur das Entweder und das Oder. Entweder habe ich mich richtig und unvoreingenommen beobachtet und bin
zu dieser klaren, knappen Feststellung gelangt, daß alles, was ich über mich weiß, aus Gedanken besteht — oder ich habe das nicht kapiert. Im Falle von Oder brauchen wir nicht weiter zu diskutie­ren. Dann bleibt’s halt bis zur Bahre beim alten, unreifen Zustand.
Im Entweder-Fall ist die Geschichte glasklar: Ich, meine Pflichten , meine Ideen, meine Wünsche, meine Beziehungen {im Ist-Zu-stand) – alles dies ist Gedächtnis, Gedanke. Punkt. Und damit kann jeder leben. Weil er es selbst in Unkenntnis unserer Beob­achtungsergebnisse sowieso tut. Ob erkannt oder nicht erkannt, spielt keine Rolle. Wir sprechen von einem real vorhandenen Zu­stand des menschlichen Gehirns.

Dieses Ich samt seinen Depressionen, Ängsten, Sorgen und Problemen bleibt still beiseite und rührt sich nicht, sobald Sie während einer Ihrer Minutenübungen auf die Spontanbereiche Ihres Gehirns umgeschaltet haben. Bereits bei der sekundenkur­zen Wahrnehmung einer komplizierten Linie im Astwerk eines Baumes oder dem liebevollen Blick auf eine Vogelfeder, die auf Ihren Fenstersims geweht wurde, fehlt der gesamte, so quälende Bereich vergangener Erfahrungen. Und Sie landen auf keinen Fall im luftleeren Raum, in einem geistigen Vakuum. Diese kleinen Schritte im Wandel des Wahrnehmungsvermögens sind der unbe­kannte, nicht ausgeschilderte Weg in die Freiheit, zur Reife, Auto­nomie und Integration.

Sie sind imstande, durch das Umschalten auf Ihren Spontanbe­reich die gesamten Lasten der Vergangenheit abzuwerfen. Dies schließt auch die Traumen der Kindheit ein und alle Schmerzen und Enttäuschungen, die das Leben als Narben in Ihrer Psyche hinterlassen hat. Es mag Ihnen unglaublich erscheinen, aber Sie dürfen, Sie müssen es ausprobieren. In den Phasen, da Ihr Gehirn seinen weiten, kreativen Bereich öffnet und Ihre Wahrnehmung dorthin fließt, statt vom Intellekt zensiert und zerstückelt zu wer­den, in diesen Zeiten hat Ihr Geist keine Probleme. Weil alle auf Probleme getrimmten, auf Probleme hinerzogenen Gehirnfunk­tionen schweigen.

 

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