Das Buch „Reife – der Schlüssel zum Glück“ wird seit vielen Jahren nicht mehr nachgedruckt, es gibt es nur noch antiquarisch. Da aber immer wieder Leser danach fragen, werde ich ab und zu ein Kapitel daraus veröffentlichen. Der ursprüngliche Titel hieß übrigens „Werden Sie endlich erwachsen“. Aber der Rowohlt Verlag fand das unpassend (warum auch immer!) Sabine
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Ist Reife lernbar?
Unter den ältesten Notizen für dieses Buch befindet sich auch der erste Entwurf für einen Anfang. Er lautet: Nein, dies ist kein Lehrbuch, wie man in dreißig Tagen nur durch zehn Minuten täglich Üben erwachsen wird. Ich hatte mir den lockeren Satz als Ironie gedacht im Hinblick auf die kaum übersehbare Menge an bereits existierenden Lebensratgeber. Später nahm ich mir diesen Text gelegentlich vor und feilte an ihm herum. Ließ zum Beispiel das „nein“ weg, weil es mir doch ein wenig zu albern vorkam. Der Beginn würde sich dann etwa strenger lesen: Dies ist kein Lehrbuch, usw.…. Noch später tauchte in meinem Kopf immer häufiger die Frage auf: Warum sollte es eigentlich kein Lehrbuch werden? Bloß darum, weil es auf der Welt schon zu viele von der Sorte gibt? Das wäre kein plausibler Grund, schließlich wächst auch die Zahl der Kochbücher ohne Rücksicht auf die vorhandenen immer weiter. Oder weil Erwachsenwerden nicht lernbar ist? Erwachsensein bedeutet Reifsein. Ist Reife lernbar? Wenn ich den Begriff wörtlich nehme, gibt es da nichts zu lernen. Eine Salatgurke wird reif und ist dann genießbar. Reifen im Sinne von Naturgeschehen ist ein Prozess, der selbsttätig stattfindet. Er findet statt oder unterbleibt, da kann man nicht machen. Also ab mit der Idee, trotz aller Bedenken ein Wie-werde-ich-reif-und-erwachsen-Lehrbuch zu schreiben? Nun, die Sache hat einen Haken, besser: Sie hat mehrere.
Reift der Mensch ohne sein Zutun wie Gurken oder Zwetschgen? Eben nicht. Die Vokabel „reifen“ wird in Bezug auf den Menschen völlig anders angewandt. Das Wort ist dem ursprünglichen Sinn entfremdet, wenn es auf den Menschen bezogen wird. Denn kein Mensch wird selbsttätig und unabhängig erwachsen. Im Gegenteil: Auf nichts in unserer zivilisierten Welt wird so viel Wert gelegt und so viel Zeit aufgewandt wie auf die Maßnahmen, aus einem Neugeborenen einen brauchbaren, lebenstüchtigen Erwachsenen zu machen. Unter Reife wird offiziell ein bestimmtes Maß an Wissen verstanden. Da gibt es die Reifeprüfung, wie das Abitur heißt, die mittlere Reife – da weiß einer weniger, aber immer noch genug – und überhaupt wird Reife insgesamt als Prädikat dort verliehen, wo Menschen sich Fertigkeiten angeeignet haben und zu reifen Leistungen fähig sind. Und Leute, die viel Wissen besitzen, haben ergo viel gelernt und gelten damit als reif. Und wer reif ist, hat Anspruch darauf, als erwachsen angesehen zu werden. Infolge dieser logischen Kette ist Erwachsenwerden prinzipiell ein Lernprozess und Reife der angestrebte Endzustand menschlicher Entwicklung. Also kann ich mir alle Ironie des ersten Satzes schenken. Ich sollte mir lieber überlegen, wie man eine äußerst schwierige Botschaft an seine Leserinnen und Leser formuliert, ohne sie gleich vor den Kopf zu stoßen.
Ich bin nämlich der Überzeugung, dass das, was unsere Gesellschaft als Reife ausgibt, bestenfalls das Ergebnis einer lang anhaltenden Dressur ist und infolgedessen das Bild vom selbständigen Erwachsenen die Karikatur einer Freiheit, die allein als Theorie existiert, aber nie im Alltag des einzelnen verwirklicht wird. In einem seiner Bücher sagt Erich Fromm sinngemäß folgendes: «Der Mensch unseres Jahrhunderts hat seinen Intellekt hoch entwickelt und ungeheure Leistungen vollbracht – aber emotional lebt er immer noch in der Steinzeit!» Ich kann Fromm nur zustimmen. Unsere Reife ist antrainiert, angelernt. Sie ist nicht wie Gemüse oder Steinobst natürlich gewachsen. Wir besitzen einen übertrainierten Verstand, aber unsere Gefühle sind auf der Strecke geblieben. Das dürfte einer der Gründe sein, warum die meisten von uns unterschwellig so unglücklich und isoliert sind. Wir sind eine ganze Kindheit und Jugend lang autoritären Einflüssen ausgesetzt gewesen. Sie haben unsere Psyche nach dem Leitbild der Eltern und Lehrer geformt. Und je perfekter jemand zum Abziehbild dieser Leitbilder wird, je umfassender er den Lehrstoff verarbeitet und in seinem Leben ausdrückt, für um so reifer und ergo erwachsener wird er gehalten.
Bei einem hochgebildeten Erwachsenen bewundern wir in Wahrheit nicht Reife – wir huldigen einem perfekten Dressurakt! Frei nach Erich Fromm möchte ich kühn behaupten, dass seit dem Ende der Steinzeit in unserem Kulturkreis die wenigsten Menschen wirklich erwachsen geworden sind. Angesichts derart fataler Einsichten wäre ein kleines Lehrbuch, das in krasser Opposition zu den herrschenden Idealen von Reife und Erwachsensein steht, gar nicht so fehl am Platz. Wenn sich in unserem Leben wirklich grundlegend etwas ändern soll, müssen wir umlernen. Und den verpassten Prozess des Reifens nachholen – wenn es sein muss mit der Brechstange, das Ziel ist wichtig genug. Solange unser Wesenskern das Produkt von fremdbezogenem Wissen und Erfahrung ist, die unter der Prämisse dieses Wissens gewonnen wurde, sind wir nicht frei. Ohne wirkliche Reife gibt es keine Selbständigkeit. Und ohne Selbständigkeit gibt es keine Spontaneität, keine Kreativität und keine vitale, schöpferische Beziehung zur Welt.
Erwachsen werden ist eine Kunst. Aber sie ist lernbar. Es gibt zwischen dem, was ich in den folgenden Kapiteln sagen werde, und einem neuzeitlichen Lehrverfahren für Künstler einen starken gemeinsamen Nenner: die Abkehr von Wort und Intellekt zugunsten unmittelbarer Wahrnehmung von Strukturen, Zusammenhängen und Empfindungen. Den Verstand brauchen wir nicht weiter zu trainieren, das ist übergenug geschehen. Wir müssen das spontane, emotionale Entwicklungsdefizit aufholen. Ich habe aus den in dem bewussten Anfangssatz als Persiflage gedachten zehn Minuten täglich eine Reihe ernsthafter Übungen abgeleitet. In der Folge werde ich Sie bitten, von jeder wach verbrachten Stunde des Tages eine Minute zu opfern. Eine Minute, in der Sie Ihre Welt einmal mit anderen Augen betrachten. Mit anderen, freieren, unbefangeneren Sinnen. Eine Minute in jeder Stunde, in der Sie Ihre Vorurteile beiseite lassen und den Dingen Gelegenheit
geben, sich selbst zu äußern. Es sind im Grunde Ratschläge, denen ich die Gestalt kleiner Übungen gegeben habe. Es geht darum, auf der einen Seite endlich über den Schatten der eigenen Kindheit zu springen und sie endgültig hinter sich zu lassen, und auf der anderen, jene Gaben des Kindes, die einst so beglückend waren, wiederzubeleben und zur Flamme zu entfachen.
Bis hierher sind es Worte. Ich verwende Begriffe, die wir alle kennen, und sie erreichen die Instanz in Ihnen, die am allerwenigsten Vertrauen verdient, dass sie etwas Gescheites damit anfängt. Diese Instanz ist natürlich Ihr Intellekt, Ihr Verstand, und er ist an aller Glücksarmut und Isolierung vom Leben schuld. Ich sage nicht, Sie und der Rest der Menschheit seien an der heutigen emotionalen Notlage selber schuld. Im Gegenteil: Wir hatten allesamt nicht den Funken einer Chance. Einst waren wir klein und hilflos und ausgeliefert. Später, nach jahrelanger, in eine einzige Richtung zielender Gehirnwäsche dann genügend konditioniert, dass wir selber nicht mehr aus der Falle herausfanden. Dennoch beginnt irgendwo die Verantwortung für uns. An irgendeiner Stelle sollte der Schnittpunkt sein, an dem wir sagen: bis hierher und nicht weiter. Bis zur Stunde haben wir vor uns hingewurstelt; so gut es eben ging, hat jeder versucht, zurechtzukommen und den gröbsten Unannehmlichkeiten auszuweichen. Geborgen in der Herde trägt man leichter am eigenen Los, wenn’s den anderen genauso ergeht. Man hat Leidensgenossen und die Konformität der Schicksalsgemeinschaft einer emotional ausgedörrten Gesellschaft. Machen Sie jetzt den entscheidenden Schnitt. Treten Sie aus der Gemeinschaft der Schafe und der Dressierten heraus. Wir wollen miteinander lernen, wie aus Pflichtbewusstsein Verantwortungsgefühl wird, wie ein neues, starkes Gefühlsleben sich mit dem Intellekt zu Vernunft vereint, wie Bindung ihre Macht verliert und Platz für Autonomie schafft und wie analytisches Arbeiten einem spontanen, produktiven Tätigsein weicht.
Liebe Sabine Fischer,
herzlichen Dank für den spannenden Artikel. Ich freue mich schon jetzt bereits auf die folgenden Beispiele und Übungen. Nochmals, vielen Dank auch für die Mühe, die Sie für uns auf sich nehmen.
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Peter Vagt aus Hamburg
Liebe Frau Fischer, wenn man auch nicht immer einen Kommentar abgibt,sind die Texte von Herrn Fischer eine Bereicherung und eine Herausforderung wach zu bleiben.
In diesem Sinne viele liebe Grüße Gitti Haas
Liebe Frau Fischer,
ein großes, herzliches Dankeschön für die Weiterführung der wunderbaren Veröffentlichungen aus dem Gedankengut Ihres sehr geschätzten Mannes. Die Tiefe und große Bedeutung der Inhalte aller seiner Werke begleiten mich schon viele Jahre und werden weiterhin mein Leben bereichern.
Weiterhin viel Kraft und alles alles Gute für Sie!
Liebe Grüße Ihre Brigitte Toischer