Sie wissen, was da rückgeführt wird? Sie selbst, in frühere Leben. Wobei Sie die Wahl haben, wie weit Sie zurück in die Vergangenheit gehen wollen. Zum Glück für die Anbieter dieser Dienstleistung wird für das Ausüben ihrer Tätigkeit keine behördliche Zulassung gebraucht, wie sie von Psychoanalytikern oder Heilpraktikern vorgelegt werden muss. Wer immer Lust hat, sich die notwendigen Branchenkenntnisse anzueignen, begegnet einem Überangebot an entsprechenden Kursen. Dennoch finden Rückführungen im Rahmen einer Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten statt. Diese „Therapeuten“ arbeiten je nach ihrer eigenen Methode mit leichter Trance, Hypnose, Meditation oder geistiger Versenkung. Der Patient teilt mit, welche inneren Szenarien er mit einem früheren Leben in Verbindung bringt, was er bei diesen Bildern denkt und welche Gefühle sie in ihm auslösen. Das Wechselgespräch zwischen Patient und dem Therapeuten kann unter Umständen helfen, akute Beschwerden zu erklären oder sogar psychosomatische Krankheitsursachen ans Licht zu bringen. Insofern besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit einer seriösen, professionell durchgeführten Psychoanalyse. Freilich mit dem Unterschied, dass bei der Rückführung der Patient sich seiner Traumen oder Sehnsüchte gegebenenfalls nur im Rahmen der Illusion von einem früheren Leben bewusst wird.
Warum will ich wissen, wer ich einmal war, wenn ich noch nicht mal verstehe, wer ich heute bin? Die Sehnsucht nach Informationen aus der Vergangenheit sind Ausdruck einer großen inneren Not – hier wird nach etwas gesucht, das in der erhofften Form gar nicht existiert, nicht existieren kann – aber jeder geschickte Anbieter hat keine Schwierigkeiten, den betroffenen Menschen ihre Illusionen zu bestätigen. Seit jeher ist der Mensch offen für die Suggestion, egal, ob er sich diese selbst zufügt oder ob sie ihm von außen angeboten wird. Im Sinne des taoistischen Denkens, nach dem der Grund der Dinge und die Identität des Individuums nicht getrennt voneinander sind, könnte eine so genannte Rückführung vielleicht sogar die Phantasie zu einem Blick in jene Vergangenheit anregen, als es außer der Ur-Energie noch gar nichts gab, also eine emotionale Rückführung in die Ur-Identität allen Seins. Das würde für jene Menschen Sinn machen, die Probleme damit haben, die ideelle Trennung zwischen ihrer Person und den Vorgängen Ihres Lebens aufzulösen. Wenn der Mensch ein Gefühl für seine gegenwärtige kollektive Identität aufbringen könnte, wäre ihm bewusst, dass er außer der Menschheit auch die Blume draußen vor der Tür ist und der Mond und die Sterne. Ein unter ehrlichen Bedingungen ausgelöster Blick in die Vergangenheit müsste damit seine zu allen Zeiten schon vorhandene Multi-Identität offenbaren: er ist Kaiser Nero ebenso gewesen wie der Esel, der einst einen Heiligen von Ort zu Ort trug – und er war auch alle Grashalme dieser Welt. Ein unbekannter Dichter des indianischen Makah-Stammes trifft den Nagel auf den Kopf:
Steht nicht an meinem Grab und weint.
Ich bin nicht da, ich schlafe nicht.
Ich bin in tausend wehenden Winden.
Ich bin der glitzernde Diamant auf dem Schnee.
Ich bin die Sonne auf dem reifen Korn.
Ich bin der weiche Septemberregen.
Wenn du erwachst in der Stille des Morgens,
bin ich im huschenden Flug eines Vogelschwarms.
Ich bin das zärtliche Licht der Sterne,
die leuchten des Nachts.
Steht nicht an meinem Grab und weint;
Ich bin nicht da, ich bin nicht gestorben.
Er verfasst diesen Text ja zu Lebzeiten und drückt damit aus, dass er h e u t e bereits all das ist, wovon er schreibt.