Selbsterkenntnis

Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.

                                                       Hermann Hesse

 

Hesse macht hier etwas deutlich, das wir nicht so gerne über uns hören möchten. Jeder Mensch formt über sich ein Selbstbild, das gewiss wahre Züge trägt, aber auch von Wunschdenken oder einfach von Phantasie geprägt ist. Und es kommen in diesem selbst verfassten Bildnis nur bei Menschen, die sich gegenüber sehr ehrlich und realistisch sind, Charakterzüge vor, die wir im Grunde bevorzugt den anderen andichten. Wer gibt schon gerne zu, dass er ein Geizhals ist, ein arbeitsscheuer Faulpelz oder ein Betrüger in Liebesdingen. Und wer nicht genügend ehrliche Selbstkritik aufbringt, wird an diesen Zuständen auch nichts zu verändern suchen. Man ist mit sich zufrieden und lastet die eigenen Fehler den anderen an.

Aber für Menschen, die sich bessern wollen, liefert Hesse hier ein Rezept, das alle Eigenschaften des Gelingens für einen Wandel in sich trägt: Wir brauchen gar keine Innenschau zu halten – es genügt, wenn wir beobachten, wie wir emotional auf unsere Mitmenschen reagieren. Unsere negativen Urteile über andere sind zugleich ein Richterspruch über uns selbst: Was ich meinem Nächsten anlaste, trage ich selbst in mir. Und frei werde ich von diesen hässlichen Wesensmerkmalen, indem ich sie jedes Mal, wenn ich eines davon gegen andere richte, umkehre und damit auf mich selber zeige. Das ist jetzt zwar ein symbolischer Satz, eine Metapher, aber sie ist im praktischen Einsatz leicht umzusetzen. Wenn ich den Nachbarn für einen Idioten halte, drehe ich den Blick um in meine Richtung – und merke dabei, dass ich gar nicht sicher bin, selber dieser Idiot zu sein.

Der langen Rede kurzer Sinn: Wir alle werfen in unseren Urteilen über andere mit Charaktereigenschaften um uns, die wir zwar gerne unseren Mitmenschen unterstellen, aber ohne sie auch auf uns zu beziehen. Doch diese Bewertungen sind in ihrer tiefsten Bedeutung auch Regungen unseres Unbewussten, die uns die Wahrheit über den eigenen Charakter signalisieren. Wer sich also in diesem Sinne bessern will, braucht nur darauf zu achten, wie und was er über andere fühlt und denkt. Denn damit legt er bereits den Zustand seines eigenen Wesens frei. Und dieser ist damit auch reparabel.

 

 

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2 Antworten zu Selbsterkenntnis

  1. thomas sagt:

    wohl wahr. Die Ausmaße unserer Werturteile gegen andere, ist das Ausmaß unserer eigenen Persönlichkeitsbaustelle. Die obige Sichtweise ist daher ein sehr wertvolles und wirkungsvolles Tool, um das persönliche Wachstum durch Reflexion voranzutreiben. Ein objektiver und unerbittlicher Gradmesser der eigenen Defizite, der uns zu einer förderlichen Einstellung verhilft.

    Selbst dann, wenn die ihm zu Grunde liegende Logik zwar nicht vollends falsch, aber doch zumindest gefährlich unvollständig ist. Denn in ihr steckt weit mehr, als nur der gelungene Zirkelschluss der Erkenntnis. Sie verzichtet nämlich auf eine Suche nach den Quellen der Vorurteile und Abwertungen und unterstellt wortlos, sie wäre bei allen gleich groß, gleich existent, oder eben nicht existent. Sie ignoriert, dass der Punkt, an welchem jeder steht, das Ergebnis eines höchst individuellen Lebens ist. Eines im Strome der Förderung oder eines im Dunkel der Behinderung. Der zu überwindende Abstand zwischen dem Ist-Zustand und der eigenen Mitte ist daher auch bei jedem anders groß und die Nivellierung dieses Umstandes führt oft zu einer weit verbreiteten Unkultur unserer Zeit: aus Opfern immer wieder Opfer zu machen.

    Das Wissen über das Leben oder die Welt, welches wir zweifelsfrei erlangen können, ist nur verlässlich in Bezug auf uns selbst. Jeder Versuch in das Leben der anderen hinein zu deuten, führt uns selbst (oder schlimmer noch) den anderen in die Irre. Hermann Hesse ist ein Wissender seines Lebens und ich bin ein Wissender meines Lebens. Voneinander können wir jedoch lediglich eine Meinung haben und die ist regelmäßig falsch.

    In diesem Sinne ist die oben postulierte Selbsterkenntnis auch ein „Urteil“ über den, der besonders viele Vorbehalte und negative Urteile mit sich herum trägt und mit seinem naturgemäß häufigeren Scheitern gegen die übermächtigen Schatten seiner Geschichte so lange verfangen bleibt, bis die sogenannte Erkenntnis auch die unterschiedlichen Mittel und Ausgangspunkte der verschiedenen Menschen anerkennt, relativiert und zueinander in Beziehung setzt.

    Was heißt das konkret? Krishnamurti bspw. kann nicht „verstehen“, was die von ihm geforderte Rebellion gegen die Umstände für den benachteiligten, diskriminierten, existentiell abhängigen und bedrohten, gewöhnlichen Menschen zu einer lebenslangen Katastrophe führen wird, weil er eben kein „unabhängiges“ Leben in einer Wolke aus Bestätigung, materieller Versorgung, etc. leben kann, wie es Krishnamurti vergönnt gewesen war. Oder provokant gefragt: Ist Krishnamurti ein Weiser, weil er ausgewählt wurde, oder wurde er ausgewählt, weil er ein Weiser war?

    Dieser Einwurf ändert nichts daran, das ein Hesse, oder Krishnamurti wichtige und unverzichtbare Beiträge für die menschliche Zivilisation und ihrer Fortentwicklung geliefert haben. Er soll aber dafür sensibilisieren, dass es zumindest unvollständig ist, aus exponierter Position allgmeingültige Erkenntnisse für das Leben zu verbreiten. Denn möglicherweise gibt es auch noch viele andere, unbekannte, aber ebenso „richtige“ und auch wichtige Erkenntnisse, die nur nicht bekannt sind, weil sie nicht gefördert werden, wie zbsp. Krishnamurti. Ein vollständiges, „universelles“ Verständnis ist aber ohne sie nicht möglich. Es dennoch zu postulieren, kann daher neben einem Beitrag zur Aufklärung, interessanter Weise auch gleichzeitig einen Beitrag zur Verwirrung leisten. Die jeweiligen Anteile sind von Menschen zu Menschen, von Leben zu Leben unterschiedlich. bei dem einen überwiegt das eine und bei dem anderen das andere. Nur, das den anderen niemand kennt, weil er keine Stimme hat…

  2. Tair Y. sagt:

    Hermann Hesse hat die Gebote des Gewissens begriffen. Es gibt Wenige, die in der Lage sind den Sinn nicht aus den Augen zu verlieren. Dadurch erlangen sie Möglichkeiten ihren Geist mitten in der Hektik völlig ruhig weilen zu lassen. Die Größe dessen wörtliche Beschreibung zu geben würde endlos dauern, da der Sinn sich an die Umstände anpasst und ist Nichts konstantes. Deswegen wird er dem Element Wasser gleichgesetzt. Danke für das schöne Zitat.

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