Was du zusammendrücken willst, das musst du erst richtig sich ausdehnen lassen.

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Was du zusammendrücken willst, das musst du erst richtig sich ausdehnen lassen.       Was du schwächen willst, das musst du erst richtig stark werden lassen.                        Was du vernichten willst, das musst du erst richtig aufblühen lassen.                              Wem du nehmen willst, dem musst du erst richtig geben.

Als Eröffnung möchte ich an Stelle einer metapherschweren Auslegung des Laotse-Textes eine kleine Episode zum Besten geben, in der speziell die Anwendung der Ratschläge aus dem 36. Spruch zum Tragen kommt. Wir hatten 1996 bereits unser Haus in Frankreich via Vorvertrag an ein deutsches Architekten-Ehepaar verkauft, als der Besitzer unseres Objektes in Italien auf Drängen seiner Kinder die Zusage zurücknahm, es uns zu geben. Weihnachten stand vor der Tür und wir lebten quasi in einem Haus, das uns juristisch nur noch bedingt gehörte. Nach den Feiertagen rief uns der französische Notar an und riet, wir sollten den notariellen Kaufvertrag noch vor Jahreswechsel ratifizieren, weil ab Januar die Grunderwerbsteuer drastisch erhöht werde. Wir mussten ergo entscheiden, ob wir unsere potenziellen Käufer weiter hinhalten sollten oder Nägel mit Köpfen machen samt dem Risiko, gewissermaßen für einige Zeit obdachlos zu sein. In dieser Situation kam mir das obige Zitat von Laotse in den Sinn und ich schritt zur Tat. Ich ging das Wagnis ein und informierte unsere Käufer, dass bis spätestens 31. Dezember aus den besagten Gründen der Kaufvertrag unter Dach und Fach gebracht werden müsse. Der Entschluss zahlte sich aus: das Käuferpaar lehnte empört den Weg zum Notar ab, man habe das Geld so kurzfristig nicht bereit und sie würden darum vom Vorvertrag mit sofortiger Wirkung zurücktreten. Wir hatten also unser Haus mit allen Rechten wieder – Laotses Rat hatte ins Schwarze getroffen.

Das Weiche siegt über das Harte. Das Schwache siegt über das Starke, setzt Laotse seine Epistel über das Gegensatzpaar von Zielsetzung und Handeln an anderer Stelle fort. Doch Vorsicht, speziell bei dem oben wiedergegebenen Textauszug. Sie können daraus keinen kategorischen Imperativ für ein unter allen Umständen richtiges Handeln ableiten.  Man muss tief graben, um zu realisieren, wie sich Laotses Paradoxa, die stark an die versponnenen Reden Chuang tzus erinnern, im alltäglichen Leben überhaupt sinnvoll anwenden lassen. Das Tao te king darf nicht mit der Bibel verwechselt werden, es ist keine altchinesische Ausgabe der Heiligen Schrift. Was im Tao te king geschrieben steht, sind Empfehlungen, keine Gebote. Die taoistische Philosophie ist nach den fundamentalen Einsichten über die Einheit der Dinge vor allem eine Lehre, die Hinweise für intelligentes Handeln gibt. Oft sind diese Hinweise verschlüsselt und vielfach leider auch durch mehrfache Übersetzung verstümmelt wiedergegeben oder durch die subjektive Einschätzung des Übersetzers zum Teil ihres Sinnes beraubt. Sie können darum manche der alten taoistischen Texte nur verstehen, wenn Sie das Grundprinzip verstanden haben und aus diesem Denken heraus den Einblick gewinnen, was die Weisen einst zu vermitteln suchten. Den umgekehrten Weg zu gehen, wenn Sie etwas erreichen wollen, entspricht dem homöopathischen Prinzip. Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, hatte herausgefunden, wie Krankheiten dadurch geheilt werden können, dass man den Leidenden winzige Dosen bestimmter Pflanzenextrakte verabreicht, welche genau die Krankheit erzeugen, die sie kurieren sollen. So wird das körpereigene Abwehrsystem zu verstärkter Aktivität herausgefordert und auf diese Weise der Heilungsprozess eingeleitet.

Hahnemanns Denken stimmt mit Laotses Gedankengängen überein: In manchen Lebenssituationen erreicht man sein Ziel am ehesten – und oft auch am mühelosesten – indem man ein Problem nicht dadurch löst, dass man es bekämpft, sondern indem man noch mehr von dem Stoff, der es erzeugt, hinzugibt. Ich will sogar noch einen Schritt weiter gehen. Speziell in der Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern, bei Beziehungsproblemen und den Versuchen, sie zu lösen, scheint mir der Rat, was du schwächen willst, musst du erst richtig stark werden lassen, äußerst wirkungsvoll. Denken Sie einmal nach: Wie verhielten Sie sich beim letzten Streit mit Ihrer(m) Liebsten? Sie waren sich sicher, im Recht zu sein und verteidigten Ihren Standpunkt. Und bekamen Gegenwind, indem Ihnen widersprochen wurde. Es entwickelte sich ein verbales Ping-Pong-Spiel, bei dem am Ende jeder erschöpft und frustriert war, und keiner gewonnen hatte. Das Gleiche gilt für Anschuldigungen, denen jeder von uns gelegentlich ausgesetzt ist. Sie mögen gerechtfertigt sein oder auch nicht, derartige Debatten nehmen fast immer den gleichen Verlauf. Sie halten eine Verteidigungsrede und spüren, während Sie sich gegen Vorwürfe wehren, wie schwach Ihre Argumente beim Gegenüber ankommen. Selbst im Unschuldsfalle haben Sie von sich den Eindruck, Sie würden irgendwie verbal Schuldgefühle kompensieren. Der ganzen Auseinandersetzung fehlt – selbst bei erheblicher Lautstärke – jede Kraft. Schweigen ist die bessere Verteidigung, Sie verwirklichen in Konfliktsituationen damit das Prinzip des Nichthandelns. Sie lassen Tatsachen sprechen anstelle von Behauptungen, denen auf der Gegenseite nur auch wieder verbale Anschuldigungen gegenüber stünden. Und dort, wo Sie Unrecht ausgesetzt sind, gegen das zu wehren Worte auch im günstigsten Fall nicht helfen, erschaffen Sie im Stillesein Wirkungen, die weit über unsere intellektuelle Vorstellungskraft hinausgehen.

Denken Sie an Phasen, wo eine Verbindung zu Ende geht. Zum Beispiel erklärt eine Frau ihrem Freund oder Lebenspartner, sie wolle ihr eigenes Leben leben, unabhängig von einem Menschen, dem sie ständig Rede und Antwort stehen soll, was sie plant, tut oder unternommen hat. Hier begehen die allermeisten Betroffenen den Fehler und geben diesem kaum zu bändigenden Reflex nach, ihre Liebste auf der Stelle zu bedrängen und in immer verhängnisvolleren Sätzen nachzufassen. Ein Mann (das trifft analog auch umgekehrt zu, wenn der Frau das Verlassenwerden angekündigt wird) hat in einer derartigen und leider in unserer Gesellschaft beinahe alltäglichen Krise eine einzige Chance, die Dinge doch noch zu wenden: Indem er zustimmt. Indem er sagt, du hast Recht, mach dich frei, entferne mich aus deinem Leben. Eine solche Reaktion wird, sofern die Situation nicht bereits hoffnungslos verfahren ist, am ehesten bewirken, dass der Abschied nehmenden Geliebten unversehens doch noch Bedenken kommen. Dass sie sich insgeheim vielleicht wünschte, er möge Worte finden, hässlich genug, um sie endgültig in die Freiheit zu stoßen oder es steigt ein Gefühl von Verlust empor, weil anstelle weiterer Umklammerungsversuche sich plötzlich ein Vakuum auftut. Nehmen wir ein Szenarium, in dem Sie einen treulosen Mann haben und sich einen treuen wünschen. Ihnen ist klar, dieser Mensch wird sich außer leeren, haltlosen Gelöbnissen niemals wirklich ändern. Laotses Umkehrprinzip würde Ihnen in dieser Situation raten, den Treulosen ungehindert seine Spielchen spielen zu lassen. Sie schauen zu, wie sie ausufern, was bewirkt, dass alle Liebe stirbt und nur noch der heftige Wunsch nach einem Hebel übrig bleibt, die Atmosphäre zu reinigen. Man lässt den Krug zum Brunnen gehen, bis er bricht. So wird schließlich emotional und materiell der Weg für eine neue, ehrliche und glückliche Beziehung frei.

Laotse empfiehlt keineswegs, grundsätzlich das Gegenteil dessen zu tun, was man erreichen will. Wenn ich Durst habe, dann trinke ich und wenn Zeit fürs Abendbrot ist, dann esse ich etwas. Die Weisheit beruht auf der Kunst zu erkennen, wo es intelligenter ist, das Gegenteil von dem zu tun, wozu Verstand und Wille drängen. Denken Sie an das Gleichnis von der Weide, die bei Schneefall ihre Zweige nicht gegen die zunehmende Last stemmt, sondern weich und biegsam nachgibt, bis der Schnee von seinem eigenen Gewicht getrieben zu Boden fällt. In den oben skizzierten und zahllosen weiteren Szenarien zwischenmenschlicher Konflikte kann Laotses Rat verblüffende Ergebnisse auslösen. Im Schwachsein ruht die Stärke. Doch dort, wo allein eine kraftvolle Aktion zum Ziel führt, selbst wenn diese mit dem Risiko von Verlust behaftet ist, sollten wir auch die Courage aufbringen, jenem Impuls zu folgen, der uns im Augenblick der Konfrontation berührt.

 

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