So beginnt ein Gedicht, das ich früher oft in Seminaren und heute noch gerne bei Ferienkursen verwende. Vollständig lautet es:
Wenn ich aufmerksam schaue,
Seh ich die Nazuna an der Hecke blühen.
(Basho)
Wenn ich bei Kursen nach seiner Bedeutung frage, lautet die Antwort logisch und klar: „Wir müssen aufmerksamer sein, als wir es allgemein tun, die Dinge schauen, die vorhanden sind, statt ständig abzuschweifen.“
Als zweiten Teil der Aufgabe schließe ich an Bashos Text ein Gedicht von Tennyson an mit der Rückfrage, wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Beide Dichter sprechen von einer Blume, aber bei der Übung geht es darum, den fundamentalen Unterschied zweier Geisteshaltungen erkennbar zu machen.
Blume in der geborstenen Mauer,
Ich pflücke dich aus den Mauerritzen,
Mitsamt den Wurzeln halte ich dich in der Hand,
Kleine Blume – doch wenn ich verstehen könnte,
Was du mitsamt den Wurzeln und alles in allem bist,
Wüsste ich, was Gott und Mensch ist.
(Tennyson)
Auch hier fällt die Reaktion auf den Dichter klar und deutlich aus: Tennyson reißt die Blume aus und zerstört sie. Und dann beginnt er zu jammern, dass er nicht das Geringste versteht. Richtig. Aber sind beide Schlussfolgerungen, die aus den Texten gezogen werden, im Sinne taoistischen Denkens auch vollständig? Gut, Basho war ein Weiser und Tennyson ein professioneller Schreiber. Und dem Letzteren muss man einiges zugute halten, wenn man sich ein Beispiel aus seiner Kindheit vor Augen hält. Da saß nämlich der junge Tennyson am Tisch und sah seinem Vater zu, wie dieser eine Suppe löffelte. „Darf ich mal probieren?“ fragte er. Er bekam den Löffel und kostete. „Oh, ist die aber gut“, rief er aus. „Was!“ brüllte sein Vater, riss ihm den Löffel aus der Hand und schlürfte einen Mundvoll Suppe. „Ja, die ist zu gut“, grummelte er – und schüttete Wasser hinein! Das sagt genug über den damaligen Geist der Pilgerväter aus und macht Tennysons verbalen Fehltritt mit der gekillten Blume verzeihlicher.
Bringen Sie die Willenskraft auf, an dieser Stelle für eine Weile mit Lesen aufzuhören und ehe Sie die Lektüre dieses Textes fortsetzen, selbst einmal zu überlegen, was die beiden Gedichte über den normalen Kommentar hinaus weiter aussagen?
Wenn unser eigener Sinn jenem des weisen Basho gleicht, dann hat das eine tiefere Bedeutung als nur eine erhöhte Aufmerksamkeit. Bashos Blick auf die Nazuna – das ist ein ganz bescheidenes kleines Blümchen – ist frei von Gier gewesen, er hat mit einem offenen Herzen und ohne alles Begehren auf das Pflänzchen geschaut. Und er hat das, was er wahrnahm, verstanden! Tennyson dagegen war von Anfang an voller Verlangen. Er wollte die Blume besitzen und sein gieriger Geist verlangte Auskunft von ihr, Antworten auf Fragen, die ihn bewegten. Doch so funktioniert Erkenntnis nicht. Tennyson zerstört die Blume, statt sich an ihr zu erfreuen und ihr durch liebevolle Beobachtung Gelegenheit zu geben, sich ihm mitzuteilen.
Wenn es uns gelingt, wie Basho auf die Dinge zu schauen, wird damit wie von selbst auch das Verständnis dafür verbunden sein. In der Alltagspraxis bedeutet das, dass wir zum Beispiel auf ein augenblicklich auftretendes Problem, auf irgendeine Herausforderung oder auch nur auf einen schönen Anblick frei von dem Verlangen schauen können, auf der Stelle etwas daran zu verändern. Wir sind doch im Allgemeinen ständig irgendwie geistig in Opposition zu den Dingen, die sich vor unseren Sinnen ausbreiten. Der Verzicht auf dieses Verlangen, alles permanent im Griff zu haben und zu behalten, öffnet unserem Geist jene Dimension, welche uns die Dinge verstehen lässt. Und aus diesem Verstehen – und nicht daraus, dass wir sie beherrschen – teilen sich dann auch die Impulse für intelligentes Entscheiden und Handeln mit. Also: Achten wir – Sie und ich – darauf, in Zukunft mit weniger oder gar keiner Gier auf die Bewegungen unseres Lebens zu schauen. Es lohnt sich. (nach D.T. Suzuki „East and West“ 1960)
Lieber Herr Fischer,
Bashos aufmerksames Schauen scheint die Blume erst richtig zum Aufblühen zu bringen. Sein Blick schenkt und empfängt gleichermaßen.
Ich glaube, Basho ist sich dieses Gebens und Nehmens in Einem sehr bewußt.
Was für ein Aufblühen muss es da erst recht für Menschen bedeuten, wenn sie Andere und sich selber einmal auf diese Weise anschauen könnten… und sei es nur ein kurzer Augenblick 🙂
Danke für das schöne Gedicht,
Taononymus
Eine Frage die mich immer wieder beschäftigt ist….kann aus einem TENNYSON ein BASHO werden? Ich habe von diesen beiden Dichtern bis heute nichts gehört, doch diese Geisteshaltung zieht sich durch die Gesellschaft. Die einen versuchen das Leben zu lieben und zu fördern, während die anderen auf Zerstörung aus sind-das muß nicht gleich Krieg sein. Im alltäglichen,bei den kleinsten Dingen erkennt man sofort „welch Geistes Kind“ jemand ist.
Taononymus schreibt den schönen Satz : Sein Blick schenkt und empfängt gleichermaßen…. gefällt mir gut.
Liebe Grüße Gitti
jaaaaaaaaaaaa! davon bin ich überzeugt. Es wäre schrecklich, wenn es anders wäre.
Gruß
Sabine
Hallo Gitti und Sabine,
mag sein dass es etwas „naiv“ ist, aber ich glaube alle Menschen werden als Bashos geboren. Man sieht es an den Kindern, wie sie ihre Welt mit ihrem Blick verzaubern.
Um die „Tennysons dieser Welt“ aus ihnen zu machen, braucht es eine ganze Menge, beispielsweise die Art so genannter „Erziehung“, die Theo in seinem Beitrag bezüglich Tennyson’s Familienhintergrund durchblicken lässt, oder noch Schlimmeres.
Die Flogen dann später im Leben wieder rückgängig zu machen ist ein langer Weg, aber diesen Weg gibt es prinzipiell für jeden. Fragt sich nur, ob er oder sie ihn auch geht 🙂
Viele Grüße,
Taononymus
Lieber Taononymus,
eine feine Idee, das auf Menschen zu übertragen! Wie wahr!
Ästhetik wurde unter anderem mal definiert als „interesseloses Wohlgefallen“.
Basho hatte in diesem Sinne ein ästhetisches Erlebnis, während Tennyson – ganz Interesse – davon weit entfernt war. Mehr noch: ich glaube, dass Basho eine tiefe stille Freude angesichts der Blume empfand. Bei Tennyson kann ich nichts dergleichen erkennen.
Ich denke, das entscheidende Wort in Bashos Haiku ist „wenn“.
Nur wenn ich aufmerksam schaue, bemerke ich überhaupt erst die unscheinbare Blume in der Hecke. Andernfalls würde ich achtlos daran vorbei laufen. Das Gleiche geschieht mit meinen Mitmenschen.
Der nächste Schritt ist, es beim Schauen zu belassen. Damit erweise ich der Blume Achtung und Respekt. Ich lasse sie, wie sie ist. Nehme ich Tennysons wissenschaftlich sezierende Haltung ein, wird die Blume zum Objekt. Beim bloßen Schauen bleibt sie ein Subjekt. Ebenso bei Menschen.
Die Ironie von Tennysons (und aller sogenannten Naturwissenschaften) Bestreben ist, dass er sich von einem toten Objekt Erkenntnis über das Leben erhofft. Immerhin scheint er zu ahnen, dass selbst in dieser kleinen Blume alle großen Erkenntnisse über Gott und die Welt enthalten sind.
Herzliche Grüße,
Matthias
Lieber Matthias,
beim Menschen kann Bashos aufmerksames Schauen glaube ich auch als aufmerksames Zuhören daher kommen.
Das wäre das Zuhören eines Menschen, der Worte und Stimme eines anderen als Ausdruck seiner Person wahrnimmt, der er gestattet zu ihm, dem Zuhörer, hindurch zu dringen, um ihr begegnen und wirklich antworten zu können.
Im Zeitalter der beinahe totalen Visualisierung jeglicher Kommunikation ist das vielleicht ein exotischer Ansatz geworden. Fragt sich nur, ob dies den Menschen wirklich so viel nutzt wie sie immer glauben 😉
Herzliche Grüße zurück,
Taononymus
Lieber Taononymus,
ein guter Punkt!
Bezieht sich deine abschließende rhetorische Frage auf die totale Visualisierung?
Wie alles Totale kann es letzten Endes nur schaden.
Das Problem ist ja nicht nur die einseitige Bevorzugung eines Sinneskanals. Man weiß inzwischen, dass jeder Mensch einen bevorzugten Sinn hat, der auch beim Lernen eine wichtige Rolle spielt. Manche lernen besser über optische Reize, andere über akustische, wieder andere über Berührung oder Bewegung.
Schlimmer ist die akustische Umweltverschmutzung. Augen kann man schließen, Ohren bekanntlich nicht.
In Bezug auf aufmerksames Sehen/Hören ergibt sich daraus die Schwierigkeit, einerseits offen zu sein, andererseits aber sich nicht zumüllen zu lassen und in all dem optischen/akustischen Überangebot doch die kleine blühende Blume in der Hecke oder die besorgten Worte eines Menschen wahrzunehmen.
Noch schlimmer ist, dass vieles nur noch bruchstückhaft angeboten wird. Es gab Zeiten, da wurde auch Pop- oder Rockmusik im Radio vollständig gespielt, sozusagen vom Aufsetzen des Tonarms auf die Platte bis zu seinem Abheben von der Platte. Schon lange werden solche Stücke am Anfang und am Ende gekappt, indem entweder ein Moderator reinquatscht oder einfach früher ausgeblendet wird.
Und diese Bruchstücke werden in immer höherer Frequenz dargeboten.
Wie sollen Leute da Bashos Art zu hören und zu sehen lernen, geschweige denn praktizieren?
Herzliche Grüße,
Matthias
Lieber Matthias
Mir fällt dazu Krishnamurtis Satz ein „ohne Selbsterkenntnis gibt sich das, was unsterblich ist,(Bashos Blick) nicht zu erkennen“.
Mit diesem an sich selbst gereiften,gefestigten Blick, ist man besser gewappnet in den alltäglichen Ablenkungen.Erst aus dieser inneren Sicherheit habe ich das Bedürfnis in echter Zuneigung auf Andere zuzugehen.
Warum sich der eine entschließt diesen Weg(trotz schlechter Erfahrung) zu gehen und der andere nicht….. weiß ich nicht!
Liebe Grüße Gitti
Lieber Theo,
liebe LeserInnen,
….. Das Gedicht von Basho ist deshalb so ansprechend, weil hierin der „Geist“ zum Ausdruck kommt, der uns die Gesamtheit der Schöpfung erfassen lässt.
Das Gedicht von Tennyson ist -leider- allzu menschlich…drückt aber vermutlich die „Geisteshaltung“ aus, der die meisten Menschen unterliegen, nämlich zu glauben bzw. der Überzeugung zu sein, dass der Mensch mit seinem, ihm anerworbenen Wissen diese Gesamtheit erforschen und ergründen kann, indem er den Dingen „auf den Grund“ geht.
Dabei verliert er aber exakt diese Gesamtheit aus dem Auge.
Und ich denke, in den meisten von uns „keimt“ dieser Gedanke von Tennyson immer mal wieder auf (?!) – auch, wenn wir alle lieber kleine „Bashos“ wären 🙂 ….
Mir persönlich gefällt daher Dein Hinweis besonders gut, dass wir die Dinge so -offen- sehen und betrachten sollten, wie sie sich „vor unseren Sinnen ausbreiten“ und nicht so, wie wir ‚glauben’ sie lösen oder in den Griff bekommen zu können. Das hat -neben dem Impuls für intelligentes Entscheiden- zudem auch etwas außerordentlich Entspannendes!
In diesem Sinne grüße ich herzlich
JE
Der Text, sowie die beiden Gedichte und derne Vergleich kommt genauso vor in Erich Fromm’s Buch „Haben oder Sein“. Zufall? 😉
Guter Mann und sehr lesenswertes Buch. Schön es hier wieder zu entdecken…
Hallo,
auch bei Osho „Intuition“ kommt der Vergleich der beiden Gedichte fast wortgleich vor. Erscheinung 2001. Das ist sicher kein Zufall. Trotzdem ist Osho lesenswert.
Hallo Goko, Osho ist sehr lesenswert …… ich bin gerade dabei…
liebe Grüße Gitti
Schöne Seite, wertvolle Anregungen! Worüber ich gestolpert bin: Wäre es nicht wünschenswerte Autorenpraxis, die gedankliche Quelle des Vergleichs dieser beiden Gedichte zu nennen: 1960 hat der Zen-Meister D.T. Suzuki in seinem Aufsatz „East and West“ beide Gedichte gegenübergestellt und damit die Gedanken entwickelt, die auf dieser Seite ausgetauscht werden. Ich fände es schön, wenn diese gedankliche Vorarbeit entsprechend gewürdigt wird.
ich habe einen entsprechenden Zusatz eingefügt.Auch wenn ich nicht der Autor bin. Sabine