Wiederkehr ist die Bewegung des Tao

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Wiederkehr ist die Bewegung des Tao                                                                                Sanftheit ist die Wirkung des Tao                                                                                                      Alle Dinge dieser Welt entstehen aus dem Sein                                                                           Das Sein entsteht aus dem Nichtsein

Die im vorigen Jahrhundert gewonnenen Resultate wissenschaftlichen Forschens über die Beschaffenheit von Mensch und Welt bestätigen verblüffend, was einst Laotse beim intuitiven Betrachten herausfand – und was sogar Konfuzius, ein leidenschaftlicher Pragmatiker, eingestehen musste. Das Universum ist nicht das feste, unzerstörbare Gebilde, das uns die Lehren von Newton, Kopernikus oder – bezogen auf unser Bewusstsein – Descartes beschreiben. Es bildet sich nach einem unglaublich komplizierten Bauplan kontinuierlich aus dem Nichts und entschwindet in extrem kurzen Zyklen wieder dahin zurück. Wobei zu vermerken wäre, dass ohne dieses Nichts die sichtbaren Formen gar nicht erkennbar wären. Das Nichts ist es im Grunde, das jeder Form, jedem Geschöpf seine Gestalt erst möglich macht. Rechnet man unser Wissen um die eigene Sterblichkeit hinzu und die Erfahrung der oft nur begrenzten Haltbarkeit vieler Dinge, die uns etwas bedeuten – bis hin zur sich verändernden Landschaft – dann entsteht ein Weltbild, dessen Grundprinzip von Anfang an Wandel und Unbeständigkeit zu sein scheint.

Bevor ich weiter schreibe, möchte ich diesmal ausnahmsweise Konfuzius zu Wort kommen lassen. Ich bin kein Anhänger seiner Lehren, aber was er im Zusammenhang mit Laotses Spruch zum Besten gab, hätte auch Chuang tzu gesagt haben können. Hier ein Textauszug:

Jan Tschiu fragt Konfuzius. „Meint Ihr, dass man je etwas über den Ursprung des Weltalls wird wissen können?“

Konfuzius antwortete: „Aber gewiss, das Längstvergangene ist doch genau wie die Gegenwart. Es gibt die Vergangenheit und die Gegenwart gar nicht, noch gibt es Anfang und Ende. Meint Ihr, dass es etwas gegeben hat, das vor der Entstehung des Alls bestanden hat? Dieses Etwas, das die anderen Dinge hervorbrachte, kann nicht selbst ein Ding sein, denn Dinge können nicht bestehen, bevor es etwas gibt. Es muss also etwas gewesen sein, was vor ihm war, und es muss etwas gegeben habe, was sogar früher war als das vorhergehende Etwas.“

Lin Yutang fasst Laotses Spruch so zusammen:

Wiederkehr ist die Wirkung des Tao. Das Tao ist ohne Anfang und ohne Ende. Das Materielle wird geboren und stirbt, ohne dass Anerkennung für seine Entwicklung gefordert würde. Leere und Fülle wechseln ab, ohne dass ihre Beziehungen festgelegt wären. Die Aufeinanderfolge von Werden und Vergehen, Zunahme und Abnahme geht im Kreis, wobei jedes Ende zu einem neuen Anfang wird. Nur in diesem Sinne dürfen wir über die Wege der Wahrheit und die Prinzipien des Alls sprechen. Das Leben der Dinge verläuft wie ein vorüberstürmendes, galoppierendes Pferd, das bei jeder Wendung und zu jeder Stunde die Richtung ändert. Was soll man tun und was nicht tun? Lasst den Kreislauf der Wandlungen von selbst weitergehen.“

Im Teilchenbereich zerfallen und wiedererstehen die Bausteine der Moleküle unserer DNA-Ketten, die den Fortbestand unserer materiellen Gestalt in ihrer Originalform sicherstellen, kontinuierlich in Sekundenbruchteilen. Schauen Sie auf Ihre Hand, die dieses Buch hält: Während Sie Ihre Finger betrachten, den Daumen, die Nägel, die feinen Kapillaren auf der Hautoberfläche, die Härchen und was immer Sie wahrnehmen, verschwindet dieses Körperglied im Verlauf der kurzen Beobachtung unzählige Male im Nichts und bildet sich durch den Tanz der Teilchen neu. Der Gedanke, diese wellenartige Vibration würde nur eine Zehntelsekunde aussetzen und mit Ihrer Hand oder dem kompletten Körper wäre es vorbei, löst doch ein eigenartig beunruhigendes Gefühl aus und Sie denken lieber nicht über die Konsequenzen nach. Dennoch ist es ungemein heilsam und zum Verständnis des kosmischen Geschehens unerlässlich, dass wir uns ab und zu die Feinstofflichkeit unserer Welt samt unserer werten Person bewusst machen. Vielleicht führt eine solche Betrachtung dazu, dass wir uns eine kleine Weile nicht mehr so wichtig nehmen. Mit wichtig nehmen  unterstelle ich nicht, dass Sie an chronischer Überheblichkeit leiden, narzisstisch überbesetzt sind oder einzig von krassem Egoismus angetrieben Ihren Mitmenschen begegnen. Ich denke dieses „Sich weniger wichtig nehmen“ sollte sich im Ablegen der Furcht um unser Weiterleben, um unseren temporären Fortbestand ausdrücken. Wir schälen uns in unserem Denken und Handeln reflexartig aus dem Gesamtgeschehen rings um uns heraus, so dass unser Bewusstsein, dessen Radius in Wirklichkeit unendlich ist, auf eine winzige Rinne reduziert wird. Auf die Rinne, die wir Ich nennen. Wir unterschätzen in allen unseren Lebensäußerungen das universale Gewicht unseres Bewusstseins, wir bilden uns ein, unser Gefühl, lebendig zu sein, wäre allein das unsere und wäre verschieden von jenem aller anderen Lebewesen. Wir halten unsere Erfahrungen von Freude, Glück, Schmerz und Leid für unser einmaliges, subjektives Erleben, und verweigern uns der Einsicht, dass wir dieses Ich-Gefühl mit allen Menschen und höchstwahrscheinlich mit allen Erscheinungen des Universums teilen.

Die Natur führt uns zu allen Jahreszeiten Tatsachen vor, die wir zwar, wenn es Herbst wird und Anfang November die Gedenktage an die Verstorbenen nahen, mit dem Tod in Verbindung bringen, aber eigentlich nie mit der ebenso konsequent von der Natur demonstrierten Wiederkehr. Die alten Weisen unterscheiden bei diesen Zyklen nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft. Werden und Vergehen erleben sie auch in Bezug auf die eigene Sterblichkeit als Kreislauf. Die indischen Lehren von der Seelenwanderung drücken diese Erkenntnis deutlich aus. Die Menschen vergehen und sie kehren wieder. Wo es im christlichen Glauben diese Wiederkehr nicht gibt, weil die Toten in andere Welten jenseits der Erde eingehen, hält in unseren Breitengraden dank New Age und Esoterik zunehmend die Überzeugung Einzug unter den Sympathisanten der diversen Heilspfade, dass das Individuum in zahlreichen Leben neu geboren wird. Der Mensch, so lauten die Thesen, ist sich dann zwar seiner vergangenen Erfahrung nicht bewusst, aber er trägt sie als Schicksal und Verpflichtung unsichtbar mit durch die nächst folgenden Inkarnationen. Und dies so lange, bis er endlich von allem Fehl geläutert ins Nirwana einziehen darf.  Die Vorstellung vom Nirwana beinhaltet das Ende des individuellen Bewusstseins, das sich in der Glückseligkeit des kosmischen Bewusstseins auflöst. Dem taoistischen Denken fehlen die Drohgesten der anderen östlichen Lehren ebenso wie deren weit in unermessliche Fernen verlegte Verheißungen. Und es fehlt ihm die Vision vom Himmel der Christen. Nirgendwo in den alten Schriften wird dem Menschen, vorausgesetzt, er tut dies und unterlässt das, ein Paradies versprochen. Die Botschaft in Laotses Sprüchen ist trotz des Schlüssels, in dem sie geschrieben wurde, klar und deutlich: Als Alternative zu Paradies und Seelenwanderung beschreibt der Taoismus unser individuelles Bewusstsein als identisch mit dem Bewusstsein des Grundes. Es ist überall im Universum zugleich vorhanden und aktiv. Wenn ein Leben zu Ende geht, bleibt dieses Bewusstsein erhalten, aber zugleich erfährt es die Vereinigung mit dem Nichts, in das es zurückkehrt.

Die Rückkehr zum Grund ist wie das Erwachen aus einem Traum, in dem wir uns als ein Individuum erlebten. Die Beschränkungen des Seins lösen sich auf,  das Gehirn, das für das Verständnis der Komplexität der Einheit noch nicht reif war, hat zu bestehen aufgehört. Der Mensch erlebt sich im Zustand der Vereinigung mit dem Unermesslichen als das Ganze, das den ewigen Zyklen folgend, sich erneut in der Vielfalt der Erscheinungen verströmt. Und mit diesem Strömen ist auch die Wiederkehr dieses Gefühls verbunden, das wir als menschlich bezeichnen und gegenüber anderem Leben als Monopol für uns in Anspruch nehmen.  In diesem Zustand der Ungeteiltheit von Sein und Nichtsein wird offenbar, dass alle Dinge, die wiederkehren, ebenso wir selbst sind, wie alles, was vergeht oder im Vergehen begriffen ist. Es ist wahrscheinlich, dass nichtsdestoweniger Ihr Dasein ein einmaliges Gastspiel auf Erden ist und dass – wenn dem Menschen je eine Aufgabe gestellt war – es die Herausforderung ist, zu Lebzeiten schon zu begreifen, dass Sie noch nie allein Sie selbst, dass Sie zu allen Zeiten mit der ungeheuren Vielfalt der Erscheinungen im Kosmos identisch waren. Und wo das Tao sich in der Erfahrung des Individuums selbst wieder erkennt, ist es nicht ausgeschlossen, dass nach der Rückkehr zum Grund ein völlig neues Spiel beginnt, von dem kein Irdischer etwas ahnt.

 

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