Der Begriff Wu nien kommt ab dem 6. Jahrhundert auch im Zen-Buddhismus vor. Mit einem Wort übersetzt bedeutet er Nicht-Denken, aber diese knappe Festlegung würde seinem Rang als Medium taoistischer Lebenskunst nicht gerecht. Gemeint ist vielmehr, den Geist ungestört und Gedanken kommen und gehen zu lassen, ohne sich um Nicht-Denken zu bemühen. Es gilt, Gedanken weder zu unterdrücken, noch sie festzuhalten, noch störend auf sie einzuwirken. Wu nien geschieht, wenn Fragen spontan und ohne Nachdenken beantwortet werden – oder aus dem Bauch heraus ohne Analyse auf der Stelle etwas entschieden wird. Wu nien ließe sich vielleicht besser als fehlende Hemmung interpretieren, das Fehlen hemmender Gedanken, die eine spontane, intelligente Tat ausbremsen.
Die Fähigkeit, spontan, in einem einzigen Augenblick die richtige Antwort, den absolut richtigen Impuls zu einer Handlung (oder je nach Sachlage, einer Unterlassung) zu finden, ist eine Gabe unseres Gehirns. Man lässt die Gedanken gewissermaßen ins Leere laufen. Als Zeit für eine richtige Entscheidung steht die knappe Pause zwischen zwei unserer ständig wechselnden Denkvorgänge zur Verfügung. Wir nutzen die Sendepausen unseres Denkapparates für den Empfang der Signale aus dem Unbewussten. Dazu gilt es zu verstehen, dass Zeit absolut kein Kriterium für die Genauigkeit einer intuitiv empfangenen Information ist. Unser Hirn liefert die Antwort auf eine Situation als Dauerton, solange wir mit dem Problem beschäftigt sind, aber es sind stille Töne, die aus der Tiefe anklingen und sie werden leider oft vom Lärm in unserem Kopf übertönt. Die Präsenz der intelligenten Antwort ist nicht das Problem – unsere Schwierigkeit besteht im ungestörten Empfang der Nachrichten aus dem Unbewussten. Dabei würde ein Sekundenbruchteil für die Kenntnisnahme einer Botschaft genügen, der Moment, wo der Lärm des Denkens eine seiner Pausen einlegt.
Bei einiger Aufmerksamkeit werden Sie wahrnehmen, dass Sie tagtäglich kleineren Herausforderungen an Ihren (wie wollen wir es nennen?) – Sechsten Sinn, Ihre Intuition, Ihren Instinkt begegnen. Zum Beispiel, wenn Ihnen zu spät die Karten für das Konzert am Abend einfallen, Sie einen Tisch beim Italiener wollen oder in der City einen Parkplatz brauchen, der nicht den Tagelohn eines Arbeiters kostet. Belassen Sie es bei kleinen Dingen, sparen Sie sich die großen Fragen auf, bis Sie bezüglich Ihres Vertrauens in die Weisheit des Tao besser im Sattel sitzen.
Diese Ausführungen wollen Ihre „Hörfähigkeit“ nach innen stärken. Wenn irgend ein Anlass in Ihrem Alltag auftaucht, der eine Entscheidung verlangt, oder eine Situation eintritt, die mehr Information fordert, als Sie gerade besitzen oder an die Sie sich momentan erinnern können, dann tun Sie folgendes: Seien Sie hellwach, richten Sie alle Ihre Sinne (aber bitte federleicht, ohne jede Anstrengung) auf die soeben entdeckte Herausforderung. In diesem Zustand feinster Achtsamkeit meldet sich augenblicklich die richtige Antwort. Es gilt nun hellhörig für diese Antwort zu werden. Erwarten Sie kein Bild und keinen Text, Intuition bedient sich keines dieser Mittel. Aus der Tiefe Ihres Unbewussten fließt Ihnen nonverbal Wissen zu. Ihr Denken wird sich dieser Information annehmen und sie in Sätze und bildhafte Vorstellungen umsetzen – aber dies geschieht danach, nachdem Sie die Botschaft pur zur Kenntnis genommen haben.
Folgen Sie diesem Impuls ohne Nachdenken, ohne Analyse, ohne Zweifel Tun Sie, was aus Ihrem Unbewussten aufsteigt und tun Sie es ohne Wenn und Aber. Bei den empfohlenen kleinen Dingen passiert nicht viel, wenn Sie anfangs hin und wieder daneben liegen. Im schlimmsten Fall werden zehn Euro fürs Parkhaus fällig oder die Pizza daheim muss das Candellight-Dinner ersetzen. Sie verstehen? Beginnen Sie es mit relativ unbedeutenden Anlässen. Aber: nehmen Sie jede Wahrnehmung dieser inneren Botschaften so ernst, als ob Ihr Lebensglück oder Ihre Existenz davon abhinge. Je öfter ein solcher Test gelingt, desto sicherer werden Sie Ihrer Ahnungen und Gefühle
Lieber Herr Fischer,
„… In diesem Zustand feinster Achtsamkeit meldet sich augenblicklich die richtige Antwort. …“ schreiben Sie oben.
Und wieder einmal ist die aufmerksame Wahrnehmung der inneren und äußeren Situation, die wache Zuwendung zu dem was sich im Augenblick gerade ereignet, der Schlüssel, der das Tor öffnet. Ob nun Wu Wei oder Wu Nian, er paßt für beide.
Viele Grüße,
Taononymus