Die Lebensweise des Tao
Originaltext Wu wei: Wie lebt nun ein Mensch des Tao?
Das sagt Chuang tzu: „Sie sind aufrecht und gerecht, ohne zu wissen, dass solches Tun Rechtschaffenheit darstellt. Sie lieben einander, ohne zu wissen, dass solches Güte ist. Sie sind ehrlich und wissen doch nicht, dass solches Treue ist. Sie halten ihre Versprechen, ohne zu wissen, dass sie damit in Glaube und Vertrauen leben. Sie stehen einander bei, ohne daran zu denken, Geschenke zu vergeben oder zu empfangen. So hinterlässt ihr Handeln keine Spur.“
In der Dialektik des Taoismus ist hier von Menschen die Rede, welche die Qualität des «unbehauenen Klotzes» besitzen. Die Welt des unbehauenen Klotzes ist eine Welt voller Natürlichkeit, Absichtslosigkeit, frei von Motiven und Streben. Man lebt, ist offen für die Bewegungen des Daseins und empfängt alle Ereignisse mit offenen Armen. Der Mensch des Tao trifft seine Entscheidungen spontan. Nie analysiert er eine Situation, er erfasst ihren Gehalt intuitiv, und aus dieser Intuition erwächst die Tat. Auf diese Weise ist es dem kalkulierenden Verstand unmöglich, sich in Opposition zum Fluss des Tao zu stellen. Wer im Tao verweilt, weiß, dass er Herausforderungen des Lebens, seinen Nöten und Problemen nicht mehr mit Kampf, mit Macht oder Anstrengung antworten muss. Noch braucht er sich den Kopf zu zerbrechen, wie die Dinge zu lösen sind. Täte er dies, so würde er den Dingen mit unzulänglichen Mitteln begegnen und damit der Fortsetzung von Leid und Elend in seinem Leben Tür und Tor öffnen.
Der Mensch des Tao lebt vollkommen in der Gegenwart. Wohl besitzt er die Fülle seines Erinnerungsvermögens, aber er benutzt diese Erinnerungen nicht. Er grübelt nicht an Problemen herum. Er denkt, wenn er für seine Verrichtungen Wissen benötigt. Ansonsten lässt er Gedanken kommen und gehen, wie sie auftreten, ohne sich mit ihnen zu befassen oder sie festhalten zu wollen. Er gestattet ihnen nicht, dass sie sich bei ihm einnisten und wie früher breit machen. Er ist wie der Herbstwind, wenn er die braunen Blätter bewegt. Er berührt sie, aber nimmt sie nicht weit mit. Sie fallen vom Baum und werden wieder zu Erde. So verfährt der Mensch des Tao mit Gedanken. Wohl kann er nicht völlig darauf verzichten, dies käme einer Amnesie gleich und würde ihn lebensunfähig machen. Aber er verweist die Gedanken an den Platz, wo sie hingehören. An die Stelle der ewig plappernden Gedanken ist Aufmerksamkeit getreten. Er ist hellwach, ihm entgeht keine kleinste Kleinigkeit des Alltags. Und er durchschaut seinen Alltag mit völlig anderen Augen. Dort, wo ehedem sein reglementierter, konditionierter Verstand die Sinneseindrücke zensiert hat, erfährt er heute unmittelbar die Wirklichkeit ohne irgendwelche verzerrenden, korrigierenden Einflüsse. Sein Weltbild ändert sich und wird von Tag zu Tag frischer, unverbrauchter.
Sie bilden in diesem Kapitel das Ideal eines Menschen ab, der den Weg des Tao geht. Diese Idealisierung klingt zu schön um wahr zu sein. Es übersteigt meine Vorstellung, auf der ganzen Linie so zu leben und mich so zu verhalten, wie Sie den Menschen des Tao schildern. Muss ich denn zum Softie werden, der nicht mehr kämpft, oder zum Einsiedler, der Schmerz durch Lustverzicht vermeidet? Verlangt die taoistische Philosophie, dass ich mich von allen meinen Charaktereigenschaften verabschiede, wie jemand der ins Kloster geht?
Sie haben Recht mit Ihrer Rückfrage zum Inhalt des fraglichen Kapitels. Schauen wir uns, ehe ich weiterrede, noch einmal als Konzentrat an, was ich vor 20 Jahren im Wu wei beschrieben habe: Der Mensch des Tao benimmt sich natürlich, unverstellt; er spielt kein Rollenspiel, ist also echt; er ist motivlos, absichtslos, frei von den Beweggründen ständigen Wollens; er ist kein Streber; er analysiert nicht, sondern empfängt Eindrücke unmittelbar und spontan; er strengt sich nicht an; lebt in der Gegenwart; lässt seine Gedanken frei spielen; er kennt keine Ungeduld; er bekämpft die eigenen Fehler nicht, stellt sich ihnen aber; er kontrolliert sich nicht ständig; er hat keine Sorgen; keine Depressionen; er ist fleißig ohne Arbeitswut; er ist kreativ; nicht genusssüchtig; unkompliziert zu Gefühlen; sucht keinen Einfluss; liebt richtig; – und er hat keine Probleme. Die Liste der aufgezählten Eigenschaften des Wesenhaften oder, wie er an anderer Stelle genannt wird, des Berufenen, ließe sich wahrscheinlich durch weitere menschliche Tugenden noch um ein Stückchen verlängern. Würden Sie diesen Katalog von Forderungen als Bedingung für den Endzustand eines Wandels bewerten, bekämen Sie schnell das Gefühl, dass Ihnen zur Realisierung das Mehrfache Ihres Vermögens sich zu ändern abgefordert würde. Ein Mensch, der bis ins Detail hinein und ohne jede Schwankung Tag für Tag diese Tugenden an sich realisiert, würde auf den normal Sterblichen wie die Karikatur eines Heiligen wirken. Und zum Glück sind Taoisten das nicht. Ihr Wesen ist gewiss unverkrampft – die Kids würden cool dazu sagen – aber ihr Verhalten fällt nirgendwo aus dem Rahmen. Die buddhistische Fabel vom Ochs und seinem Hirten liefert da ein hübsches Beispiel: Dem Hirten fällt eines Tages auf, dass ihm sein Ochse abhanden gekommen ist, obwohl, so vermerkt die Geschichte, er vorher niemals vermisst wurde. In einer langen Odyssee nimmt der Hirte allerlei Strapazen auf sich, um seines vermeintlich verschwundenen Ochsen habhaft zu werden. Dieser Ochse steht hier symbolisch für den Akt der Erkenntnis. Und die Jagd des Hirten drückt sein Ringen um Erleuchtung aus. Schließlich hat er den Ochsen gefangen, auch gezähmt, denn er reitet auf ihm. Erhaben sonnt er sich im neuen Licht seiner Einsichten. Doch dann beginnt er plötzlich das Prinzip der Einheit zu verstehen, er merkt, dass der Ochse und er ein und dasselbe sind, und dass der Ochse eigentlich niemals fort war. Danach verschwindet der Ochse spontan aus der Geschichte. Der Hirte kehrt nach Hause zurück. Die letzte Szene zeigt ihn unter seinen Mitmenschen auf dem Markt und niemand sieht ihm seinen Wandel an. Wie dieser symbolische Hirte äußert auch der Mensch des Tao, der seine Position im Universum verstanden hat, keine Auffälligkeiten, die ihn zum Außenseiter stempeln würden.
Lassen Sie uns die Betrachtung der Lebensweise des Tao fortsetzen und uns einmal anschauen, wie Chuang tzu einen Menschen des WEGES, den er den Wesenhaften nennt, skizziert: Er lebt zu Hause. Er betreibt keine Übungen für seinen Geist und er handelt, ohne sich um die Wirkungen zu sorgen. Er kümmert sich nicht um Gut und Böse, Lob und Tadel interessieren ihn nicht. Er wirkt töricht, wie einer, der den Weg verloren hat, blauäugig wie ein Kleinkind schaut er in die Welt. Er hat ständig Geld in den Taschen, ohne zu wissen, woher es kommt. Er sorgt sich nicht, woher sein Essen herkommt und wird doch immer satt. So benimmt sich ein wesenhafter Mensch. Wird da der Typus eines Menschen zusammenfabuliert, den die Evolution erst noch kreieren müsste? Oder ist der Mensch des Tao ein synthetisches, der Phantasie Laotses oder Chuang tzus entsprungenes Endprodukt, das es zu keiner Zeit gegeben hat? Das ist nicht der Fall, aber die Wahrheit lässt sich einzig im Selbstversuch entdecken. Denn ein derart einfacher, infolgedessen sehr komplexer Charakter lässt sich selbst von einem begabten Schauspieler nur schwer kopieren. Wie also sollte es Ihnen glücken, zu einer ähnlichen Geistesverfassung zu gelangen? Woher die Energie für die Selbstkontrolle nehmen, um nicht immer wieder zurück in die alten Zustände zu verfallen? Nun, ich darf Ihnen an dieser Stelle versichern, dass es keinen Grund für Sie gibt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Einfach deshalb, weil es Ihnen mit keiner Methode gelingen wird, zu einem Menschen wie dieser Wesenhafte zu werden. Das wäre die schlechte Nachricht. Die Gute folgt sofort: Es gibt dennoch einen Weg, um in einen Geisteszustand, ähnlich wie von Chuang tzu beschrieben zu gelangen: Indem Sie überhaupt nichts versuchen! Sie bräuchten nur zu erkennen, dass Sie selber das Problem sind, das Sie gerne beseitigen möchten. Das ist wie mit dem albernen Spruch, dass Warzen verschwinden, wenn man Gurken isst. Aber nur, wenn die Warzen auf der Gurke sind. Analog würden die Merkmale Ihres Wesens, von denen Sie sich gerne verabschieden möchten, verschwinden, wenn Sie, die Wesenheit, die sich das alles wünscht, mit verschwinden würden. Das bedeutet, Sie müssten sich aufgeben! Das ist auch der Schlüssel für den Wesenhaften. Er klammert sich nicht an sich selbst – und er nimmt sich kein bisschen wichtig. Und es gibt noch einen wichtigen Punkt, den viele Interessenten am Taoismus übersehen: Der Mensch des Tao muss nicht immer so tugendhaft, so perfekt, so gütig, so gelassen sein. Er lässt die Fülle seiner Gefühle und seines Erlebens zu und seine spontanen Reaktionen darauf können ebenso Wut und Härte wie Sanftmut und Nachgiebigkeit sein. Chuang tzu sagt: Der Gerechte ist in seinem Zorn genau so natürlich wie in seiner Freude.
Die Beschreibung des wesenhaften Menschen erscheint skurril. Er scheint keiner geregelten Arbeit nachzugehen, sorgt sich nicht um Obdach, Nahrung und Kleidung, fällt aber anscheinend auch nicht der öffentlichen Fürsorge zur Last, falls es damals so etwas gegeben haben sollte. Er geht nicht im safrangelben Gewand betteln, seine unbeschwerte Geisteshaltung drückt am besten ein Bibelspruch aus: Seht die Lilien auf dem Felde: Sie säen nicht, sie ernten nicht, aber ihr himmlischer Vater ernährt sie doch. Mir kommt hier der Dichter Han Shan in den Sinn, der auf einem abgelegenen Berg in einer selbst gebastelten Hütte gehaust haben soll. Man berichtet von ihm, dass er regelmäßig mit einem dicken Bambusrohr an einer Schnur über der Schulter hängend die Klöster im Tal aufsuchte und sich mit Essen versorgen ließ, das er dann in diesem Behälter den Berg hoch schaffte. In Zeiten von Hartz IV und Armut bis hin zur Obdachlosigkeit ist in unseren Breiten ein Dasein im Stil von Kaliforniens Cadillac-Peoples, den Hippies an den klimamilden Gestaden des Pazifik, kaum vorstellbar. Ich stelle mit der Lebensweise des Tao auch keinen Ausstieg im Stile von Thoreaus Walden oder ein Leben unter der Brücke oder vor dem Heizungsschacht eines Kaufhauses als Alternative zur Fron des Berufslebens zur Diskussion. Nichtsdestoweniger haben auch große Denker der Gegenwart darüber reflektiert, ob ein Mensch, der die Prinzipien der Ganzheit und seine Identität mit dem schöpferischen Grund verstanden hat, es denn nötig hätte, täglich Sklavenarbeit zum Nutzen und der Bereicherung einiger Weniger zu verrichten. Und sie gelangten zu dem Schluss, dass sich dies durchaus vermeiden ließe, vorausgesetzt, die Betroffenen selbst würden zu entsprechenden Einsichten gelangen. Ich stimme solchen Feststellungen mit einigen Vorbehalten zu. Die Aussagen über das Nichthandeln verleiten öfter Menschen dazu, den Bettel hinzuschmeißen und sich dem Strom der folgenden Ereignisse zu überlassen, ohne dass sie für diesen schnellen Schritt an geistigen Voraussetzungen mehr mitbrächten, als das Vertrauen in eine neue, ihnen stark zusagende Existenztheorie. Man braucht Nerven wie Stahlseile, um den Stress eines solchen Schrittes ins Ungewisse hinein zu verkraften, wenn außer der Begeisterung für die Idee des Aussteigens keine weiteren Voraussetzungen gegeben sind. Wer Wu wei mit ‚in den Tag hinein leben’ gleichsetzt, mit Nonchalance, Faulheit, Schlendrian, Unpünktlichkeit, notorischer Unzuverlässigkeit und dementsprechend lebt, befindet sich eindeutig auf der falschen Party.
Berufstätige leiden je nach Temperament und Mentalität bewusst, unbewusst, lautstark klagend oder still leidend unter der Last, bis zum Rentenalter vierzig Jahre lang jede Woche 35 bis 40 Stunden arbeiten zu müssen, nur unterbrochen von ein paar Wochen Jahresurlaub und einem Dutzend Feiertagen. Viele unter ihnen müssen obendrein eine Tätigkeit verrichten, die ihnen überhaupt nicht liegt – ich kenne etliche Leute, die mit Mitte dreißig bereits wie ein Zuchthäusler jedes Jahr abstreichen, das sie weniger in der Fron verbringen müssen. Mit Blick auf das Rentenalter wird ein fernes Ziel angestrebt, das beim Erreichen viele der Betroffenen nur in neue Krisen stürzt. Einmal durch das Vakuum, das der Bruch der über Jahrzehnte gewohnten Routinen hervorruft und zum anderen der Blick voraus, wo in der Ferne der Tod wartet. Und jetzt frage ich Sie: wie viel ist ein solches Leben denn wert? Ist es das Schicksal des Menschen, seit den Pharaonen immer nur Diener zu sein? Gut, die große Masse wird es so lange bleiben, wie sie nicht zur Besinnung kommt und die Dinge ein einziges Mal intelligent und richtig in die Hand nimmt (bekanntlich sind alle bisherigen Versuche dadurch gescheitert, dass Massenbewegungen nur andere Pharaonen fanden, die sich auf ihre Art bereicherten). Der intelligente Anfang kann einzig vom Individuum vollbracht werden. Nicht die Masse, allein Sie und ich als Einzelmenschen sind imstande, etwas an unserem Los zu verändern. Und an dieser Stelle bekenne ich, dass ich den oben zitierten Denkern zustimme: es muss nicht sein, dass ein Mensch, der sich der Misere seines determinierten Daseins bewusst wird, dieses bis zum bitteren Ende durchstehen muss. Es gibt Mittel und Wege für einen Wandel, und dieser Wandel bewegt sich in die Richtung von Chuang tzus wesenhaftem Menschen.
Und nun kommt die Preisfrage: Wie erlange ich die Mentalität eines Menschen, wie ihn Chuang tzu beschreibt? Was steht am Beginn einer fundamentalen Änderung meines Berufs- und Beziehungsalltags? Würde mir ein Freund am Tisch gegenüber sitzen und diese Frage stellen, würde ich kurzerhand und knapp antworten und es ihm überlassen, darüber nachzugrübeln: „Gib alle Motive auf, die dich bis heute antreiben. Alle. Gib sie alle ersatzlos auf. Und versuche deine Welt mit den Augen des Kleinkindes zu sehen, bevor sein Geist durch die Erziehung genannte Gehirnwäsche verzerrt und korrumpiert wurde.“ – Bereits die Ratschläge klingen anstrengend, nicht wahr, liebe Leserin, lieber Leser? Wie soll das geschehen, wieder in jenen Zustand unbeeinflusster Unschuld zurück zu finden, der uns einst als Säuglinge eigen war? Und wie könnten wir, ohne alles Wünschen aufzugeben, unsere Motive, unsere Beweggründe dahingeben? Nun, so kompliziert ist es auch wieder nicht. Sich mit seinen Motiven auseinandersetzen meint nicht, man müsse wunschlos und ohne Visionen sein. Es bedeutet auch nicht, dass Ihnen ohne die Antriebskräfte Ihrer Strebungen nichts mehr gelingen würde. Ganz im Gegenteil. Jede Anstrengung, etwas zu erreichen, erzeugt Widerstand, Reibung. Der Wesenhafte hat verstanden, dass ohne seine Motive und ohne seine lebenslang erworbenen Überzeugungen sein Geist der Spiegel des Tao ist. Und was ihm im täglichen Leben begegnet, im Beruf, in der Liebe und überall sonst, löst allein dadurch, dass er diese Vorgänge beobachtet, Veränderungen aus. Er braucht für ein gelungenes Leben keinen Satz Motive, die ihn vorantreiben wie ein Raketenaggregat. Und er hat begriffen, dass all sein Wissen Asche von gestern ist. Der Stoff, mit dem er nagelneue Ereignisse bisher verglich, ist alt und überholt. Er vertraut seinem Verstand, wenn es um technische Fertigkeiten geht, wie Auto fahren oder die Haustür aufschließen. Aber in Sachen der Psyche gestattet er ihm keine Einmischung mehr. Wir können diese Betrachtungen in einem Satz zusammenfassen: Der Mensch des Tao, der Wesenhafte, ist deshalb wesenhaft, weil er dieses allein von seinen Motiven zusammen gehaltene Ich in die zweite Liga verbannt hat.
Unser Ich wird vom Denken, von unserer Erfahrung und unserem genetischen Hintergrund zusammengehalten. Viel zu oft müssen wir feststellen, dass auch die uralten Reflexe unseres Stammhirns, dem Überbleibsel aus der Reptilienvergangenheit, unser Handeln mit beeinflussen. Unser Handeln allgemein und unsere Reaktionen auf die Herausforderungen des Alltags unterscheiden sich beträchtlich von dem Idealbild, das ich vom Charakter des Berufenen in dem hier besprochenen Kapitel aus Wu wei gezeichnet habe. Wie kann nun eine normale, mittelmäßige Person, gleich welchen Geschlechtes, mit ihren gemischten Charaktereigenschaften in die Nähe dieser absolut positiven, lebensleichten Wesenszüge gelangen? Der Normalbürger besitzt im Allgemeinen Anteile an den meisten positiven wie negativen menschlichen Charakterzügen und ist subjektiv auch von einigen Wenigen stärker befallen. Sie alle stellen wesentliche Teile des Baumaterials, aus dem das geistige Zentrum gemacht ist, aus dem heraus wir zu entscheiden und zu handeln glauben. Müssten dann die Wesenseigenschaften aus Chuang tzus Liste nicht ebenfalls in dieses Zentrum eingebracht werden? Möglichst die alten, als negativ bewerteten Charakterzüge verdrängend, wie ein junger Kuckuck die kleinen Rotkehlchen aus dem Nest wirft? Nein, das müssen sie nicht. Und ich darf Ihnen erklären, weshalb sie es nicht müssen: Liebe, umfassendes Mitgefühl, echte Intelligenz, Instinkt, Intuition sind Phänomene, die außerhalb des Kollektivs menschlicher Gehirne existieren. Sie können den Geist der Menschen, die sich ihnen öffnen, allezeit befruchten und inspirieren. Aus diesen kosmischen Elementen strömt dem Menschen des Tao ein ungeheures Potenzial an Energie zu. Und dies, ohne dass er zum Sklaven dieser Strömungen aus dem schöpferischen Urgrund wird. Wir sind den gewachsenen Regungen unseres Charakters ausgeliefert. Aber nur so lange, wie wir diese Knechtschaft nicht realisieren und sie als falsch entlarven. Sobald Sie, liebe Leserin, lieber Leser, durchschauen, was Sie sich selber antun, wenn Sie weiter darauf beharren, nach den Ihnen fremdbestimmt auferlegten Lebensregeln zu denken und zu handeln, macht Sie diese Einsicht frei. Die Zellverbände Ihres Gehirns, gewohnt, auf immer die gleiche Art zu reagieren und die sich mit jeder Wiederholung eines Vorganges verdicken, bis sie symbolisch die Stärke von Seilen erreicht haben, werden abgebaut, wenn Sie die alten Muster nicht mehr verwenden.
Die Wirkkräfte aus dem Urgrund machen Denken und Handeln aus einem neuen, jungfräulichen, unbeeinflussten Geist möglich. Und zwar ohne dass sie sich als neue Bausteine Ihres Ich in Ihrem Gehirn einnisten. Liebe, Mitgefühl, Intelligenz und Intuition sind frei und überall zugänglich im grenzenlosen Raum vorhanden. Nichts davon wird jemals innerhalb Ihrer Schädeldecke eingesperrt. Sie gehören auch nicht Ihnen, wie Sie es von Ihren Erinnerungen, Ihrem Wissen kennen. Sie gehören niemandem und wiederum allen. Frei zur Verfügung stehend, für den, der fähig ist, sich innerlich leer zu machen. Der bereit ist, nichts zu wissen, wie der berühmte Säugling Chuang tzus. Nichts zu wissen ist gar nicht so schwer. Denn wenn wir ehrlich sind, uns sehr kritisch unter die Kühlerhaube unserer intellektuellen Mechanik blicken, kommen wir ziemlich schnell zu Sokrates Erkenntnis, „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Diese Leere des Nichtwissens ist die einzige Veränderung, der Sie sich unterziehen müssten, um einzusteigen in diesen wundersamen, sich selbst organisierenden Prozess, der ohne jede weitere zu erklimmende Stufe in den Geisteszustand eines wesenhaften Menschen hineinführt. Und um noch einmal auf Ihre Fragen zurückzukommen: Sie brauchen weder auf Genuss und Lust zu verzichten, noch müssen Sie zum Mönch oder Einsiedler werden, um dem WEG zu folgen. Es gibt dann auch keine Notwendigkeit, mit dem alten Ich zu ringen. Sie werden durch die Öffnung Ihres Geistes nach draußen in die Unendlichkeit Ihr wirkliches Selbst entdecken, in dem Ihrem Ich nur noch die wenig dominante Rolle als Körper, als Gehirn mit seinen Erinnerungen und nicht zuletzt zum Nachweis Ihrer bürgerlichen Identität zukommt.
Im Wu wei sind wenig Informationen zu finden, wie sich die Polarität auf Menschen auswirkt, die versuchen den WEG zu gehen. Könnten Sie das hier nachholen?
Stimmt. Im Wu wei habe ich nur wie nebenbei auf die Bedeutung der Polarität im taoistischen Denken hingearbeitet. Sie können in meinem Titel Yu wei, die Kunst, sich das Leben schwer zu machen, Grundsätzliches über die Problematik von Gegensätzen nachlesen, aber Polarität hat so viele Tiefenschichten, dass das komplexe Thema noch nicht einmal mit den folgenden Texten annähernd ausgeschöpft ist. Selbst auf die Gefahr hin, Sie einige Seiten lang zu langweilen, muss es gesagt werden. Denn die Lebensweise des Tao ist ohne das Kontrastprogramm von Yin und Yang nicht denkbar. Nach dem ersten Spruch im Tao te king mit der Offenbarung vom Tao, das nicht das ewige Tao ist, sobald man es benennen kann, setzt Laotse im zweiten bereits den Eckstein für das Entstehen der Polarität. Würden wir die Täler zuschütten, hätten wir keine Berge mehr. Diese Weisheit würde gut an den Anfang des zweiten Spruches[1] passen.
Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, so ist dadurch
schon das Hässliche gesetzt. Wenn auf Erden alle das Gute als gut er-
kennen, so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt. Denn Sein und
Nichtsein erzeugen einander. Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz gestalten einander. Hoch und Tief verkehren einander.
Stimme und Ton sich vermählen einander. Vorher und Nachher folgen
einander.
Also auch der Berufene: Er verweilt im Wirken ohne Handeln. Er übt
Belehrung ohne Reden. Alle Wesen treten hervor, und er verweigert
sich ihnen nicht. Er erzeugt und besitzt nicht. Er wirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht, so verharrt er nicht dabei. Und eben weil er
nicht verharrt, bleibt er nicht verlassen.
Zeile um Zeile führt uns Laotse vor, wie der menschliche Verstand sich seine Welt in Gegensätze unterteilt und wie im Grunde unser ganzer Wahrnehmungsapparat über den Vergleich der Kontraste zueinander operiert. Forscher, die sich mit dem menschlichen Verhalten befassen, schreiben uns sogar die Fähigkeit ab, ein Ding überhaupt als vorhanden zu erkennen, wenn es sich nicht durch irgendeine Kontrastwirkung von anderen Dingen unterscheidet. Praktisch so ähnlich, als würden wir einen grünen Mann vor einer grünen Wand suchen. Und nicht nur das. Unsere Psyche ist so konditioniert, dass sie ständig das Bedürfnis hat, Gegensätze miteinander zu versöhnen – sie will Yin zu Yang machen oder Gewalttätigkeit in Gewaltlosigkeit umwandeln. Laotse weist in der ersten Hälfte des Spruches auf die Absolutheit von Gegensätzen hin, wie sie von uns Menschen durch unser Bewerten und durch unsere Sucht nach festgelegten Formeln definiert werden. In der zweiten Hälfte weist Laotse am Beispiel seines Berufenen auf die Chancen hin, die Kontraste mit Hilfe einer bestimmten Geisteshaltung „einzuebnen“. Ich habe den Begriff einebnen aus dem taoistischen Wortschatz übernommen. Im Sinne unserer westlichen Denkungsart käme das Wort mehr dem Zuschütten der Täler nahe – was viele Menschen, mit den Untiefen des Schicksals konfrontiert, auch zu tun versuchen. Doch das meinen die Taoisten damit nicht.
Wir wollen anschließend sehen, wie ein Mensch des WEGES sich aus der Falle des Vergleichen Müssens herausbewegt, aber vorher sollten wir noch einen Blick auf einige Facetten des Kontrastprogramms der Schöpfung werfen. Wir würden ohne den Tod das Leben nicht als Leben erkennen. Ohne die Erde wäre der Himmel nicht als Himmel erkennbar. Kälte löst bei uns die Sehnsucht nach ihrem Kontrast, der Wärme aus. Glück würden wir tatsächlich nicht als Glück erleben können, wenn ihm nicht Phasen des Leides gegenüberstünden. Das Gleiche gilt für Freude. Freude als Dauerton ohne Leid wäre nicht erlebbar. Bei Sehnsucht wird es schwieriger einen Gegenpol zu finden. Entweder besteht sie fort, ohne erfüllt zu sein und ergo ohne Kontrast. Oder sie erfüllt sich – und hinterlässt meist den Verrat der Leere nach erreichten Zielen. Woraus schon in dieser wenig repräsentativen Aufzählung von Gegensätzen die ersten Schwachstellen auftauchen, wo unser bewährtes Rezept des Strebens nach dem von uns definierten Gegenteil ins Leere läuft. Die Natur, ja das ganze Prinzip der Schöpfung erzeugt polare Phänomene. Ohne sie wäre das gesamte Daseinsgeschehen ein einziger, graugetönter, ereignisloser Tümpel ohne alle fließenden Eigenschaften. Uns bleibt als vernünftigen Menschen keine andere Wahl, als mit Yin und Yang zu leben, weil es anders einfach nicht geht. Das beschreibt Laotse hier auch. Aber darüber hinaus, dass er die Unvermeidbarkeit der Polarität sozusagen festschreibt, gibt er Hinweise darauf, wie ein intelligenter Geist im Sinne des Tao mit dem Kontrastprogramm des Daseins umgehen sollte.
Zwischen Laotses Lebensmodell vom Menschen des Weges im zweiten Absatz seines Spruches und der kategorischen Existenz der Gegensätze wollen wir noch einen Blick auf Chuang tzus originelle Auseinandersetzung mit den Reflexen unseres Denkens und unserer Sprache werfen. Laotse betont bereits, dass Kontraste zwar stets vorhanden sind, aber im Grunde erst durch unsere vergleichende Analyse und mit Hilfe sprachlicher Bestimmung aus der polaren Symmetrie gerissen werden. Das taoistische Denken folgt einer Logik, die unser lineares Denken nicht nachvollziehen kann. Wir sind von Jugend auf gewohnt, grundsätzlich in Gegensatzpaaren zu denken und es fehlt uns das Gefühl für die Zusammengehörigkeit beider Pole einer Konstellation. Hier ist der Auszug aus Chuang tzus Kommentar zu Laotses zweitem Spruch[2]:
Es gibt nichts, was nicht dieses ist, es gibt nichts, was nicht jenes ist. Dieses geht aus jenem hervor, und jenes ist von diesem abgleitet. Das ist die Lehre von der gegenseitigen Abhängigkeit von diesem und jenem von der Relativität der Maßstäbe.
Gibt es die Unterscheidung zwischen diesem und jenem wirklich? Wenn dieses (das Subjektive) und jenes (das Objektive) ohne ihre Wechselbeziehungen sind, ist das gerade die Achse des Tao. Und wenn diese Achse durch den Mittelpunkt geht, in dem alle Unendlichkeiten zusammenkommen, verfließen sowohl Bejahungen wie Verneinungen im Unendlichen Einen.
Das Tao wirkt und die entsprechenden Ergebnisse folgen, die Dinge erhalten Namen und werden als das angesehen, was sie sind. Warum sind sie so? Weil gesagt wird, sie seien nicht so! Die Dinge sind durch sich selbst so und haben durch sich selbst Möglichkeiten. Es gibt nichts, das nicht so ist, und es gibt nichts, das nicht so werden kann. Alles wird durch das Tao zu Einem eingeebnet. Entzweiung ist dasselbe wie Schöpfung, Schöpfung dasselbe wie Zerstörung. Es gibt eigentlich keine Schöpfung und keine Zerstörung, denn beide werden wiederum durch das Tao auf Eines zurückgeführt.
Nur die wahrhaft Klugen verstehen diesen Grundsatz der Einebnung aller Dinge zu Einem. Sie lassen die Unterscheidungen beiseite und nehmen zu den gewöhnlichen, alltäglichen Dingen Zuflucht. Die gewöhnlichen, alltäglichen Dinge erfüllen bestimmte Funktionen und bewahren dadurch die Ganzheit ihres Wesens. Durch diese Ganzheit begreift man sie, und durch dieses Begreifen kommt man dem Tao näher. Dort steht man still. Stillestehen ohne zu wissen, wie man stillsteht –das ist das Tao.
Wo verbirgt sich in Sachen Gegensatzprogramm und dessen „Einebnung“ nun der praktische Nutzen für uns Normalverbraucher taoistischen Gedankengutes? Enthalten die originellen, nichtsdestoweniger wortgewaltigen Sätze der alten Weisen irgendeine hilfreiche, aber vor allem realisierbare Anregung für unsere ständigen Auseinandersetzungen mit Plus und Minus? Nun, die Anregung ist da, eben im unteren Abschnitt des Spruches. Aber um verstanden zu werden, braucht es einen Schlüssel. Dieser Schlüssel heißt Erkenntnis. Erkenntnis ist eine Fähigkeit unseres Gehirns, deren mächtige Wirkung allgemein unterschätzt, meist sogar überhaupt nicht gewertet wird. So kann das Lebensmodell von Laotses Berufenem kaum verstanden werden, wenn das Entschlüsseln des Textes nicht im Licht der Grundannahme von der Einheit aller Dinge geschieht. Durch das Begreifen der Ganzheit des Wesens der Dinge kommt man dem Tao näher, sagt Chuang tzu sinngemäß. Machen Sie doch jetzt einen Versuch und wandeln Sie eine der Zeilen aus der obigen Beschreibung des Handlungsmusters eines Menschen des WEGES in Klartext um: Er verweilt im Wirken ohne Handeln. Das ist doch Wu wei, wie Sie es wohl x-mal vernommen haben. Der Berufene lässt die Dinge zu Wort kommen, lauscht ihnen aufmerksam, beobachtet sie, und dies ohne dass seine Gedanken in die Falle des polaren Vergleichens geraten. Und dann wirkt entweder er, sofern nötig, handgreiflich – oder der Lauf der Dinge tut es für ihn. Er übt Belehrung ohne Reden. Was heißt, er hält keine Vorträge, er bläst sich vor anderen nicht auf – er lebt vor, was er erkannt hat. Alle Wesen treten hervor, und er verweigert sich ihnen nicht. Der Berufene weiß um seine universale Identität, durch die er alle anderen Wesen als mit sich identisch erkennt. Sein Benehmen drückt dieses Wissen im Umgang mit den anderen aus, für die sein Sinn und sein mitfühlender Geist stets geöffnet sind. Der Rest des Spruches wäre etwa so zu verstehen, dass der Berufene sich von seinen Bindungen gelöst hat. Seinem Tun fehlt die Gier des Besitzenwollens. Und nach vollbrachter Tat ruht er nicht auf seinen Lorbeeren aus – er bewegt sich weiter mit dem Lauf der Dinge. Eben weil er weiß, dass dieser Lauf nicht verschieden von seinem eigenen Wesen ist.
Wenn ich abschließend versuche, aus dem Gesagten eine Quintessenz herauszufiltern, dann lautet sie ungefähr so: Jeder weiß um die Existenz der Gegensätze. Unsere Sprache stellt sie einander gerne wie auf einer Waage gegenüber. Erkenntnis aber versteht, dass Gegensatzpaare eine Einheit bilden, deren eines nicht ohne das andere existieren kann. Es ist wie bei einem Stabmagneten: An einem Ende ist der Plus-Pol, am anderen der Minus-Pol. Würde man den Stab auseinandersägen, ließen sich die Pole dadurch keinesfalls trennen, sodass eine Hälfte nur Plus, die andere Minus ausweist. Beide Teile ergäben aufs Neue einen vollständigen Magneten mit einem kontroversen Pol an jedem Ende. Ich kann eine invalide Situation nicht reparieren, indem ich mir sehr heftig die gleiche Situation in einem validen Zustand, also mit der Vision einer stattgefundenen Reparatur vorgaukle. An diesem Mangel leidet ja die Schule vom Positiven Denken. Hier wird auf Empfehlung ausschließlich in Gegensätzen gedacht. Man hat das Leidvolle vor Augen, aber der Geist entschwebt in den erdachten Kontrast des Beglückenden. Dieses Denkmodell gleicht dem Zersägen eines Magneten. Der Konflikt zwischen einer Ist-Situation und einem Soll-Zustand verschwindet nicht, wenn ich wegschaue. Im Sinne von Laotses Spruch kann der Konflikt erst gar nicht aufkommen, wenn ich bei der wirklichen Situation verweile. Denn in ihr ist bereits zwingend die Auflösung eines darin vorhandenen Problems eingeschlossen, es besteht keine Notwendigkeit, sich mit dem Gegenpol der Krise zu beschäftigen. Hoch und Tief verkehren einander. Diese Einsicht ist fähig, bei allem Tun die Dinge als Ganzes zu erfassen. Der Mensch des Tao entwickelt ein Gefühl für die grenzenlose Zusammengehörigkeit und die wechselseitigen Beziehungen von Yin und Yang. Ein Geist, der aufgehört hat, in Kontrasten zu denken, erzeugt damit ohne weiteres Zutun die Basis, von der aus das Tao durch ihn wirken kann.
Wie unerschöpflich das komplexe Thema ist, möchte ich Ihnen durch einen abschließenden Beitrag veranschaulichen.
Schafft das Yin und Yang Prinzip ab
Irritiert Sie der Untertitel? Hoffentlich. Denn er ist als Herausforderung an Ihren gesunden Menschenverstand, an Ihr kritisches Denken gedacht. In uns wohnt eine Urangst, der es vor Veränderungen graut. Die Vorstellung eines Daseins, zu dessen Grundgesetzen auch die Polarität gehört, verunsichert uns zutiefst. Oft schrecken wir selbst vor Maßnahmen zurück, denen Besserung folgen soll, wenn vor der Idee des Wandels ein Vielleicht, ein Möglicherweise steht. Wir wünschen uns Gewissheiten. Autoritäten, die behaupten, es gäbe den Zufall nicht, schenken wir mehr Glauben als den Unkenrufen der Skeptiker, die auf die Kombination von Kausalität und Zufall setzen, dafür aber nicht an Vorbestimmung glauben. Eine Lebensphilosophie, die ausschließlich nach fortgesetztem Gelingen verlangt, verleugnet damit die Prinzipien von Yin und Yang. Selbst wenn eine Schule des Denkens eine Methode fände, uns vor den Wellentälern des Daseins zu bewahren, hätte sie damit nicht den Schlüssel zu einem zufriedenen Leben entdeckt. Weil jeder Zustand ohne die Interferenzen des Wechselspiels von positiven und negativen Erfahrungen uns emotional abstumpfen lässt. Selbst depressive Stimmungen halten oft nur darum längere Phasen an, weil kein markantes Ereignis das chronische Selbstmitleid der Betroffenen aufbricht. Mir fiel in der Vergangenheit etliche Male auf, dass deprimierte Menschen auf keinerlei liebevolle Zuwendung reagierten, sie verharrten in ihrem Leiden. Wenn dann aber ein Rüpel daherkam und sie gründlich ärgerte, ihren Zorn entfachte – war die Depression unversehens weg. Ärger und Empörung hatten das dumpfe vor sich hin Brüten abgelöst. Der leidende Mensch war plötzlich aufgewacht. Womit ich andeuten will, dass nicht unbedingt immer die schönen Dinge freudige Emotionen im Gefolge haben. Das ist wie mit einem verwöhnten Kind. Es fordert Genuss, möchte so oft es geht Süßigkeiten essen und das Verlangen nach dem Begehrten nimmt in dem Maß zu, wie vernünftige Eltern die Gaben rationieren. Würde ich nun diesem Kind jedes Mal, wenn es danach verlangt, seine Schokolade, sein Eis oder was immer es favorisiert, spendieren, ihm sogar den ganzen süßen Lagervorrat einer Autobahnraststätte ins Zimmer stellen, wäre es bald vorbei mit dem Flair des Besonderen. Das Kind würde alsbald nach neuen Anreizen verlangen. Analog verhält es sich mit unseren Vorstellungen vom Glück. Wir wünschen uns ein System, das die Erfüllung unserer Wünsche und das Gelingen unserer Pläne garantiert, und zwar aller. Hätten wir beim Schicksal einen einzigen Wunsch frei und würden uns dies ausbitten, nämlich umfassendes Gelingen, Erfolg ohne Niederlagen, Fortschritt ohne Grenzen, ein Leben ohne Hindernisse – dann wäre dieses Geschenk ein Verhängnis für unser Glück. Der Zukunft würde aller Reiz des Ungewissen, des Unbekannten, Unerwarten fehlen. Bei allem, was wir angingen, begleitete uns die Sicherheit, dass wir es bekämen. Wir hätten mit dem erfüllten Wunsch des Schicksals alle Überraschungsmomente eingebüßt. Die Würze des Neuen, Unbekannten bliebe uns für alle Zeiten versagt. Gut, bei den vielfältigen kleinen und größeren Nöten unseres Alltags wäre ein solcher Wunsch verständlich. Es braucht schon ein reifes Maß an Einsicht in die Reaktionsweise unserer Emotionen, um Polarität als unerlässliches Vademekum für unser Glück zu erkennen.
Ein weiterer Bremsklotz zwischen uns und dem Glück ist unser Verlangen nach Rezepturen einer Lebenskunst, die uns das Erreichen unserer Ziele ohne Anstrengung versprechen. Es gibt genug Theorien auf dem Markt, welche derartige Zusagen machen. Das führt dann zu Szenarien, wo an sich ganz vernünftige Leute anfangen, ihre Probleme auszusitzen. Rechnungen, für die kein Geld da ist, wandern in den Papierkorb, das Bankkonto wird bis zum Anschlag überzogen, wöchentlich wechseln die Ideen, was man ohne großen Kraftaufwand zum Laufen bringen könnte. Die Bereitschaft, an den eigenen Erfolg zu glauben, ist mitunter grenzenlos, solange eine Autorität in Sicht ist, die diesen Glauben bedingungslos anfeuert. Ich erlebe oft, wie Menschen in Krisensituationen auf das Eingreifen himmlischer Mächte warten, statt dass sie ihren Hintern heben und eine sich öffnende Tür zur Lösung ihres Problems vollends aufstoßen. Da gibt es die Fabel von dem Mann, der ins Wasser fiel, am Ertrinken war und Gott anflehte, ihn zu retten. Ein Fußgänger kam, der ihm die Hand bot, doch der Ertrinkende rief weiter nach Gott. Ein Kahn trieb vorbei, aber der Mensch rief weiter Gott um Rettung an. Er starb und begegnete Gott, dem er vorwarf, ihn im Stich gelassen zu haben, worauf Gott erwiderte: „Ich sandte dir einen Passanten, du griffst nicht zu, dann schickte ich dir den Nachen, aber du bist nicht hineingeklettert. Also was beklagst du dich?“ Oder die Anekdote von dem jungen Priester, der seine Antrittspredigt halten musste. Sein Lehrer hatte ihm gesagt, er möge sich über das, was er sagen solle, keine Sorgen machen, der Geist Gottes würde durch ihn sprechen. Also öffnete der Priester den Mund und wartete darauf, dass jetzt Gottes Worte von seinen Lippen strömen würden. Natürlich kam kein Laut heraus. Selbst wenn wir wohlwollend unterstellen, Gott würde seinem jungen Diener eingeben, was er der Gemeinde sagen solle, war es dennoch dessen Aufgabe, mit Kopf und Herz und Stimme die Sätze zu formulieren und auszusprechen. Einmal schrieb mir eine Frau, ihr Mann würde sie fortgesetzt betrügen und unerträglich behandeln. Er würde ihr in ihrem eigenen Haus vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hätte. Ob es denn im Sinne von Wu wei eine besondere Art gäbe, dieses Problem zu betrachten, damit es sich von selbst auflöse. Ich schrieb ihr eine Antwort, die bestimmt ein paar Illusionen zerstörte: „Werfen Sie den Kerl hinaus. Wenn er sich weigert, rufen Sie die Polizei. Und lassen Sie sich scheiden“, empfahl ich ihr.
Der arbeitende Mensch muss Tag für Tag eine gewisse Anstrengung aufbringen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Er muss sich mit Ärger und für sein Einkommen gefährlichen Situationen auseinandersetzen. Daher ist es verständlich, wenn jemand in einer östlichen Philosophie Unterstützung im Daseinskampf und einen Weg sucht, der ihn von der Last dieser beständigen Anstrengung befreit. Im Taoismus ist die Lösung zu finden, allerdings mit gewissen Einschränkungen bezüglich der Erwartungen Betroffener. Das Tao verspricht nichts, es bleibt anonym, unbekannt, sogar fremd für den Suchenden. Aber es spendet uns, unmittelbar aus der Quelle TE, die Lebensenergie. Ich kann mit Hilfe des Prinzips vom Nichthandeln ohne Zukunftsängste leben, wenn ich mich nicht zu wichtig nehme. Würde ich nach hohen Zielen streben, deren Preis Leistung ist, müsste ich auch bereit sein, diese Leistung zu bringen. Das Leben ohne Anstrengung, das der Taoismus zeichnet, beginnt in einem Gehirn zu wirken, das keine Muskeln, noch nicht einmal schmerzempfindlichen Nerven hat. Die Abwesenheit von Anstrengung bezieht sich beim Nichthandeln auf unseren Verzicht von Wissen bei der Beurteilung von Herausforderungen. Aus dem Potenzial der Menschheit, mit dem unser Hirn verbunden ist, lassen wir unmittelbare Einsichten in ein Problem zu. Dann folgt das Handeln. Das sich in der Folge durchaus unserer Erfahrung bedient. Verlangt der Impuls zur Tat hartes Eingreifen, dann fassen wir zu und warten nicht auf eine höhere Macht, die den Karren für uns aus dem Dreck zieht.
Wenn Sie zum Beispiel handwerklich geschickt sind und beschließen, ein altes Häuschen selbst zu renovieren, wird Ihnen eine Bank das Geld für das Material leihen, wenn Sie Ihre Eigenleistung nachweisen. Gar nicht so unähnlich ist es mit dem WEG. Das TE aus dem Urgrund liefert Ihnen die Energie, den Stoff für einen unverkrampften Lebensmodus. In diesem Energiepotenzial sind keine Garantien für die Ausschaltung der Polarität enthalten. Es wird im Meer des Lebens Sturm und hohe Wellen geben. Wir werden in Wellentäler gleiten und wieder empor getragen, das ist der Lauf der Dinge und wer sich mit den Dingen bewegt, befindet sich in Harmonie mit ihnen. Nichthandeln bedeutet produktives Tätigsein. Es ist mit dem erwähnten Häuschen vergleichbar: wer selbst mit Kopf und Herz und allem seinem Sein bei der Sache ist und mitwirkt, bekommt die Mittel, die er nicht aufbringen kann, dazu. Lassen Sie mich diesen Beitrag mit dem empfehlenswerten Wahlspruch beenden:[3]
suaviter in modo, fortiter in re
[1] Tao te king, S. 45 (Übersetzung v. Richard Wilhelm)
[2] Lin Yutang, Die Weisheit des Laotse, Seite 45 ff.
[3] Behutsam im Wesen, kraftvoll im Tun.