Zum Jahresschluss

Einer ist da, der mich denkt.
Der mich atmet. Der mich lenkt.
Der mich schafft und meine Welt.
Der mich trägt und der mich hält.
Wer ist dieser Irgendwer?
Ist er ich? Und bin ich Er?
Mascha Kaléko

Für die besinnliche Zeit zwischen den Jahren bis zum Dreikönigstag möchte ich Ihnen etwas zum Nachdenken mitgeben. Das Gedicht von Mascha Kaléko nämlich. Sie stellt am Ende drei Fragen – und ich könnte mir vorstellen, dass die Dichterin die Antworten kannte. In diesem Sinne würde ich sie zu dem raren Personenkreis zählen, der die taoistische Philosophie verstanden hat. Ob sie diese auch in ihrem eigenen Leben umgesetzt hat, hätte nur sie allein beurteilen können, doch einer Sache bin ich mir sicher: in ihren Arbeiten hat sie dies vielfach getan! Nicht umsonst verwende ich seit Jahren ihre Texte zur Zierde der Umschlagblätter von TAGundTAO. Und ich habe beschlossen, auf ihre Weisheiten künftig auch in meiner schriftstellerischen Arbeit intensiver als bisher einzugehen. Mein Gruß zum Jahresende an Sie wäre damit ein Anfang.

Wer ist dieser Irgendwer? Ist er ich? Und bin ich Er? Drei Fragen, die drei Antworten verlangen, die unser erlerntes Wissen samt aller unserer Erfahrung nicht geben kann. Warum? Weil wir es nicht wissen. Oder wollen Sie behaupten, Sie könnten diesen Irgendwer beschreiben? Gewiss nicht. Es sei denn, Sie geben Erlerntes von sich und schildern eine Vatergestalt, der Sie göttliche Eigenschaften andichten und die in einem Himmel wohnt, in den Sie dermaleinst, wenn Ihre Stunde schlägt, einziehen möchten. Glauben macht so einen Übervater möglich, und seine irdischen Stellvertreter sorgen dafür, dass ein großer Teil der Gesellschaft sich kultiviert benimmt. Da das Tao mehr oder weniger kontinuierlich den Hintergrund meiner Blog-Beiträge bildet, liegt es freilich nahe, dass Sie dem Irgendwer den Namen geben, auf den Laotse ihn einst getauft hat: Tao! Aber wer ist das Tao? Jeder Versuch einer Beschreibung endet an einer Nebelwand aus Nichtwissen. Es gibt im Gegensatz zur Bibel, zum Talmud oder den Upanishaden keine Schriften, die ein Bild vom Tao zeichnen oder Gebote für ein frommes Leben austeilen. Ihre kleine Aufgabe zum Jahreswechsel besteht also schlicht darin zu realisieren, dass Sie absolut nichts über das Tao wissen und es niemanden gibt, der dieses Vakuum füllen könnte.

Laotse gibt Antwort auf die zweite und dritte Frage, nämlich, dass das Tao Ich ist und Sie ergo Es sind. Aber können Sie das aus eigener Erfahrung unterschreiben? Spüren Sie etwas von Ihrer Identität mit diesem Einen, das Sie im Sinne von Mascha Kalékos Gedicht sogar denkt? Wie soll das geschehen, wo Ihre Gedanken doch – wie sich leicht feststellen lässt – vom Geschehen Ihrer Außenwelt oder Ihren Erinnerungen an vergangene Ereignisse alle Impulse beziehen? Nun, wenn Sie dieser Irgendwer sind, der Sie und Ihre Welt schafft, dann sind Sie in Kooperation mit dem Unbekannten der Erzeuger Ihres Lebens ebenso wie Ihres Denkens und Fühlens. Danach trägt und hält das Tao Sie. Spüren Sie etwas davon – oder fühlen Sie sich allein gelassen? Ihre Antwort auf die drei Fragen darf nicht darin bestehen, auch nur das Geringste davon zu glauben. Auch Versuche, sich entsprechende Gefühle so lange einzureden, bis Sie etwas spüren, sind vergebens. Denn mit derartigen Bemühungen erzeugen Sie nur Pseudogefühle, die unecht sind – und im Grunde nur gedacht, statt empfunden zu werden.

Was bleibt zum Jahresende also übrig? Dass Sie alle drei Fragen mit einem einzigen Satz beantworten: „Ich weiß es nicht!“ Die Bereitschaft zum Nichtwissen hält Ihren Verstand und Ihre alten Überzeugungen draußen aus dem Prozess des Erkennens. Aber in der Wolke des entscheidenden Nichtwissens sind die Antworten enthalten. Sie teilen sich Ihnen ohne Bilder und Worte mit – und in diesem Zustand werden Sie vielleicht zum ersten Mal in Ihrem Leben bewusst begreifen, dass es Informationen gibt, so gewaltig, dass keine Sprache sie in Denkmodelle umsetzen kann. Ihr Nichtwissen begegnet damit einem neuen Phänomen, das sich ungefähr so gut oder schwer beschreiben lässt, wie der Geschmack von Trüffeln, wenn jemand noch nie welche gekostet hat.

Damit wünschen ich und meine Frau Ihnen allen einen gelungenen Wechsel in den kommenden neuen Zeitabschnitt, den der Kalender 2012 nennt.

Theo + Sabine Fischer

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2 Antworten zu Zum Jahresschluss

  1. Lieber Herr Fischer

    Herzlichen Dank für diese tiefgründigen Hinweise… Ja, das mache ich, alle drei Fragen mit einem einzigen Satz beantworten: „Ich weiß es nicht!“ und dazu stehe ich uneingeschränkt…!

    Damit wünsche ich auch Ihnen und Ihrer werten Frau – und allen Blog Teilnehmerinnen und Teilnehmer – einen gelungenen Wechsel in den kommenden neuen Zeitabschnitt, den der Kalender 2012 nennt.

    Mit herzlichen Grüssen,
    Albrecht Lauener

  2. JE sagt:

    Liebe Sabine, lieber Theo,

    vielen Dank für die guten Wünsche zum (Kalender-) Jahreswechsel und für das Gedicht von der beeindruckenden Mascha Kaléko

    Es gibt tatsächlich auf diese drei Fragen nach dem so Unermesslichen keine Antworten, die sich aus unserem „Wissen“ oder mit dem uns zur Verfügung stehenden Wortschatz beantworten ließen.
    Aus diesem Grunde beendet Mascha Kaléko das Gedicht wohl mit diesen drei Fragen, auf die sie bewusst die Antworten nicht gibt.
    Die Antworten liegen in diesem „[In-] Frage-Stellen“ und bleiben damit dem Leser und dessen eigenem Erfahren (nicht: Erfahrung!) bzw. Eingeständnis des Nichtwissens jeweils individuell überlassen.

    Wenn wir diesen „sozusagen ehrlich empfundenen“ Zustand des Nichtwissens zulassen, d.h., etwas, das wir nicht begründen können, einfach einmal stehen lassen, dann hat dies zudem etwas sehr Entspannendes und Freies; nämlich einen Zustand, der alle Möglichkeiten einschließt und eröffnet.

    Ich freue mich auf die in 2012 noch kommenden Beiträge und interessanten Kommentare.

    Herzliche Grüße
    JE

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