An der Quelle des Tao 15

 

Die vor alters tüchtig waren als Meister, waren im Verborgenen eins mit den unsichtbaren Kräften.                                                                                                                                                     Tief waren sie, so dass man sie nicht kennen kann.                                                                          Weil man sie nicht kennen kann, darum kann man nur mit Mühe ihr Äußeres beschreiben.                                                                                                                                     Zögernd, wie wer im Winter einen Fluss durchschreitet,                                                  vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet,                                              zurückhaltend wie Gäste,                                                                                                            vergehend wie Eis, das am Schmelzen ist,                                                                                  einfach, wie unbearbeiteter Stoff.                                                                                                        Weit waren sie, wie das Tal,                                                                                              undurchsichtig waren sie, wie das Trübe.                                                                                         Wer kann (wie sie) das Trübe durch Stille allmählich klären?                                                      Wer kann (wie sie) die Ruhe durch Dauer allmählich erzeugen?                                                  Wer das Tao bewahrt, begehrt nicht Fülle.                                                                                      Denn nur weil er keine Fülle hat, kann er gering sein, das Neue meiden und Vollendung erreichen.

 

Bei allem Respekt vor der Weisheit der alten Taoisten darf man nicht vergessen, in welchem Kalenderjahr die Texte geschrieben worden sind – und auch nicht die sozialen Verhältnisse jener Periode ignorieren. Hinzu kommt, dass der Taoismus zwar zum Wohl der Masse gelehrt wurde, aber man im alten China den Lehren des Konfuzius den Vorzug gab, weil der seine Verhaltensregeln so lautstark hinausposaunte. Wenn ich nur an seine Epistel über die Güte denke. Da bringt Konfuzius es fertig, eine präzise Gradeinteilung der aufzuwendenden Zuneigung aufzustellen, in der er die höchste Güte den Eltern zugesteht, den nächsten Grad den Lebenspartnern, den übernächsten den Kindern, dann den Freunden und so fort, bis am Schluss der Hofhund mit einem winzigen vorgeschriebenen Rest an der Reihe ist. Aber so mögen es die Leute: Je deutlicher die Vorschriften sind, desto eher werden sie akzeptiert, selbst um den Preis, dass da manches Unbequeme verlangt wird. Der obige Spruch fand auch bei Laotses Kommentatoren wenig Gegenliebe. Konfuzius hat sich an einer einzigen Zeile versucht: Im fließenden Wasser kann man sein eigenes Bild nicht sehen, wohl aber im ruhenden. Chuang tzu trägt auch nicht gerade mit Geistesblitzen zum Inhalt des Spruches bei: Wenn der Geist ständig überarbeitet wird, wird er sorgenvoll und Sorgen verursachen Erschöpfung…Das meint, dem Geist nicht erlauben, einen vom Tao wegzuführen und das Natürliche nicht durch menschliche Mittel zu ersetzen. Einzig die Andeutung von Natürlichkeit, mit der er den Charakter eines Meisters zusammenfasst, lässt überhaupt einen Bezug zu dem erkennen, was Laotse auszudrücken scheint.

Laotse spricht von Meistern. Hier sollten wir als erstes das Bild korrigieren, das vor dem geistigen Auge erscheint, wenn das Wort MEISTER auftaucht. Solide empfinden wir den Titel in Verbindung mit dem Handwerk. Dort durchlebt jemand eine mehrjährige Lehre, dann folgt die Gesellenzeit und schließlich krönt die Meisterprüfung die Ausbildung. Oder das Prädikat „Alte Meister“ für die Maler des Mittelalters, die mehr oder weniger unfreiwillig religiöse Motive malen mussten, weil der Klerus einst der einzige Auftraggeber war, der Gemälde brauchte und auch das Geld dafür hatte. ( Ich schätze, so mancher der heutigen Maler würde auf der Stelle seinen abstrakten Stil vergessen, wenn ihm jemand Heiligenbilder und Bibelszenen abkaufen würde.) Weiter kennen wir das Zerrbild des Meisters aus dem Osten im wallenden Gewand, die Bernsteinkette mit den großen gelben Perlen zwischen Daumen und Zeigefinger bewegend, während er dahinschreitet. Den kann Laotse kaum gemeint haben. Denn er redet von einer Meisterschaft, deren Wurzeln tief und unsichtbar sind. Von Zeile zu Zeile beschreibt sein Text den Charakter eines Menschen, der keinen Wert darauf legt, nach außen irgendeinen Anschein zu erwecken. Seine Wesenhaftigkeit gewinnt der Meister des Altertums durch seine Einheit mit den unsichtbaren Kräften.

Was ist also für uns an diesem Spruch von Bedeutung? Warum lohnt sich die Beschäftigung damit überhaupt? Vielleicht, weil wir selber auch gerne Meister wären? Meister unseres Lebens? Dass wir zu Menschen würden, die keinen Ehrgeiz besitzen, andere zu führen oder zu belehren, die aber durch den sichtbaren Erfolg ihrer Lebensphilosophie nonverbal Zeugnis von den heimlichen Kräften geben würden, mit denen sie im Bunde sind? An diesen Punkt einer Lebensqualität möchten gewiss unzählige Menschen gelangen, aber sie wissen nicht, wie man das anstellt. Auch Sie, wenn Sie nach der Lektüre des schwer durchschaubaren Textes von Laotse beschließen würden, so zu werden wie er die Meister charakterisiert, müssten Schiffbruch erleiden, sobald Sie es versuchten. Stellen Sie sich vor, Sie nähmen Laotses Metaphern Zeile für Zeile ernst und wollten sie nachahmen. Da wird Ihnen eine Unauffälligkeit abverlangt, die in totale Selbstverleugnung mündet. Wie Eis vergehend, vorsichtig, als ob Sie Ihre Nachbarn fürchteten, einfach sein wie Nesselstoff, undurchschaubar mit Pokerface und zugleich offenherzig weit wie der Grand Canyon. Sie sollen keine Fülle begehren, und damit gering und unscheinbar bleiben. Wenn Sie sich dann obendrein noch jeglicher Neuerung verweigern, stellt Laotse Ihnen Vollendung in Aussicht. Für mich klingen diese Anforderungen als Voraussetzung einer Meisterschaft unsinnig. Zu ähnlich den strengen Regeln eines Mönchtums, das Schmerz durch Lustverzicht zu vermeiden versucht.

Dennoch lassen sich aus den seltsamen Textpassagen Hinweise  herausfiltern, wie ein Mensch zur Meisterschaft über sein Leben gelangen kann. Laotse versucht sich in seiner Schilderung an Metaphern, die für die Abwesenheit eines dominierenden Egos stehen. Die Nähe zum Grund und seinen unsichtbaren Kräften stellt sich ein, ohne dass wir es verhindern könnten, sobald die Bildersammlung, aus der wir unser Selbstverständnis gewinnen, wie ein Eisblock in der Sahara dahinschmilzt. Unser seit Jahrzehnten eingefrorenes Bild von uns selbst löst sich auf, wenn wir begreifen, dass genau dieses uns im Status eines nicht enden wollenden Lehrverhältnisses festhält. Es gilt den Versuch, eine zeitlang ohne eine Meinung über sich zu leben. Wenn Ihr Selbstbild sich in letzter Konsequenz als eine Gefahr für die Verwirklichung eines gelungenen Lebens erweist, wird es Zeit, sich ernsthaft damit zu beschäftigen, ob es nicht eine Alternative gibt. Und es gibt sie tatsächlich: Dem Yin des Selbstbildes steht das Yang des Unbeschreiblichen an Ihnen gegenüber. Das sind die Wesenseigenschaften, die erst offenbar und damit entdeckbar werden, wenn die Trübung Ihres Geistes sich klärt, weil Ruhe die innere Hektik des Strebens ersetzt hat. Jagen Sie nicht nach der Fülle, begehren Sie die Erfüllung nicht – dann sind Sie dem Tao und seinen unermesslichen Kräften nahe.

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