An der Quelle des Tao 71

Um die Nichtwissenheit zu wissen, ist das Höchste.                                                                Nicht zu wissen, was Wissen ist, ist ein Leiden.                                                                           Wenn man dieses erkennt, wird man vom Leiden frei.                                                                 Dass der Berufene nicht leidet, kommt daher,                                                                                 dass er Leiden als Leiden erkennt. Darum leidet er nicht.

Das Wissen, von dem Laotses 71. Spruch handelt, meint nicht das Schulwissen, nicht die Allgemeinbildung oder das Fachwissen in Beruf und Forschung. Laotse spricht von jenem Wissen, mit dem sich Philosophen beschäftigen, seit das menschliche Gehirn so weit entwickelt war, dass es zu Grübeleien über das Sein und den Sinn fähig war. Der erste Satz erhebt die Nichtwissenheit (ein Wortgebilde, das dem 21. Jahrhundert entsprungen sein könnte) zum Gipfel der Weisheit. Es klingt ziemlich überheblich – wie kann ein einzelner Mann sich das Recht herausnehmen, die geistige Ausbeute aller Denker dieser Welt mit einer einzigen barschen Handbewegung vom Tisch zu fegen? Aber, einmal Hand aufs Herz, wäre es auch überheblich, wenn Laotse Recht hätte? Wenn er als einer der wenigen Menschen seiner Zeit, allen Philosophen einschließlich Konfuzius zum Trotz eine fundamentale Einsicht gewonnen hätte, nämlich, dass das vom Menschen so hoch eingeschätzte Grundwissen über sich und seine Existenz das eigentliche Hindernis ist, das ihm die Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge des Seins versperrt? Was freilich das Dilemma aufwirft, dass unserer Sprache wieder einmal ein Begriff fehlt, und zwar zur Unterscheidung zwischen dem allgemein gültigen Typ philosophisch/psychologischen Wissens und dem intuitiv und ohne Fremdeinfluss erlangten Kenntnisstand der wirklichen Beziehungen zwischen Mensch und Schöpfung. Denn woher dieses anfängliche Kennen der Wahrheit auch gewonnen wurde, am Ende wird es notwendigerweise zur Information und landet als Wissen im Gedächtnis. Wir haben es also theoretisch mit mehreren Versionen von Wissen zu tun: Wissen römisch eins: – unser Schulwissen, Wissen römisch zwei: – das philosophisch/psychologische Wissen, und Wissen römisch drei wäre dann das intuitiv gewonnene, namenlose, das Laotse als das Nichtwissen bezeichnet. Nachdem Nichthandeln im taoistischen Sinne bereits für Aktion und nicht für Passivität steht, denke ich, wir begehen keinen dialektischen Fauxpas, wenn wir für das Wissen vom Typ römisch drei in der Folge das Wort Nichtwissen benutzen.

Nicht zu wissen, was Wissen ist, ist ein Leiden, geht der Spruch weiter. Hier wird Laotse doppeldeutig. Mit dem zitierten Wissen, das zum Leiden ausartet, wenn nichts darüber gewusst wird, meint er das kreative Nichtwissen. Er sagt damit, dass diejenigen Menschen zu den Leidenden zählen, denen die Wahrheit des Seins, die Wahrheit über die wirkliche Subjekt-Objekt-Beziehung ihrer Identität nicht bekannt ist. Das Leiden wird auf die Tatsache zurückgeführt, dass die betroffenen Menschen unfähig sind, zwischen Nichtwissen in Gestalt von Unwissenheit und jenem Nichtwissen, dem Pendant des Nichthandelns zu unterscheiden, das die falschen Lehren verneint, weil sie als Hindernisse zur Wahrheit erkannt wurden. Er degradiert hier die allgemein respektierte Qualität des Wissens der Kategorie römisch zwei auf die Stufe von Wahn und Irrglauben.

Wenn man dieses erkennt, wird man vom Leiden frei. Beginnt hier die Lebenshilfe für den mit einem normalen Verstand ausgestatteten Sterblichen? Oder will Laotse gar nicht verstanden werden, ähnlich einem Zen-Meister, der seine Eleven mit seltsamen Sprüchen piesackt und verlangt, dass sie sich damit auseinandersetzen? Ich möchte hier den Alten in Schutz nehmen. Für ihn war sonnenklar, was er da niederschrieb. Von alters her leidet der Mensch unter seinen Lebensumständen. Davon sind wir heute auch nicht frei. Und wenn es „nur“ eine chronische Erkältung oder eine ebenso chronische Verstimmung unter Liebenden ist, Schulden drücken, oder, nicht zu vergessen, Sorgen um den Fortbestand des Einkommens. Und für Laotse inklusive seiner Brüder im Geist des Tao war es beinahe selbstverständlich – darum auch die scheinbare Beiläufigkeit der Bemerkung – dass die Leiden des Menschen beendet werden können, wenn er dessen Ursachen erkennt. Das Phänomen Erkenntnis wird viel zu oft unterschätzt, unterbewertet, dabei spielt es auf der Ebene des menschlichen Geistes eine Hauptrolle, weil Erkenntnis mehr Wirkkraft als die Verstandesgaben besitzt. Der menschliche Konflikt beginnt und endet auf dem Feld des Wissens. Wir müssen in diesem Zusammenhang verstehen, dass Glaubensinhalte ebenfalls auf dem Wissen einer Lehre oder einer Weltanschauung basieren. Millionen Menschen glauben an die Geschichten, die von der Lehre, der sie anhängen, verbreitet werden. Es sei an dieser Stelle vermerkt, dass sich innerhalb der zahllosen Legenden, auf denen sich Weltanschauungen aufbauen, sicher wahre Begebenheiten befinden. Das Problem dabei ist der Zusammenhang, in dem solche tatsächlich geschehenen Ereignisse dem interessierten Menschen vermittelt werden. Laotse geht im Verneinen des Wissens so weit, dass er selbst den Wert wirklich stattgefundener Ereignisse, die sogar Schlüsselcharakter haben mögen, wegen ihrer Gefahr für das Funktionieren des spontanen Nichtwissens in Frage stellt. Genesung vom Leiden am Dasein erfordert das konsequente Verneinen allen Wissensstoffes, der sich auf die menschliche Psyche und seine subjektive Identität bezieht. Zu erkennen, dass man nichts über sich weiß, dass man die Wahrheit über sich und seine Beziehung zum schöpferischen Grund nicht kennt, bildet die Grundlage des Nichtwissens. Chuang tzu nimmt mit seiner paradoxen Logik Stellung zu dem Spruch: Wer nicht weiß, weiß in Wirklichkeit doch, und wer weiß, weiß in Wirklichkeit nicht. Womit er auf gut Deutsch sagt, dass die Leute, die sich einbilden, alles oder das Meiste zu wissen, Ignoranten und meilenweit weg von der Erkenntnis der Wahrheit sind. Während sich den anderen, den Bescheidenen, Selbstgenügsamen, die zum Nichtwissen bereit sind, die Quellen der Weisheit des Grundes öffnen und damit verbunden die Befreiung vom Leiden unserer Zeit.

Haben Sie verstanden, was in den vorausgegangenen Absätzen gesagt wurde? Ist „kreatives“ Nichtwissen während der Lektüre des Textes zu einem nachvollziehbaren Element geworden, das Sie im Alltag realisieren können? Darf ich Ihnen etwas verraten? Es ist eigentlich vom Gelingen des taoistischen Prinzips her schnurzpiepegal, ob Sie jetzt über Wissen und Nichtwissen Bescheid wissen oder ob das nicht der Fall ist. Wenn ich mit dem nicht gerade leicht verständlichen Thema bewirkt habe, dass Sie „ich kann mit dem ganzen Geschwätz über Wissen und Nichtwissen ganz und gar nichts anfangen“ ausrufen, dann sei Ihnen gratuliert. Und ich möchte Sie bitten: Bleiben Sie dabei. Versuchen Sie nichts damit anzufangen. Halten Sie sich außer Ihrem Schulwissen alle anderen Sorten dieses Phänomens vom Leib. Es lohnt nicht, sich damit zu beschäftigen. Dann sind Sie exakt in jener Geistesverfassung, die Laotse Ihnen in seinem Spruch infolge Sprachschwierigkeit etwas glücklos nahe bringen will. Dann gleichen Sie dem Berufenen – das ist der Mensch, der den WEG des Tao geht – der nicht mehr leidet, weil er das Gerangel um Wissen und Nichtwissen als Unsinn erkannt hat und die Finger davon lässt.

 

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3 Antworten zu An der Quelle des Tao 71

  1. Alter Chinese! sagt:

    Hi. Welches Buch/Kapitel war es nochmal, wo Theo Fischer seine in „Wu wei“ dargelegte Einstellung zum „Positiven Denken“ (Kapitel „Tao statt Positives Denken“) relativiert? Habe über die Suchen-Funktion, meiner trüben Erinnerung nach, nicht das gefunden, was ich meine – lediglich die Sache mit dem Metallsplitter im Knie und der Autosuggestion. Den Umzugskarton mit den Taschenbüchern habe ich immerhin bereits gefunden. 😉 / Nachdem ich vor Jahren auch generelles Gefallen an Lebenshilfe-Hörbüchern gefunden habe, möchte ich auch gerne wissen, ob von Theo Fischer außer „Wu wei +“ und „Yu wei“ evtl. bereits die Produktion/Veröffentlichung weiterer Hörbücher geplant ist. Ich kaufe sie alle! – Also jeweils nur einmal, meine ich natürlich. Danke im Voraus.

    • Sabine sagt:

      tut mir leid, das kann ich jetzt auch nicht auswendig sagen. Möglicherweise bei Fragen und Antworten? Am besten alle nochmal lesen 😉
      Das mit den Hörbüchern geht von Rowohlt aus, da hab ich keinen Einfluss drauf, kann ich also leider auch nicht sagen. Aber da würd ich einfach mal bei Rowohlt fragen, dann merken die auch, dass da Interesse besteht.

  2. Alter Chinese! sagt:

    „Fragen und Antworten“ ist doch tollerweise dem „Wu wei“-Hörbuch beigepackt! Da ist es nicht dabei. In einem Spätwerk hadert er meiner Erinnerung nach mit dem einen und anderen Ratschlag früherer Tage und ich meine, dass er sich da auch noch seine frühere Ablehnung des „Positiven Denkens“ vornimmt (und diese relativiert), welches übrigens auch in meinen Augen fürchterlich ist, da die Methode „unfehlbar“ sein soll, und wenn es nicht klappt, bist natürlich nur du selber dran schuld, weil du dich nicht genügend angestrengt hast. – Da kann ich ja gleich zur Wissenschaftssekte aus USA überlaufen! Heutzutage redet man, das Kapitel „Tao statt Positives Denken“ im Grunde bestätigend, ganz hipstermäßig vom „toxischen Positivismus“. Sicherlich aber ist die Methode, also Autosuggestion, nicht „nur schlecht“. – Nichts gegen den großen spirituellen Lehrer und Bestsellerautor, dessen Pseudonym an Buchecker und an Tollkirsche erinnert. – Beim Anhören der neuen Hörbücher jedoch wurde mir sofort klar, wie sehr ich diesen Theo-Fischer-typischen sehr erwachsenen, dabei angenehm leicht distanzierten, freundlich-ironischen, old-school-höflichen, Schreibstil vermisst hatte! – Ach ja, apropos old-school, „Weisheit des ungesicherten Lebens“ von Alan Watts gibt´s neuerdings auch auf Deutsch als Hörbuch! – Rowohlt fragen, gute Idee! Wenn man schon solche Edelsteine hat, warum diese nicht mal wieder aufpolieren und in eine neue Ringfassung einfassen? Die Hörbuch-Form birgt bei derartigen Büchern einen echten Zusatz-Nutzen – man hört Dinge, die man zuvor vielleicht mehrfach überlesen hatte. Ein Buch kann man ablegen und über den letzten Satz sinnieren – auch nicht schlecht. Ein Hörbuch wiederum kann man ohne Anstrengung immer wieder und auch nebenbei hören, sogar zum Einschlafen. Beides birgt Vorteile.

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