An der Quelle des Tao 34

Das große Tao ist überströmend, es kann zur Rechten und zur Linken sein.

Alle Dinge verdanken ihm ihr Dasein, und es verweigert sich ihnen nicht.

Ist das Werk vollbracht, ergreift es nicht Besitz.

Es kleidet und nährt alle Dinge und spielt nicht ihren Herrn.

Da es ewig nicht begehrend ist, kann man es als klein bezeichnen.

Weil alle Dinge von ihm abhängen,ohne es als Herrn zu kennen,

kann man es als groß bezeichnen.

Also auch der Berufene: Niemals macht er sich groß.

Darum bringt er sein großes Werk zustande.

Wie oft schon erwähnt, ist das Tao schwer zu beschreiben. Jeder Versuch muss unzulänglich wirken. Es ist Laotse, der das von Anfang an begriffen hat, hoch anzurechnen, dass er dennoch zahlreiche Versuche in diese Richtung unternahm. Sein vierunddreißigster Spruch dürfte einer der Schwächsten darunter sein. Wir stehen dem Tao als etwas Gewaltigem gegenüber, das aber mit unserer Sprache nicht beschreibbar ist.  Nicht dass die Sprache an sich als Werkzeug ungenügend wäre, wir können einem Ding den Namen Groß oder Winzig geben (wie die wörtliche Übersetzung von Microsoft winzigweich!  lauten würde, was die Sache kaum trifft) – aber keine dieser Zuordnungen sagt wirklich etwas über Inhalte aus. Die Tiefe des Tao mit Worten auszuloten würde dem Versuch gleichen, im Pazifik den Marianengraben mit Schnur und Senkblei zu vermessen. Dennoch enthält der Spruch zwischen den Signalen der Ohnmacht einige Zeilen, auf die es sich im Zusammenhang mit der Lebenskunst des Tao durchaus einzugehen lohnt. Doch zuerst wollen wir lesen, wie Chuang tzu Stellung zu dem Spruch nimmt: Weiterlesen

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Weihnachten 2024

Allen Taoleserinnen und-lesern wünsche ich besinnliche Weihnachtsfeiertage und ein friedliches Neues Jahr 2025.

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An der Quelle des Tao 14

Man schaut nach ihm und sieht es nicht: Sein Name ist Keim.

Man horcht nach ihm und hört es nicht: Sein Name ist fein.

Man fasst nach ihm und fühlt es nicht: Sein Name ist Klein.

Diese drei kann man nicht trennen, darum bilden sie vermischt Eines.

Sein Oberes ist nicht licht, sein Unteres ist nicht dunkel.

Ununterbrochen quellend, kann man es nicht nennen.

Er kehrt wieder zurück zum Nichtwesen.

Das heißt die gestaltlose Gestalt, das dinglose Bild. Das heißt das dunkel Chaotische.

Ihm entgegengehend sieht man nicht sein Antlitz, ihm folgend sieht man nicht seine Rückseite.

Wenn man das Tao des Altertums festhält, um das Sein von heute zu beherrschen, dann kann man den alten Anfang wissen.

Das heißt des Tao durchgehender Faden.

Das Tao ist eigentlich gegenüber den zahlreichen Religionen im Nachteil: Überall, wo in der Welt ein Volk etwas glaubt, wird dieser Glaube durch die Geschichte von Gottheiten untermauert, die einen personalen Charakter haben. Zum Beispiel Buddha: Da handelt es sich um einen Mann, der eine Mutation erlebte, die ihn zu den Göttern aufsteigen ließ. Auch die hinduistischen Gottheiten Kali und Shiva sind bildhaft darstellbar und es sind, einschließlich eines wohlwollenden, beleibten Buddhas, Abermillionen Skulpturen im Umlauf. Selbst der Gott Israels wird von den Propheten beschrieben als „Einer, der wie ein Mensch aussah“ und auf einem Thron sitzt. Die Statthalter und Priester der Gottheiten bis hin zu den Schamanen der Eskimos waren zu allen Zeiten für Auskünfte verfügbar und zeichneten dem Volk Bilder ihrer Götter. Die Palette reicht von der überwältigenden Lichterscheinung bis zur gefiederten Schlange der Azteken. Allein dem Tao fehlt dies alles. Im 14. Spruch versucht Laotse die Ungreifbarkeit des Tao zu deuten. Seine Formulierungen sind mystischer als die meisten anderen im Tao te king. Es würde keinen Sinn machen, wenn ich auf jede Zeile einginge, denn der Spruch ist im Grunde nur im Erfassen seines Ganzen aussagekräftig und verständlich. Laotse erklärt mit der Hilfe von Verneinungen, was er bereits in seinen ersten Sprüchen ausdrückte, dass das Tao nicht beschrieben werden kann und jede Aussage darüber von vornherein falsch sein muss. In seinem Spruch schimmert etwas wie Verzweiflung durch, dass das Tao so unfassbar ist, dass es sich allen unseren Fragen und Enthüllungsversuchen entzieht, in ähnlicher Art, wie manche der elementarsten Probleme des Lebens sich dem Biologen entziehen. Sobald wir meinen, wir seien im Begriff, sein Geheimnis zu enthüllen, stehen wir vor einer glatten Mauer. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 33

Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selber kennt, ist weise.

Wer andere besiegt, hat Kraft.Wer sich selber besiegt, ist stark.

 Wer sich durchsetzt, hat Willen. Wer sich genügen lässt, ist reich.

Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer.Wer auch im Tode nicht untergeht, der lebt.

Laotse führt uns in seinem 33. Spruch die Kluft vor Augen, die die Einsichten in das Wesen anderer Menschen von der Selbsterkenntnis trennt. Die Gegensatzpaare, die er einander gegenüber stellt, entlarven unsere von der Gesellschaft favorisierten Eigenschaften als den schwächeren Teil von uns. Andere zu kennen, mag Vorteile haben, im Geschäftsbereich ist ein Minimum an Einblick in die oft raffinierten Schachzüge der Verhandlungspartner unerlässlich und der Psychologe könnte seinen Beruf ohne die Klugheit einer tiefen Menschenkenntnis nicht ausüben. Aber die Weisheit taoistischer Lebensart kommt im Erkennen unserer selbst zur Auswirkung. Andere zu beurteilen ist nicht schwer, dazu braucht man weder Charakter noch Intelligenz. Die Schwierigkeiten beginnen dort, wo es um die eigene Haut geht. Wer verträgt schon Kritik, die von anderen kommt? – Selbst unsere Liebsten machen sich unbeliebt, wenn sie etwas an uns auszusetzen haben. Wir tragen, seit wir denken können, ein Bild von uns im Herzen. Es ist jenes Bild, das so empfindlich auf Missachtung und Kränkungen reagiert. Und dieses Bild sollen wir laut Laotse auf seinen Wahrheitsgehalt hin durchleuchten? Selbstkritik üben an einer Wesenheit, von der wir eine so hohe Meinung haben? Genau das will der Spruch bewirken. Dass wir uns dem eigenen Charakter stellen, wie er tatsächlich gewachsen ist und die falschen Bilder über uns mit einem kraftvollen Schlag zerstören. Schauen wir uns ins ungeschminkte Gesicht – und leben wir damit! Analog verhält es sich mit unserem Siegeswillen. Ihn nach draußen zu richten ist die gewohnte Art der Lebensentfaltung nach Darwins Gesetzen. Was uns dagegen das Energiepotenzial des Grundes erschließt, ist der umgekehrte Prozess: wir müssen den Kampf mit uns selber siegreich beenden. Nicht durch einen Gewaltakt. Auch nicht durch permanenten Dauerstress im Bemühen, etwas zu werden, das wir nicht sind. Der Sieg drückt sich im Aufhören aus. Wir überwinden uns dazu, nichts mehr zu unternehmen, um jemand anderer zu sein oder darzustellen. Das alte, geschönte oder sogar gefälschte Bild von uns zerstört sich selbst, sobald wir nicht mehr im Zustand des Werdens sind und kein Bedürfnis mehr haben, uns anders darzustellen, als wir wirklich sind. Damit endet alle Anstrengung. Wer zu diesem Geisteszustand findet, gerät nicht auf die Verliererstraße. Sein Durchsetzungsvermögen leidet nicht darunter, aber er bedient sich anderer Mittel, seine Ziele zu erreichen. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 24

Wer auf den Zehen steht, steht nicht fest.

Wer mit gespreizten Beinen geht, kommt nicht voran.

Wer selber scheinen will, wird nicht erleuchtet.

Wer selber etwas sein will, wird nicht herrlich.

Wer sich selber rühmt, vollbringt keine Werke.

Wer sich selber hervortut, wird nicht erhoben.

Er ist für das Tao wie Küchenabfall. Und auch die Geschöpfe hassen ihn alle.

Darum: wer das Tao hat, weilt nicht dabei.

Der 24. Spruch braucht eigentlich keine Interpretation, er spricht für sich, ohne dass weitere Erklärungen notwendig wären. Chuang tzu nennt ihn „Ratschlag gegen das Prahlen“ und liest sich ein wenig komplizierter: Wer versucht, sich hervorzutun, ist bloß ein Krämer. Die Leute sehen ihn gespreizt einherschreiten und nennen ihn einen Führer des Gemeinwesens. Unter den fünf Lastern ist das Laster des Geistes das schlimmste. Was ist das Laster des Geistes? Das Laster des Geistes heißt Selbstgefälligkeit. Derjenige, der nicht sich, sondern andere sieht, oder nicht von sich selbst, sondern von anderen Besitz ergreift, indem er nur das besitzt, was andere besitzen, und sein eigenes Selbst nicht besitzt, tut bloß was den anderen gefällt, statt seiner eigenen Natur zu gefallen. Nun ist aber einer, der anderen gefällt, statt seiner eigenen Natur zu gefallen nichts als ein Mensch, der in die Irre gegangen ist. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 20

Zwischen Gewiss und Jawohl: was ist da für ein Unterschied?

Zwischen Gut und Böse: was ist da für ein Unterschied?

Was die Menschen ehren, muss man ehren. O Einsamkeit, wie lange dauerst du?

Alle Menschen sind so strahlend, als ginge es zum großen Opfer,

als stiegen sie im Frühling auf die Türme.

Nur ich bin so zögernd, mir ward noch kein Zeichen,wie ein Säugling, der noch nicht lachen kann, unruhig,  umgetrieben, als hätte ich keine Heimat.

Alle Menschen haben Überfluss, nur ich bin wie vergessen.

Ich habe das Herz eines Toren, so wirr und dunkel.

Die Weltmenschen sind hell, ach so hell, nur ich bin wie trübe.

Die Weltmenschen sind klug, ach so klug, nur ich bin wie verschlossen in mir,

unruhig, ach, als wie das Meer, wirbelnd, ach, ohne Unterlass.

Alle Menschen haben ihre Zwecke, nur ich bin müßig wie ein Bettler.

Ich allein bin anders als die Menschen.

Doch ich halte es wert, Nahrung zu suchen bei der Mutter.

Laotses zwanzigster Spruch klingt wie Jeremias Klagelieder. Er zieht eine Trennlinie zwischen den erfolgreichen, überlegenen Weltmenschen und sich, dem Versager und Außenseiter, der so ganz anders ist als alle anderen. Müssen wir annehmen, dass wir Laotse hier an einem schlechten Tag ertappen, wo ihm alles über den Kopf wächst? Wo er sich voller Selbstmitleid über die Erfolgreichen, über die Trendsetter beklagt, die ihn einsam am Wegesrand in seinem Elend stehen lassen? Ganz und gar nicht. In diesem Text kommt sein hintergründiger Humor zum Ausdruck. Er schreibt eine Persiflage über die Menschen, die im Gegensatz zu ihm dem Zeitgeist huldigen. Erst ganz am Schluss der Litanei verrät er die Pointe: Von der Mutter, die ihn nährt, dem Tao. Den feinen Sinn dieses letzten Satzes stellt Chuang tzu in seinem Kommentar ganz vorne an und beweist damit, wie gut er den alten Meister kennt. Er hat die schalkhafte Verzerrung von Laotses eigenem Zustand auf der Stelle durchschaut und beginnt darum seine Stellungnahme zum 20. Spruch mit der Parabel vom Wesenhaften: Der Wesenhafte lebt zu Hause, ohne seinen Geist zu üben, und vollbringt Taten, ohne sich darum zu sorgen. Die Begriffe von Gut und Böse, Lob und Tadel anderer fechten ihn nicht an. Wenn sich innerhalb der vier Meere alle Menschen freuen können, empfindet er es als Glück; wenn alle Menschen wohl versorgt sind, fühlt er es als Friede. Bekümmerten Ausdrucks sieht er aus wie ein Kleinkind, das die Mutter verloren hat; töricht scheinend, geht er umher wie einer, der den Weg verloren hat. Er hat viel Geld zum Ausgeben und weiß nicht, woher es stammt. Er isst und trinkt gerade genug und weiß nicht, wo sein Essen herkommt. Solcherart ist das Benehmen eines wesenhaften Menschen. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 12

 

Die fünferlei Farben machen des Menschen Auge blind.                                                           Die fünferlei Töne machen des Menschen Ohren taub.                                                              Die fünferlei Würzen machen der Menschen Gaumen schal.                                           Rennen und Jagen machen der Menschen Herzen toll.                                                       Seltene Güter machen der Menschen Wandel wirr.                                                              Darum wirkt der Berufene für den Leib und nicht fürs Auge.                                                    Er entfernt das andere und nimmt dieses.

Für einen Leser, der Laotse nicht kennt, wirkt der 12. Spruch wie die Nörgelei eines verbitterten, das Leben und seine Genüsse verneinenden Greises. Auf den ersten Blick irritiert der Text auch Freunde des Tao te king. Was, um Himmels willen predigt der taoistische Weise da? Ist der Spruch Originalton Laotse oder hat ihm den jemand aus einer späteren Generation untergeschoben? Chuang tzu stößt zum Thema Sinneserleben quasi ins gleiche Horn: Die fünf Sinne lenken uns von unserem eigentlichen Wesen ab. Es gibt fünf Wege, wie wir unser ursprüngliches Wesen einbüßen. Und dann zählt er wie Laotse auf, was unsere Sinne so alles an unserem Wesen anrichten, wenn sie falsch eingesetzt werden. Eine solche Einstellung passt doch besser zu einem mittelalterlichen Bußprediger. Martin Luther hätte gegen die sündigen Einflüsse wettern könne, welche über unsere Sinne die Seele verunreinigen. Was soll das also? Unser Sinneserleben hat wesentlichen Anteil an der Erfüllung unseres Daseins. Wenn wir uns nicht die Ohren verstopfen, die Augen zubinden, Fausthandschuhe tragen, die Nase zustöpseln und den Gaumen mit Cayenne-Pfeffer außer Betrieb setzen, haben wir doch gar keine andere Wahl, als die äußeren Eindrücke über unsere Sinne auf uns einwirken zu lassen. Was hinterher, nachdem die Eindrücke uns erreicht haben, unser Gehirn damit anstellt, ist allerdings eine andere Sache. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 11

(ich hätte schwören können, dass ich diesen Beitrag schon mal gebracht hab. Da ich ihn aber nirgends gefunden habe, kommt er eben jetzt)

Dreißig Speichen umgeben eine Nabe: In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.

Man höhlt Ton und bildet ihn zu Töpfen: In ihrem Nichts besteht der Töpfe Werk.

Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer werde: In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk.

Darum: Was ist, dient zum Besitz. Was nicht ist, dient zum Werk.

Der elfte Spruch aus dem Tao te king dürfte neben dem ersten einer der meistzitierten sein. In seiner Klarheit verleitete er über die Zeiten hinweg manchen von der schreibenden Zunft, ihn als klassisches Beispiel für die Grundstruktur des taoistischen Denkens zu verwenden. Diesem Anspruch wird der Spruch auch gerecht. Weniger gerecht wird ihm oft seine Verwendung: man setzt ihn überall dort ein, wo hübsch formulierte, poetische Sprüche hinpassen. Das ist, als ob man einen fein ziselierten Kelch von Benvenuto Cellini als Bonbonschale verwendete. Laotses Gleichnis richtet den Blick auf die Kunst des Wagenmachers, den Chuang tzu für seine Fähigkeit preist, ohne Zirkel und Winkelmaß Linien und Kreise zu schaffen. Ein Bündel Speichen genügt, um ein Rad beweglich und zugleich leicht zu machen. Als Gegenstück schweben dem geistigen Auge Räder vor, die aus mehreren Schichten massiver Bretter zusammengenagelt und ausgesägt worden sind. Von Bauern ohne die Fachkenntnis des Wagners plump, schwer und von den Ochsen kaum zu bewegen hergestellt. Doch der Bezug auf die spontane Kunstfertigkeit taoistischer Handwerker berührt nur die Oberfläche. Auch die Binsenweisheit, dass ein Krug einzig dadurch etwas nützt, weil er hohl ist und man folglich hübsche Getränke einfüllen kann, trifft den Kern des Spruches nicht. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 15

 

Die vor alters tüchtig waren als Meister, waren im Verborgenen eins mit den unsichtbaren Kräften.                                                                                                                                                     Tief waren sie, so dass man sie nicht kennen kann.                                                                          Weil man sie nicht kennen kann, darum kann man nur mit Mühe ihr Äußeres beschreiben.                                                                                                                                     Zögernd, wie wer im Winter einen Fluss durchschreitet,                                                  vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet,                                              zurückhaltend wie Gäste,                                                                                                            vergehend wie Eis, das am Schmelzen ist,                                                                                  einfach, wie unbearbeiteter Stoff.                                                                                                        Weit waren sie, wie das Tal,                                                                                              undurchsichtig waren sie, wie das Trübe.                                                                                         Wer kann (wie sie) das Trübe durch Stille allmählich klären?                                                      Wer kann (wie sie) die Ruhe durch Dauer allmählich erzeugen?                                                  Wer das Tao bewahrt, begehrt nicht Fülle.                                                                                      Denn nur weil er keine Fülle hat, kann er gering sein, das Neue meiden und Vollendung erreichen.

 

Bei allem Respekt vor der Weisheit der alten Taoisten darf man nicht vergessen, in welchem Kalenderjahr die Texte geschrieben worden sind – und auch nicht die sozialen Verhältnisse jener Periode ignorieren. Hinzu kommt, dass der Taoismus zwar zum Wohl der Masse gelehrt wurde, aber man im alten China den Lehren des Konfuzius den Vorzug gab, weil der seine Verhaltensregeln so lautstark hinausposaunte. Wenn ich nur an seine Epistel über die Güte denke. Da bringt Konfuzius es fertig, eine präzise Gradeinteilung der aufzuwendenden Zuneigung aufzustellen, in der er die höchste Güte den Eltern zugesteht, den nächsten Grad den Lebenspartnern, den übernächsten den Kindern, dann den Freunden und so fort, bis am Schluss der Hofhund mit einem winzigen vorgeschriebenen Rest an der Reihe ist. Aber so mögen es die Leute: Je deutlicher die Vorschriften sind, desto eher werden sie akzeptiert, selbst um den Preis, dass da manches Unbequeme verlangt wird. Der obige Spruch fand auch bei Laotses Kommentatoren wenig Gegenliebe. Konfuzius hat sich an einer einzigen Zeile versucht: Im fließenden Wasser kann man sein eigenes Bild nicht sehen, wohl aber im ruhenden. Chuang tzu trägt auch nicht gerade mit Geistesblitzen zum Inhalt des Spruches bei: Wenn der Geist ständig überarbeitet wird, wird er sorgenvoll und Sorgen verursachen Erschöpfung…Das meint, dem Geist nicht erlauben, einen vom Tao wegzuführen und das Natürliche nicht durch menschliche Mittel zu ersetzen. Einzig die Andeutung von Natürlichkeit, mit der er den Charakter eines Meisters zusammenfasst, lässt überhaupt einen Bezug zu dem erkennen, was Laotse auszudrücken scheint. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 71

Um die Nichtwissenheit zu wissen, ist das Höchste.                                                                Nicht zu wissen, was Wissen ist, ist ein Leiden.                                                                           Wenn man dieses erkennt, wird man vom Leiden frei.                                                                 Dass der Berufene nicht leidet, kommt daher,                                                                                 dass er Leiden als Leiden erkennt. Darum leidet er nicht.

Das Wissen, von dem Laotses 71. Spruch handelt, meint nicht das Schulwissen, nicht die Allgemeinbildung oder das Fachwissen in Beruf und Forschung. Laotse spricht von jenem Wissen, mit dem sich Philosophen beschäftigen, seit das menschliche Gehirn so weit entwickelt war, dass es zu Grübeleien über das Sein und den Sinn fähig war. Der erste Satz erhebt die Nichtwissenheit (ein Wortgebilde, das dem 21. Jahrhundert entsprungen sein könnte) zum Gipfel der Weisheit. Es klingt ziemlich überheblich – wie kann ein einzelner Mann sich das Recht herausnehmen, die geistige Ausbeute aller Denker dieser Welt mit einer einzigen barschen Handbewegung vom Tisch zu fegen? Aber, einmal Hand aufs Herz, wäre es auch überheblich, wenn Laotse Recht hätte? Wenn er als einer der wenigen Menschen seiner Zeit, allen Philosophen einschließlich Konfuzius zum Trotz eine fundamentale Einsicht gewonnen hätte, nämlich, dass das vom Menschen so hoch eingeschätzte Grundwissen über sich und seine Existenz das eigentliche Hindernis ist, das ihm die Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge des Seins versperrt? Was freilich das Dilemma aufwirft, dass unserer Sprache wieder einmal ein Begriff fehlt, und zwar zur Unterscheidung zwischen dem allgemein gültigen Typ philosophisch/psychologischen Wissens und dem intuitiv und ohne Fremdeinfluss erlangten Kenntnisstand der wirklichen Beziehungen zwischen Mensch und Schöpfung. Denn woher dieses anfängliche Kennen der Wahrheit auch gewonnen wurde, am Ende wird es notwendigerweise zur Information und landet als Wissen im Gedächtnis. Wir haben es also theoretisch mit mehreren Versionen von Wissen zu tun: Wissen römisch eins: – unser Schulwissen, Wissen römisch zwei: – das philosophisch/psychologische Wissen, und Wissen römisch drei wäre dann das intuitiv gewonnene, namenlose, das Laotse als das Nichtwissen bezeichnet. Nachdem Nichthandeln im taoistischen Sinne bereits für Aktion und nicht für Passivität steht, denke ich, wir begehen keinen dialektischen Fauxpas, wenn wir für das Wissen vom Typ römisch drei in der Folge das Wort Nichtwissen benutzen. Weiterlesen

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