Interview mit Theo Fischer von Sonja Panthöfer

Beim Aufräumen des Taoblogs bin ich wieder auf dieses Interview in der Wiener Zeitung gestoßen. Es wurde 2 Jahre vor seinem Tod gemacht und bringt meiner Meinung nach sehr gut seine Ansichten auf den Punkt. Das Original ist auch rechts unter den Links.

Theo Fischer

Theo Fischer: Finden Sie, dass ich wie ein Guru aussehe?

„Wiener Zeitung“: Eigentlich nicht. Sie tragen zumindest keine wallenden bunten Gewänder. Aber als Sie auf mich zukamen, schoss mir tatsächlich der Gedanke durch den Kopf, dass Sie ein bisschen asiatisch wirken.

Um Gottes willen! Asiatisch will ich auf keinen Fall aussehen. Wenn, dann doch bitte badisch. Schließlich komme ich aus Karlsruhe.

Gibt es denn Leute, die in Ihnen eine Art Guru sehen?

Es gibt natürlich welche, die auf der Suche nach so jemandem sind. Aber der Taoismus sammelt keine Scharen von Anhängern, weil er nichts verspricht. Er ist auch für Glaubensgemeinschaften völlig untauglich, weil es nichts gibt, was geglaubt werden könnte.

Und wie sehen Sie sich selbst?

Sicher nicht als Lehrer, höchstens als eine Art Wegweiser. Damit wir uns aber nicht missverstehen: Ich behaupte nicht, dass ich alles begriffen habe. Aber das, was ich begriffen habe, funktioniert.

Sie machen einen recht bodenständigen Eindruck. Esoterik gepaart mit Wirklichkeitsnähe findet sich eher selten. Nun stehen Ihre Bücher aber in der Esoterikabteilung der Buchhandlungen. Wie wohl fühlen Sie sich dort?

Weder noch. Wenn man Esoterik wörtlich definiert, bin ich durchaus ein Esoteriker. Doch inzwischen wird auch sehr viel Unfug unter diesem Etikett zusammengefasst – und der Begriff hat seine Tiefe wie auch seinen Wert verloren.

Welche Rolle spielt für Sie das Denken?

Früher bin ich recht eindeutig gegen das Denken als Hindernis des Erkenntnisprozesses zu Feld gezogen. Glücklicherweise habe ich dazugelernt und sehe mittlerweile unser Denkvermögen mitsamt seinen Auswirkungen deutlich aufgeschlossener. Zugleich bin ich aber auch viel offener für die Möglichkeiten und Chancen des Wachstums, die sich durch das Denken ergeben.

Inwiefern stehen Sie dem Denken aufgeschlossener gegenüber?

Die östlichen Lehren verteufeln das Denken gewissermaßen – aber Sie werden im „Tao te king“ oder anderen Schriften der alten Weisen des Tao keinen einzigen Satz finden, der sich gegen unser Denkvermögen richtet. Wenn unser Denken mit Gefühl, Intuition und Instinkt kooperiert und sich nur fünf symbolische Winkelminuten von unserem Selbst entfernt und nach draußen richtet, wird es zu einem intelligenten Instrument unseres Daseins.

Ihr Bestseller „Wu wei“ trägt den Untertitel „Die Lebenskunst des Tao“. Was bringt der Taoismus für den Alltag?

Der chinesische Begriff „Wu wei“ ist schwer zu übersetzen. Nicht-Handeln kommt ihm am nächsten, im Sinne von Nicht-Zwingen. Es darf aber auf keinen Fall mit Trägheit oder Untätigkeit verwechselt werden, es ist vielmehr eine absolute Empfänglichkeit. Wenn ich es mit einem Bild beschrieben sollte, würde ich sagen: Nicht-Handeln heißt segeln, wohin der Wind weht, dem Lauf des Wassers folgen, wohin es fließt, ohne Widerstand zu leisten.

Überfordert dieses intuitive Vorgehen die Leute nicht?

Gerade nach meinem ersten Buch, dem „Wu wei“, habe ich Leserbriefe von Menschen bekommen, die diese Lebensphilosophie für sich interessant fanden. Nach wenigen Tagen stellten sie dann fest, dass ihre Umsetzungsversuche in Anstrengung ausarteten oder grundsätzlich misslangen und sie schließlich frustriert aufgaben. Das ist genau der Punkt. Wenn man alle Bemühungen, sich zu verändern, aufgibt, entsteht eine ungeheure Freiheit. Man hört auf, an sich herumzudoktern. Dann lebt man einfach, aber man nimmt wahr und ist mitten im Leben.

Dieses Leben wird aber von vielen Leuten als Stress empfunden.

Ich glaube, dass viele Menschen von einer uneingestandenen Todesangst begleitet werden. Morgen könnte ja schon alles vorbei sein. Es gilt also, alles aus dem Leben herauszuholen. Der Taoismus sagt, dass wir alle aus dem Grund hervorgegangen sind, gleichzeitig aber der Grund geblieben sind. Wenn wir sterben, gehen wir wieder in den Grund zurück. Mit der Individualität ist es dann natürlich vorbei. Aber die ist auch zeitlebens eine Illusion. Doch über das Individuelle hinaus hat unser Selbst einen unendlichen Durchmesser – und den behalten wir. Letztlich müssen wir uns alle mit unserer Vergänglichkeit aussöhnen.

Wie würden Sie das Tao definieren?

Über das Tao selbst weiß niemand etwas. Wer es zu beschreiben versucht, liegt bereits voll daneben. Tao ist nur ein Wort und steht als Synonym für den Grund der Dinge. Der Taoismus selbst hingegen ist schiere Lebensweisheit. Wenn ich versuche, es kurz zu formulieren, würde ich sagen: in diesem Sinne ist Tao eine Dimension von Ihnen und mir. Sie ist dem Denken nicht zugänglich, sie kann aber sehr wohl gelebt und an jedem von uns verwirklicht werden.

Es ist schwer zu verstehen, aber unser Bewusstsein ist identisch mit dem Tao. Lassen Sie uns einen kleinen Test machen. Hören Sie für ein paar Sekunden mit dem Denken auf. Keine Sorge, das geht, es ist wie Atemanhalten.

. . . es fühlt sich ein bisschen leer an.

Wenn man diese Leere berührt, und sei es nur für einen Augenblick, löst diese Erfahrung zunächst oft Unbehagen aus. Sie lässt sich auch nur sehr schwer beschreiben. Ich kann dieses Gefühl höchstens mit einer extrem kalten, windstillen Winternacht vergleichen. Wenn Sie eine solche Winternacht bei mindestens minus 25 Grad erlebt haben, ist das eine Stille, die förmlich zu hallen scheint. Da ist nichts.

Was geschieht, wenn ich diese Leere in mir zulasse?

Wir reden hier von der Berührung mit der eigenen Tiefe. Das Unermessliche, das in dieser Leere ist, wird sich dann seiner selbst in uns bewusst. Das ist natürlich paradox und hat mit dem Bild vom himmlischen Übervater herzlich wenig zu tun. Vielleicht tröstet Sie Folgendes: Wenn es Ihnen ein einziges Mal gelungen ist, in diesen Zustand hineinzufinden, den ich zu beschreiben versuche, können Sie ihn jederzeit wieder aufsuchen. In diesem Leerraum kann sich ein Existenzgefühl einstellen, in dem es keine Beziehung zu Ihren Sorgen und Problemen gibt.

In unserer Kultur hat Willenskraft einen hohen Wert. Dem Lauf der Dinge zu folgen klingt dagegen fremdbestimmt.

Genau. Es klingt wie fremdbestimmt, aber das Gegenteil ist der Fall. Sich-leben-lassen ist wie Auto fahren mit Chauffeur. Sie haben den Platz am Steuer aus freien Stücken abgegeben und lassen sich hinbringen, wohin Sie möchten.

Mit dieser Haltung haben Sie offensichtlich diesen idyllischen Platz hier im Piemont gefunden.

Was Sie hier sehen, ist das Ergebnis meiner Geisteshaltung sowie der meiner Frau Sabine. Ich habe dafür auf jeden Fall keine besonderen Fähigkeiten benötigt, über die nur wenige Begnadete verfügen. Ich habe mir dieses wunderschöne Grundstück auch ganz sicher nicht er-meditiert! Und um ehrlich zu sein: Es hat auch eine Weile gedauert, bis wir es gefunden haben. Eigentlich haben meine Frau und ich von einem Haus in Südfrankreich geträumt. Aber die Grundstückspreise waren für uns unerschwinglich – und so waren wir gezwungen, nach Alternativen zu suchen.

Wie definieren Sie Lebenskunst für sich?

Wie es der chinesische Philosoph Lao-Tse sagt: Es ist die Kunst, mit den Dingen zu gehen. Das bedeutet zum Beispiel, nicht bereits beim Aufstehen allem, was mich im Laufe des Tages erwartet, mit Widerstand zu begegnen. Es ist die Kunst zu begreifen, dass wir ein Kontrastprogramm im Sinne des Gegensatzpaares yin und yang benötigen. Ich kann nicht spüren, dass ich glücklich bin, wenn ich noch kein Leid erfahren habe. Lebenskunst heißt für mich, dass ich mich mit dem Auf und Ab des Lebens, also auch mit der Talfahrt, bewege. Erst durch den Kontrast entsteht das vollblütige Lebensgefühl eines wachen und lebendigen Geistes.

Den Taoisten werfen also auch noch Dinge aus der Bahn?

Sicher. Eine Garantie gibt es schließlich nicht. Aber man findet schneller auf die Straße zurück, weil ein Taoist das „Aus-der-Kurve-getragen-werden“ mit zum Lauf der Dinge zählt. Vor allem sucht er auch nicht die Schuld bei Anderen, wenn etwas misslingt. Aber er lernt aus Fehlern.

Gibt es nicht Menschen, die das Prinzip des Nicht-Handelns missverstehen?

Es gibt Menschen, die ihre Selbstbeteiligung nicht erkennen und regelrecht abstürzen. Aber „Wu wei“ ist wie eine Kasko-Versicherung.

Vollkasko?

Nein, eher Teilkasko. Die Selbstbeteiligung gehört ganz klar zum Paket.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein Problem haben?

Wenn man die Dinge zu Wort kommen lässt und aus dieser Beobachtung der Impuls zum Tun aufsteigt, man aber zu faul dazu ist, die Selbstbeteiligung also ausbleibt, wird es nur einen teilweisen Erfolg geben. Es gibt eine leise Stimme in mir, die mir genau signalisiert, wenn ich im Begriff bin, mich selbst oder etwas zu verraten. Wir überhören sie aber gerne. Mit den Dingen gehen bedeutet also auf gar keinen Fall die Dinge aussitzen, sondern produktives Tätigsein.

Wie kann ich unterscheiden, ob ich mir grundlos Sorgen mache oder nicht?

Sie müssen die Situation selbst zu Wort kommen lassen. Wichtig ist, dass Sie mit Ihrem ganzen Sein bei der Sache sind. Begegnen Sie der Sorge oder dem Problem mit jeder Faser Ihres Wesens, mit Herz, Verstand, Gefühl und allem, was in Ihnen ist. Lassen Sie Ihre Sorgen vor Ihrem inneren Auge aufblühen. Indem Sie sie betrachten und eben nicht interpretieren, wirkt Ihr Geist auf das Problem ein und verändert es. Wenn Ihnen dies für ganz kurze Zeit gelingt, dann haben Sie – ohne das jetzt verkitschen zu wollen – den Briefeinwurf für den Kummerkasten des Tao gefunden.

Geht es darum, die Situation so anzunehmen, wie sie ist?

Wenn ich das Problem nicht akzeptiere, ist es dann verschwunden? Nein. Die Kunst besteht darin, ein Problem als Tatsache anzunehmen. Die Geheimformel lautet: Es ist so. Aber vermeiden Sie es, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen.

Sondern?

Verweigern Sie die Beschäftigung damit. Gehen Sie die Sache lässig an, ohne Erfolgszwang. Sie gelingt, wenn Ihnen das Resultat völlig egal ist.

Die Lösungen sollen also auftauchen, wenn ich gar keine Frage nach der Antwort stelle?

Fragen Sie mich bitte nicht, was sich in unserem Gehirn tatsächlich abspielt. Ich müsste spekulieren. Eine Tatsache ist allerdings sicher, dass unsere Alltagsroutinen einigen Lärm erzeugen. Erst wenn unser Sinn ruhig genug ist, können die Signale aus dem Urgrund der Dinge in uns wahrgenommen werden.

Nun gibt es Situationen im Leben, in denen es schon sehr viel Selbstvertrauen braucht, um nicht die Nerven zu verlieren. Woran spüre ich eine Veränderung?

Dann öffnen sich Türen. Diese Chancen muss ich dann ergreifen, sonst schließen sich die Türen wieder.

Wie gehe ich die Problemlösung denn garantiert falsch an?

Indem ich dem Problem sage, was es bedeutet, also ihm mein von begrenzter Erfahrung bestimmtes Wissen überstülpe, statt es selbst zu Wort kommen zu lassen. Im Extremfall renne ich zu Beratern, die mir sagen, wo mich der Schuh drückt. Auf diese Art bleiben Sorgen und Nöte oft genug am Leben, statt dass sie verschwinden.

Viele Leser kommen zu Ihnen, machen hier Ferien und belegen einen Tao-Kurs. Wie würden Sie diese Art des Lernens beschreiben?

Sie sammeln kein Wissen, sondern Einsichten und Aha-Erlebnisse. Es ist ein Unterschied, ob ich sehr viel über mich, mein Leben, meine Chancen und so weiter weiß, oder ob ich beginne, mich selbst und das Bild von mir, das unter den äußeren Umständen gewachsen ist, zu verstehen. Das verlangt eine absolute Ehrlichkeit von mir selbst.

Was bedeutet das für einen Traum, den ich verwirklichen möchte?

Der Mensch des Tao fasst das Ziel ins Auge und dann sieht er sich den Weg dorthin an. Aber dort, wo die Anderen es beim Träumen belassen, fasst er Beschlüsse, trifft Entscheidungen und setzt sie durch. Mir hat zum Beispiel einmal ein Mann geschrieben, der nach Westindien segeln wollte und von mir wissen wollte, was er dafür tun muss. Nun muss man wissen, dass dieser Mann 50 Jahre alt war und sich in finanziellen Schwierigkeiten befand.

Ich habe ihm geschrieben: Sie müssen Ihren Segelschein machen, ein Boot kaufen, sich um einen Liegeplatz kümmern, Geld für Ihren Lebensunterhalt haben und so weiter. Dann haben Sie die Grundlage geschaffen, um Ihren Traum zu realisieren.

Was hat der Mann gemacht?

Er war beleidigt. Er hat wohl jemanden gesucht, der ihn in seinen Träumen bestärkt, so dass er nur noch daran glauben muss und es damit getan sei.

Es gibt jede Menge Bücher, in denen genau das propagiert wird: Du musst es dir nur wünschen – und dann wird es Wirklichkeit.

Das ist Betrug! Aber die Menschen, die solche Bücher kaufen, wollen betrogen werden. Sie möchten lieber ihre Illusionen behalten als sich dem Leben zu stellen und dabei eine Teilkasko-Versicherung in Kauf zu nehmen.

Sie werden noch in diesem Jahr 80 Jahre alt und wirken dabei sehr vital. Ist das Leben im Tao eine Art Frischzellenkur?

Sagen wir es einmal so: Meine Frau und ich haben zu einer Lebensform gefunden, in der wir uns auf uns selbst verlassen, selbständig und kreativ sind. Wir dulden niemand über uns, der Druck auf uns ausübt. Das würde ich jetzt aber nicht als Tao beschreiben. Es gehört Mut dazu, sich in eine ungesicherte Lebensform zu begeben – und das wirkt sicher der Frühvergreisung entgegen.

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An der Quelle des Tao 34

Das große Tao ist überströmend, es kann zur Rechten und zur Linken sein.

Alle Dinge verdanken ihm ihr Dasein, und es verweigert sich ihnen nicht.

Ist das Werk vollbracht, ergreift es nicht Besitz.

Es kleidet und nährt alle Dinge und spielt nicht ihren Herrn.

Da es ewig nicht begehrend ist, kann man es als klein bezeichnen.

Weil alle Dinge von ihm abhängen,ohne es als Herrn zu kennen,

kann man es als groß bezeichnen.

Also auch der Berufene: Niemals macht er sich groß.

Darum bringt er sein großes Werk zustande.

Wie oft schon erwähnt, ist das Tao schwer zu beschreiben. Jeder Versuch muss unzulänglich wirken. Es ist Laotse, der das von Anfang an begriffen hat, hoch anzurechnen, dass er dennoch zahlreiche Versuche in diese Richtung unternahm. Sein vierunddreißigster Spruch dürfte einer der Schwächsten darunter sein. Wir stehen dem Tao als etwas Gewaltigem gegenüber, das aber mit unserer Sprache nicht beschreibbar ist.  Nicht dass die Sprache an sich als Werkzeug ungenügend wäre, wir können einem Ding den Namen Groß oder Winzig geben (wie die wörtliche Übersetzung von Microsoft winzigweich!  lauten würde, was die Sache kaum trifft) – aber keine dieser Zuordnungen sagt wirklich etwas über Inhalte aus. Die Tiefe des Tao mit Worten auszuloten würde dem Versuch gleichen, im Pazifik den Marianengraben mit Schnur und Senkblei zu vermessen. Dennoch enthält der Spruch zwischen den Signalen der Ohnmacht einige Zeilen, auf die es sich im Zusammenhang mit der Lebenskunst des Tao durchaus einzugehen lohnt. Doch zuerst wollen wir lesen, wie Chuang tzu Stellung zu dem Spruch nimmt: Weiterlesen

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Weihnachten 2024

Allen Taoleserinnen und-lesern wünsche ich besinnliche Weihnachtsfeiertage und ein friedliches Neues Jahr 2025.

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An der Quelle des Tao 14

Man schaut nach ihm und sieht es nicht: Sein Name ist Keim.

Man horcht nach ihm und hört es nicht: Sein Name ist fein.

Man fasst nach ihm und fühlt es nicht: Sein Name ist Klein.

Diese drei kann man nicht trennen, darum bilden sie vermischt Eines.

Sein Oberes ist nicht licht, sein Unteres ist nicht dunkel.

Ununterbrochen quellend, kann man es nicht nennen.

Er kehrt wieder zurück zum Nichtwesen.

Das heißt die gestaltlose Gestalt, das dinglose Bild. Das heißt das dunkel Chaotische.

Ihm entgegengehend sieht man nicht sein Antlitz, ihm folgend sieht man nicht seine Rückseite.

Wenn man das Tao des Altertums festhält, um das Sein von heute zu beherrschen, dann kann man den alten Anfang wissen.

Das heißt des Tao durchgehender Faden.

Das Tao ist eigentlich gegenüber den zahlreichen Religionen im Nachteil: Überall, wo in der Welt ein Volk etwas glaubt, wird dieser Glaube durch die Geschichte von Gottheiten untermauert, die einen personalen Charakter haben. Zum Beispiel Buddha: Da handelt es sich um einen Mann, der eine Mutation erlebte, die ihn zu den Göttern aufsteigen ließ. Auch die hinduistischen Gottheiten Kali und Shiva sind bildhaft darstellbar und es sind, einschließlich eines wohlwollenden, beleibten Buddhas, Abermillionen Skulpturen im Umlauf. Selbst der Gott Israels wird von den Propheten beschrieben als „Einer, der wie ein Mensch aussah“ und auf einem Thron sitzt. Die Statthalter und Priester der Gottheiten bis hin zu den Schamanen der Eskimos waren zu allen Zeiten für Auskünfte verfügbar und zeichneten dem Volk Bilder ihrer Götter. Die Palette reicht von der überwältigenden Lichterscheinung bis zur gefiederten Schlange der Azteken. Allein dem Tao fehlt dies alles. Im 14. Spruch versucht Laotse die Ungreifbarkeit des Tao zu deuten. Seine Formulierungen sind mystischer als die meisten anderen im Tao te king. Es würde keinen Sinn machen, wenn ich auf jede Zeile einginge, denn der Spruch ist im Grunde nur im Erfassen seines Ganzen aussagekräftig und verständlich. Laotse erklärt mit der Hilfe von Verneinungen, was er bereits in seinen ersten Sprüchen ausdrückte, dass das Tao nicht beschrieben werden kann und jede Aussage darüber von vornherein falsch sein muss. In seinem Spruch schimmert etwas wie Verzweiflung durch, dass das Tao so unfassbar ist, dass es sich allen unseren Fragen und Enthüllungsversuchen entzieht, in ähnlicher Art, wie manche der elementarsten Probleme des Lebens sich dem Biologen entziehen. Sobald wir meinen, wir seien im Begriff, sein Geheimnis zu enthüllen, stehen wir vor einer glatten Mauer. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 33

Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selber kennt, ist weise.

Wer andere besiegt, hat Kraft.Wer sich selber besiegt, ist stark.

 Wer sich durchsetzt, hat Willen. Wer sich genügen lässt, ist reich.

Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer.Wer auch im Tode nicht untergeht, der lebt.

Laotse führt uns in seinem 33. Spruch die Kluft vor Augen, die die Einsichten in das Wesen anderer Menschen von der Selbsterkenntnis trennt. Die Gegensatzpaare, die er einander gegenüber stellt, entlarven unsere von der Gesellschaft favorisierten Eigenschaften als den schwächeren Teil von uns. Andere zu kennen, mag Vorteile haben, im Geschäftsbereich ist ein Minimum an Einblick in die oft raffinierten Schachzüge der Verhandlungspartner unerlässlich und der Psychologe könnte seinen Beruf ohne die Klugheit einer tiefen Menschenkenntnis nicht ausüben. Aber die Weisheit taoistischer Lebensart kommt im Erkennen unserer selbst zur Auswirkung. Andere zu beurteilen ist nicht schwer, dazu braucht man weder Charakter noch Intelligenz. Die Schwierigkeiten beginnen dort, wo es um die eigene Haut geht. Wer verträgt schon Kritik, die von anderen kommt? – Selbst unsere Liebsten machen sich unbeliebt, wenn sie etwas an uns auszusetzen haben. Wir tragen, seit wir denken können, ein Bild von uns im Herzen. Es ist jenes Bild, das so empfindlich auf Missachtung und Kränkungen reagiert. Und dieses Bild sollen wir laut Laotse auf seinen Wahrheitsgehalt hin durchleuchten? Selbstkritik üben an einer Wesenheit, von der wir eine so hohe Meinung haben? Genau das will der Spruch bewirken. Dass wir uns dem eigenen Charakter stellen, wie er tatsächlich gewachsen ist und die falschen Bilder über uns mit einem kraftvollen Schlag zerstören. Schauen wir uns ins ungeschminkte Gesicht – und leben wir damit! Analog verhält es sich mit unserem Siegeswillen. Ihn nach draußen zu richten ist die gewohnte Art der Lebensentfaltung nach Darwins Gesetzen. Was uns dagegen das Energiepotenzial des Grundes erschließt, ist der umgekehrte Prozess: wir müssen den Kampf mit uns selber siegreich beenden. Nicht durch einen Gewaltakt. Auch nicht durch permanenten Dauerstress im Bemühen, etwas zu werden, das wir nicht sind. Der Sieg drückt sich im Aufhören aus. Wir überwinden uns dazu, nichts mehr zu unternehmen, um jemand anderer zu sein oder darzustellen. Das alte, geschönte oder sogar gefälschte Bild von uns zerstört sich selbst, sobald wir nicht mehr im Zustand des Werdens sind und kein Bedürfnis mehr haben, uns anders darzustellen, als wir wirklich sind. Damit endet alle Anstrengung. Wer zu diesem Geisteszustand findet, gerät nicht auf die Verliererstraße. Sein Durchsetzungsvermögen leidet nicht darunter, aber er bedient sich anderer Mittel, seine Ziele zu erreichen. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 24

Wer auf den Zehen steht, steht nicht fest.

Wer mit gespreizten Beinen geht, kommt nicht voran.

Wer selber scheinen will, wird nicht erleuchtet.

Wer selber etwas sein will, wird nicht herrlich.

Wer sich selber rühmt, vollbringt keine Werke.

Wer sich selber hervortut, wird nicht erhoben.

Er ist für das Tao wie Küchenabfall. Und auch die Geschöpfe hassen ihn alle.

Darum: wer das Tao hat, weilt nicht dabei.

Der 24. Spruch braucht eigentlich keine Interpretation, er spricht für sich, ohne dass weitere Erklärungen notwendig wären. Chuang tzu nennt ihn „Ratschlag gegen das Prahlen“ und liest sich ein wenig komplizierter: Wer versucht, sich hervorzutun, ist bloß ein Krämer. Die Leute sehen ihn gespreizt einherschreiten und nennen ihn einen Führer des Gemeinwesens. Unter den fünf Lastern ist das Laster des Geistes das schlimmste. Was ist das Laster des Geistes? Das Laster des Geistes heißt Selbstgefälligkeit. Derjenige, der nicht sich, sondern andere sieht, oder nicht von sich selbst, sondern von anderen Besitz ergreift, indem er nur das besitzt, was andere besitzen, und sein eigenes Selbst nicht besitzt, tut bloß was den anderen gefällt, statt seiner eigenen Natur zu gefallen. Nun ist aber einer, der anderen gefällt, statt seiner eigenen Natur zu gefallen nichts als ein Mensch, der in die Irre gegangen ist. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 20

Zwischen Gewiss und Jawohl: was ist da für ein Unterschied?

Zwischen Gut und Böse: was ist da für ein Unterschied?

Was die Menschen ehren, muss man ehren. O Einsamkeit, wie lange dauerst du?

Alle Menschen sind so strahlend, als ginge es zum großen Opfer,

als stiegen sie im Frühling auf die Türme.

Nur ich bin so zögernd, mir ward noch kein Zeichen,wie ein Säugling, der noch nicht lachen kann, unruhig,  umgetrieben, als hätte ich keine Heimat.

Alle Menschen haben Überfluss, nur ich bin wie vergessen.

Ich habe das Herz eines Toren, so wirr und dunkel.

Die Weltmenschen sind hell, ach so hell, nur ich bin wie trübe.

Die Weltmenschen sind klug, ach so klug, nur ich bin wie verschlossen in mir,

unruhig, ach, als wie das Meer, wirbelnd, ach, ohne Unterlass.

Alle Menschen haben ihre Zwecke, nur ich bin müßig wie ein Bettler.

Ich allein bin anders als die Menschen.

Doch ich halte es wert, Nahrung zu suchen bei der Mutter.

Laotses zwanzigster Spruch klingt wie Jeremias Klagelieder. Er zieht eine Trennlinie zwischen den erfolgreichen, überlegenen Weltmenschen und sich, dem Versager und Außenseiter, der so ganz anders ist als alle anderen. Müssen wir annehmen, dass wir Laotse hier an einem schlechten Tag ertappen, wo ihm alles über den Kopf wächst? Wo er sich voller Selbstmitleid über die Erfolgreichen, über die Trendsetter beklagt, die ihn einsam am Wegesrand in seinem Elend stehen lassen? Ganz und gar nicht. In diesem Text kommt sein hintergründiger Humor zum Ausdruck. Er schreibt eine Persiflage über die Menschen, die im Gegensatz zu ihm dem Zeitgeist huldigen. Erst ganz am Schluss der Litanei verrät er die Pointe: Von der Mutter, die ihn nährt, dem Tao. Den feinen Sinn dieses letzten Satzes stellt Chuang tzu in seinem Kommentar ganz vorne an und beweist damit, wie gut er den alten Meister kennt. Er hat die schalkhafte Verzerrung von Laotses eigenem Zustand auf der Stelle durchschaut und beginnt darum seine Stellungnahme zum 20. Spruch mit der Parabel vom Wesenhaften: Der Wesenhafte lebt zu Hause, ohne seinen Geist zu üben, und vollbringt Taten, ohne sich darum zu sorgen. Die Begriffe von Gut und Böse, Lob und Tadel anderer fechten ihn nicht an. Wenn sich innerhalb der vier Meere alle Menschen freuen können, empfindet er es als Glück; wenn alle Menschen wohl versorgt sind, fühlt er es als Friede. Bekümmerten Ausdrucks sieht er aus wie ein Kleinkind, das die Mutter verloren hat; töricht scheinend, geht er umher wie einer, der den Weg verloren hat. Er hat viel Geld zum Ausgeben und weiß nicht, woher es stammt. Er isst und trinkt gerade genug und weiß nicht, wo sein Essen herkommt. Solcherart ist das Benehmen eines wesenhaften Menschen. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 12

 

Die fünferlei Farben machen des Menschen Auge blind.                                                           Die fünferlei Töne machen des Menschen Ohren taub.                                                              Die fünferlei Würzen machen der Menschen Gaumen schal.                                           Rennen und Jagen machen der Menschen Herzen toll.                                                       Seltene Güter machen der Menschen Wandel wirr.                                                              Darum wirkt der Berufene für den Leib und nicht fürs Auge.                                                    Er entfernt das andere und nimmt dieses.

Für einen Leser, der Laotse nicht kennt, wirkt der 12. Spruch wie die Nörgelei eines verbitterten, das Leben und seine Genüsse verneinenden Greises. Auf den ersten Blick irritiert der Text auch Freunde des Tao te king. Was, um Himmels willen predigt der taoistische Weise da? Ist der Spruch Originalton Laotse oder hat ihm den jemand aus einer späteren Generation untergeschoben? Chuang tzu stößt zum Thema Sinneserleben quasi ins gleiche Horn: Die fünf Sinne lenken uns von unserem eigentlichen Wesen ab. Es gibt fünf Wege, wie wir unser ursprüngliches Wesen einbüßen. Und dann zählt er wie Laotse auf, was unsere Sinne so alles an unserem Wesen anrichten, wenn sie falsch eingesetzt werden. Eine solche Einstellung passt doch besser zu einem mittelalterlichen Bußprediger. Martin Luther hätte gegen die sündigen Einflüsse wettern könne, welche über unsere Sinne die Seele verunreinigen. Was soll das also? Unser Sinneserleben hat wesentlichen Anteil an der Erfüllung unseres Daseins. Wenn wir uns nicht die Ohren verstopfen, die Augen zubinden, Fausthandschuhe tragen, die Nase zustöpseln und den Gaumen mit Cayenne-Pfeffer außer Betrieb setzen, haben wir doch gar keine andere Wahl, als die äußeren Eindrücke über unsere Sinne auf uns einwirken zu lassen. Was hinterher, nachdem die Eindrücke uns erreicht haben, unser Gehirn damit anstellt, ist allerdings eine andere Sache. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 11

(ich hätte schwören können, dass ich diesen Beitrag schon mal gebracht hab. Da ich ihn aber nirgends gefunden habe, kommt er eben jetzt)

Dreißig Speichen umgeben eine Nabe: In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.

Man höhlt Ton und bildet ihn zu Töpfen: In ihrem Nichts besteht der Töpfe Werk.

Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer werde: In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk.

Darum: Was ist, dient zum Besitz. Was nicht ist, dient zum Werk.

Der elfte Spruch aus dem Tao te king dürfte neben dem ersten einer der meistzitierten sein. In seiner Klarheit verleitete er über die Zeiten hinweg manchen von der schreibenden Zunft, ihn als klassisches Beispiel für die Grundstruktur des taoistischen Denkens zu verwenden. Diesem Anspruch wird der Spruch auch gerecht. Weniger gerecht wird ihm oft seine Verwendung: man setzt ihn überall dort ein, wo hübsch formulierte, poetische Sprüche hinpassen. Das ist, als ob man einen fein ziselierten Kelch von Benvenuto Cellini als Bonbonschale verwendete. Laotses Gleichnis richtet den Blick auf die Kunst des Wagenmachers, den Chuang tzu für seine Fähigkeit preist, ohne Zirkel und Winkelmaß Linien und Kreise zu schaffen. Ein Bündel Speichen genügt, um ein Rad beweglich und zugleich leicht zu machen. Als Gegenstück schweben dem geistigen Auge Räder vor, die aus mehreren Schichten massiver Bretter zusammengenagelt und ausgesägt worden sind. Von Bauern ohne die Fachkenntnis des Wagners plump, schwer und von den Ochsen kaum zu bewegen hergestellt. Doch der Bezug auf die spontane Kunstfertigkeit taoistischer Handwerker berührt nur die Oberfläche. Auch die Binsenweisheit, dass ein Krug einzig dadurch etwas nützt, weil er hohl ist und man folglich hübsche Getränke einfüllen kann, trifft den Kern des Spruches nicht. Weiterlesen

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An der Quelle des Tao 15

 

Die vor alters tüchtig waren als Meister, waren im Verborgenen eins mit den unsichtbaren Kräften.                                                                                                                                                     Tief waren sie, so dass man sie nicht kennen kann.                                                                          Weil man sie nicht kennen kann, darum kann man nur mit Mühe ihr Äußeres beschreiben.                                                                                                                                     Zögernd, wie wer im Winter einen Fluss durchschreitet,                                                  vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet,                                              zurückhaltend wie Gäste,                                                                                                            vergehend wie Eis, das am Schmelzen ist,                                                                                  einfach, wie unbearbeiteter Stoff.                                                                                                        Weit waren sie, wie das Tal,                                                                                              undurchsichtig waren sie, wie das Trübe.                                                                                         Wer kann (wie sie) das Trübe durch Stille allmählich klären?                                                      Wer kann (wie sie) die Ruhe durch Dauer allmählich erzeugen?                                                  Wer das Tao bewahrt, begehrt nicht Fülle.                                                                                      Denn nur weil er keine Fülle hat, kann er gering sein, das Neue meiden und Vollendung erreichen.

 

Bei allem Respekt vor der Weisheit der alten Taoisten darf man nicht vergessen, in welchem Kalenderjahr die Texte geschrieben worden sind – und auch nicht die sozialen Verhältnisse jener Periode ignorieren. Hinzu kommt, dass der Taoismus zwar zum Wohl der Masse gelehrt wurde, aber man im alten China den Lehren des Konfuzius den Vorzug gab, weil der seine Verhaltensregeln so lautstark hinausposaunte. Wenn ich nur an seine Epistel über die Güte denke. Da bringt Konfuzius es fertig, eine präzise Gradeinteilung der aufzuwendenden Zuneigung aufzustellen, in der er die höchste Güte den Eltern zugesteht, den nächsten Grad den Lebenspartnern, den übernächsten den Kindern, dann den Freunden und so fort, bis am Schluss der Hofhund mit einem winzigen vorgeschriebenen Rest an der Reihe ist. Aber so mögen es die Leute: Je deutlicher die Vorschriften sind, desto eher werden sie akzeptiert, selbst um den Preis, dass da manches Unbequeme verlangt wird. Der obige Spruch fand auch bei Laotses Kommentatoren wenig Gegenliebe. Konfuzius hat sich an einer einzigen Zeile versucht: Im fließenden Wasser kann man sein eigenes Bild nicht sehen, wohl aber im ruhenden. Chuang tzu trägt auch nicht gerade mit Geistesblitzen zum Inhalt des Spruches bei: Wenn der Geist ständig überarbeitet wird, wird er sorgenvoll und Sorgen verursachen Erschöpfung…Das meint, dem Geist nicht erlauben, einen vom Tao wegzuführen und das Natürliche nicht durch menschliche Mittel zu ersetzen. Einzig die Andeutung von Natürlichkeit, mit der er den Charakter eines Meisters zusammenfasst, lässt überhaupt einen Bezug zu dem erkennen, was Laotse auszudrücken scheint. Weiterlesen

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