Wenn große Vollendung wie unzulänglich erscheint, wird sie unendlich in ihrer Wirkung.
Darum muss große Geradheit wie krumm, große Begabung wie dumm,
und große Beredsamkeit wie stumm erscheinen.
Bewegung überwindet Kälte und Stillhalten überwindet die Hitze.
Ruhe und Stille sind das Richtmaß der Welt.
In seinem 45. Spruch stellt Laotse wie in zahlreichen anderen Texten die Beziehung zwischen dem Tao und dem Verhalten von Menschen her, die sich an seinen Prinzipien orientieren. Es geht ihm um den gewaltigen Unterschied zwischen Schein und Sein. Er wagt sich hier beim Schildern der Wirkungsweise des Tao an die schwierige Aufgabe, etwas zu formulieren, was sich mit der menschlichen Sprache kaum verständlich ausdrücken lässt. Laotses Beredsamkeit muss auf einen Leser, dem das Verständnis für die Tiefen taoistischer Weisheit fehlt, wie sinnloses Plappern wirken. Wenn Sie bei dem Text am reinen Wortlaut Maß nehmen, ist kein Sinn darin erkennbar. In der wissenschaftlichen Theorie wird der Begriff Vollendung mit Perfektion, als die vollkommene Lösung und damit als Endzustand definiert. Aus der Sicht Laotses überschreitet Vollendung den Zenit eines Zustandes und verdichtet sich zu einer von Wissen und Verstand nicht mehr messbaren Qualität. Einer Qualität, die sich in einem unendlichen Zyklus in ihr Gegenteil und wieder zurück verwandelt und genau dadurch jene Magie gewinnt, die sich im Menschen auswirkt, der Sein vor den Schein setzt. Chuang tzu, das Dilemma unverständlicher Formulierungen grundsätzlich ignorierend, drückt es dennoch wunderbar treffend aus: Entzweiung ist dasselbe wie Schöpfung, Schöpfung dasselbe wie Zerstörung. Denn beide werden wiederum durch das Tao auf eins zurückgeführt. Die größte Geschicklichkeit erscheint wie Plumpheit, die größte Beredsamkeit erscheint wie Stammeln. Wer streitet, tut das deshalb, weil er seiner Sache nicht sicher ist. Ein vollkommener Standpunkt braucht keine Worte. Weiterlesen