An der Quelle des Tao 48

Ruhe und Stille sind das Richtmaß der Welt. Wer das Lernen übt, vermehr täglich.

Wer dem Tao nachgeht, vermindert täglich. Er vermindert und vermindert,

bis er schließlich beim Nichthandeln ankommt. Beim Nichthandeln bleibt nichts ungetan.

Lernen ist allgemein betrachtet die Vermehrung von Wissen. Wir befassen uns mit einem Lehrstoff und prägen uns seine Inhalte ein. Auf diese Art lernen wir Lesen, Schreiben und Rechnen. Die diversen Lehranstalten vermitteln uns Allgemeinbildung und nicht zuletzt die Kenntnisse für den gewählten Beruf. Je mehr Informationen ein Mensch seinem Gehirn einverleiben kann, desto größer ist der Zuwachs an Wissen. Die Schwachstelle allen Lernens ist der Umstand, dass wir niemals imstande sind, uns ein vollständiges Wissen anzueignen. Die Welt ist im Fluss, und täglich verändern sich Dinge und Zustände. Ich war zum Beispiel früher ein Aquarienfan. Neulich bekam ich eine italienische Aquarienzeitschrift in die Hände und musste irritiert feststellen, dass kaum einer der mir von damals vertrauten wissenschaftlichen Namen der Zierfische heute noch gilt. Man hatte die Arten regelrecht umgetauft. Selbst ein Forscher, der sein Leben einem einzigen Thema widmet, wird es nicht schaffen, einen Wissensstand von 100 Prozent zu erreichen. Laotses erster Satz in seinem 48. Spruch „Wer das Lernen übt, vermehrt täglich“ ist eigentlich als Warnung gedacht. Die leise Häme des Textes kritisiert nicht den Erwerb von Fachwissen oder Allgemeinbildung. Der Alte redet von einem Lernen der anderen Art: der Vermehrung des Psychologischen Wissens, wie Krishnamurti die menschliche Sehnsucht nach Auskünften über die metaphysischen Aspekte seiner Psyche nennt. Wer sich mit der Fülle der vorhandenen Lehren bis zurück ins Altertum befassen und daraus lernen will, gerät in eine Endlosschleife, aus der nur schwer wieder heraus zu finden ist. Laotse sagt kurz und bündig: Im Lernen zu Themen wie dem eigenen Selbst, dem Schöpfer, dem Lebenszweck und dem Woher und Wohin des Daseins wird jemand kontinuierlich sein Wissen vermehren, aber nie zu einem Ende kommen. Das religiöse Lernen beginnt in der Kindheit. Im Elternhaus finden die frühen Prägungen statt und später lernt der heranwachsende Mensch dazu, indem er sich mit den unfreiwillig empfangenen Grundinformationen auseinandersetzt. Ich kenne Leute, die sich nach einer moderaten religiösen Erziehung mit wahrer Leidenschaft einer Glaubensgemeinschaft anschlossen und im Extremfall jedes Jahr einmal die ganze Bibel lasen. Andere wurden Agnostiker und blieben es ein Leben lang.

„Wer dem Tao nachgeht, vermindert täglich“, bietet Laotse als Alternative zur Jagd nach psychologischem Wissen an. Mit der Mailpost erreichen mich  regelmäßig Leserbriefe, die sich mit der Problematik einer Umstellung auf die Lebensweise des Tao beschäftigen und in denen oft Listen mit Fragen stehen, was man denn aus taoistischer Sicht und als Anfänger in diesen Dingen in speziellen Fällen tun oder unterlassen könne. Ich gehe dann meist ausführlich auf die einzelnen Punkte ein, vermerke aber abschließend, dass man eigentlich nichts tun müsse. Weil das innere Wesen, das so dringend Rat sucht, selber das Problem ist, das es gerne beseitigen möchte. Wer das erkennt, findet sich in einer absurden Situation wieder, die mit den bekannten Mitteln nicht lösbar ist. Da gibt es nur eines: Aufgeben. Einfach aufhören mit Grübeln, wie man auf den WEG gelangt. Im Aufhören der Bemühungen, etwas zu werden, was man nicht oder noch nicht ist, drückt sich genau das aus, was Laotse vermindern nennt. An jedem Tag, wo Sie nichts zu werden versuchen, vermindern Sie. Vermindern bedeutet das Abwerfen aller Prägungen, gleich, ob es sich um Ihr allgemeines Weltbild handelt, Ihr Selbstverständnis oder Ihre religiösen Überzeugungen. Im Grunde gehört der ganze Lehrstoff, die Summe all der lebenslangen Prozesse der Vermehrung aus dem Spiel genommen. Wir vermindern und vermindern, indem wir unseren vertrauten, ein Leben lang gewachsenen geistigen Standort aufgeben. Und zwar ersatzlos. Es gibt hier keinen Tauschhandel: die Prägungen aus den alten Lernprozessen gegen die Lehren des Taoismus. Sie bekommen nichts dafür, wenn Sie Ihr psychologisches Wissen verneinen und in Zukunft als nutzlos ablehnen. Ich will es noch einmal definieren: Es ist das Wissen, das Sie sich über sich selber und Ihre Position im Leben und im Universum gebildet haben. Die Zukunft findet Sie dann in einem Zustand, in dem Sie keine Meinung mehr über sich haben. Sie werten auch nicht mehr die Erfahrungen, die Erlebnisse aus, welche Ihr Selbstbildnis bislang bestätigt – oder in Fällen grober Kränkungen verleugnet haben.

Was bleibt dann noch von Ihnen übrig? Nun, Ihre Wesenheit ist noch immer vollständig. Was abfällt, sind die vergangenen Einflüsse und Erfahrungen, die bisher Ihre Entscheidungen und ergo Ihr Handeln beeinflusst haben. Wo Sie bisher angesichts einer Aufgabe, die es zu lösen galt, Ihre Erfahrung einsetzten, und vom Ergebnis wieder etwas dazugelernt haben, werden Sie in Zukunft der Aufgabe ohne das geringste Gefühl begegnen, dass es IHRE Aufgabe ist, die gelöst werden soll. Wenn Sie einer Herausforderung ohne das Bild von sich begegnen, ohne dieses ausgeprägte, modellierte Ich-Gefühl, dann gibt es nur die Aufgabe oder meinetwegen das Problem, das Problemchen an sich. Es teilt sich Ihrem Geist mit, den nichts mehr vom intelligenten Fluss des kontinuierlichen Schöpfungsprozesses trennt. Die zu erledigende Aufgabe und Sie sind ein und dasselbe. Und das Zusammenwirken der Dinge ist in diesem Ganzen mit eingeschlossen. Das Subjekt, das ein Problem lösen will und das Problem selbst, das Objekt sind zu einem verschmolzen, weil sich das Bildnis des Handelnden jedes Mal vermindert hat, wenn Handlungsbedarf bestand, bis schließlich nichts mehr vom alten, unfreien Wesen vorhanden war. Sehen Sie, Sie brauchen gar nichts zu tun, nichts zu lernen, Sie brauchen nur aufzugeben. Dieses aus Lernen gewonnene Bild Ihres Selbstverständnisses ist das Hindernis, das weg muss. Und das verschwindet in dem Maß, wie Sie ihm nicht mehr gestatten, sich in Alles und Jedes einzumischen. Lassen Sie die in Ihnen vorhandene natürliche Leere zu, wenn Sie etwas tun müssen.

„Bis er schließlich beim Nichthandeln ankommt.“ Wenn Sie allen Resultaten früherer Lernprozesse auf psychischer Ebene ade gesagt haben, wenn Sie mit absoluter Klarheit realisiert haben, dass damit auch das Reservoir Ihrer gesammelten Lebenserfahrungen fragwürdig geworden und – zumindest zum kreativen Gebrauch – nur noch bedingt geeignet ist, wenn Sie dies erkannt haben, dann ist Nichthandeln Realität geworden. Chuang tzus Kommentar zu diesem Spruch ist kurz aber er drückt bildhaft die Schwäche des Vermehrens und die Kraft des Verminderns aus, das zum Nichthandeln wird: „Wenn ein Heizer ein Feuer unterhält, indem er mit der Hand ein Scheit aufs andere legt, gibt es eine Grenze. Aber wenn ein Brand sich von selbst ausbreitet, ist der Vorgang ein dauernder.“

 

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Eine Antwort zu An der Quelle des Tao 48

  1. Uwe Anger sagt:

    Liebe Sabine,

    Vielen lieben Dank, dass DU die Weisheit des TAO weiter zum Flächenbrand werden lässt.
    Ich freue mich immer wieder, dass ich im Strom des LEBENS des TAO Euch begegnet bin.

    Danke für DEINE Lebendigkeit

    Uwe Anger

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