An der Quelle des Tao 11

(ich hätte schwören können, dass ich diesen Beitrag schon mal gebracht hab. Da ich ihn aber nirgends gefunden habe, kommt er eben jetzt)

Dreißig Speichen umgeben eine Nabe: In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.

Man höhlt Ton und bildet ihn zu Töpfen: In ihrem Nichts besteht der Töpfe Werk.

Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer werde: In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk.

Darum: Was ist, dient zum Besitz. Was nicht ist, dient zum Werk.

Der elfte Spruch aus dem Tao te king dürfte neben dem ersten einer der meistzitierten sein. In seiner Klarheit verleitete er über die Zeiten hinweg manchen von der schreibenden Zunft, ihn als klassisches Beispiel für die Grundstruktur des taoistischen Denkens zu verwenden. Diesem Anspruch wird der Spruch auch gerecht. Weniger gerecht wird ihm oft seine Verwendung: man setzt ihn überall dort ein, wo hübsch formulierte, poetische Sprüche hinpassen. Das ist, als ob man einen fein ziselierten Kelch von Benvenuto Cellini als Bonbonschale verwendete. Laotses Gleichnis richtet den Blick auf die Kunst des Wagenmachers, den Chuang tzu für seine Fähigkeit preist, ohne Zirkel und Winkelmaß Linien und Kreise zu schaffen. Ein Bündel Speichen genügt, um ein Rad beweglich und zugleich leicht zu machen. Als Gegenstück schweben dem geistigen Auge Räder vor, die aus mehreren Schichten massiver Bretter zusammengenagelt und ausgesägt worden sind. Von Bauern ohne die Fachkenntnis des Wagners plump, schwer und von den Ochsen kaum zu bewegen hergestellt. Doch der Bezug auf die spontane Kunstfertigkeit taoistischer Handwerker berührt nur die Oberfläche. Auch die Binsenweisheit, dass ein Krug einzig dadurch etwas nützt, weil er hohl ist und man folglich hübsche Getränke einfüllen kann, trifft den Kern des Spruches nicht.

Obgleich das Wort TAO kein einziges Mal erscheint, zeichnet Laotse hier das Wesen des Grundes nach. Richtiger: Laotse beschreibt mit Hilfe des Kontrastes zwischen Material und leerem Raum ein Phänomen, welches das Tao charakterisiert und es zugleich grundsätzlich von allen anderen Gottesbildern der Welt abhebt. Das Tao hat nämlich keine Eigenschaften. – Eigenschaften sind Konstrukte des Menschengeistes, und er mag sie auf sich und die Erscheinungen seines Lebens beziehen, aber bitte nicht auf den Grund, von dem er keine Ahnung hat, wie er beschaffen ist. Richard Wilhelm hat speziell dem Inhalt dieses Verses im Kommentar zu seiner Übersetzung des Tao te king eine Erklärung gewidmet: Dieses nichtseiende Tao ist die Triebkraft alles dessen, was in der Erscheinungswelt sich bewegt. Die Funktion, die Wirkung alles Seienden beruht auf dem Nichtsein. Durch die leeren Räume wird sozusagen die Wirklichkeit aufgelockert und damit brauchbar, wie die Radnabe dadurch, dass sie nichts, d.h. leer ist, die Wagenräder drehbar macht, oder die Gefäße, die Zimmer eben durch das Nichts, das an ihnen ist, durch den hohlen Raum brauchbar werden. So wirkt das Tao in der Welt der Erscheinungen eben durch das Nichthandeln.

Im Sinne unseres mathematisch-logischen Verständnisses hat es das Tao nie gegeben, wird das Tao niemals sein – und dennoch ist es in einer uns unzugänglichen Dimension immer vorhanden. Aus dem Nichts wurde die Eins, folgert Laotse. Diese Eins sind Sie, bin ich. Aus ihr gehen wir selber hervor, noch immer zum größten Teil nichts, noch immer trotz sechzig Kilo Körpergewicht weniger als eine Messerspitze Materie, wenn man die Leere zwischen den tanzenden Teilchen entfernt. Und aus unserer Wahrnehmung, dem Stoff, durch den das große Nichts sich selber gewahrt, entstehen die Erscheinungen unseres alltäglichen Erlebens. Betrachten Sie doch einmal Ihre Umwelt mit anderen Augen. Achten Sie nicht auf die Gegenstände, die Bäume, die Häuser, die Autos, die Kirchen. Schauen Sie die Zwischenräume, die Leere, ohne die unsere Welt nichts weiter als der Granitblock wäre, in dem die Mutter ihr Kind auf den Schoß hütet und darauf wartet, dass ein Bildhauer die Leere schafft, durch die sie erst zur sichtbaren Realität wird. Ohne die Leere zwischen den Bäumen wäre der Wald nicht begehbar. Wir bewegen uns auf dem Erdboden, indem wir darauf treten. Aber wir können nur mit Hilfe des Raumes zwischen den Schritten, also des Bodens, auf den wir nicht treten, größere Entfernungen zurücklegen.

Chuang tzu hat den elften Spruch in seinen Schriften ausführlich gewürdigt. Ich möchte ihm mit dem Ausschnitt eines erfundenen Gespräches das letzte Wort lassen.

„Ihr sprecht immer vom Nutzen der Nutzlosigkeit“, sagte Huitse zu Chuang tzu.

Chuang tzu sagte: „Man muss den Nutzen der Nutzlosigkeit begriffen haben, bevor man vom Nutzen der Nützlichkeit sprechen kann. Die Erde ist zwar groß und weit, aber was der Mensch benutzen kann, ist bloß die Fläche, auf der seine Füße ruhen. Sich seiner Füße nicht bewusst sein, zeigt, dass die Schuhe passen. Sich seiner Taille nicht bewusst sein, heißt, dass der Gürtel passt. Sich des Rechtes und Unrechtes nicht bewusst sein, ist das Kennzeichen eines Geistes, der sich wohl befindet. Er verändert sich innerlich nicht, wird durch äußere Ereignisse nicht berührt und fühlt sich unter allen Umständen und in allen Lagen wohl. Wenn er sich einmal wohl fühlt, fühlt er sich nie mehr unwohl. Das heißt, sich wohl fühlen, ohne sich bewusst zu sein, dass man sich wohl fühlt.“

 

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