Die fünferlei Farben machen des Menschen Auge blind. Die fünferlei Töne machen des Menschen Ohren taub. Die fünferlei Würzen machen der Menschen Gaumen schal. Rennen und Jagen machen der Menschen Herzen toll. Seltene Güter machen der Menschen Wandel wirr. Darum wirkt der Berufene für den Leib und nicht fürs Auge. Er entfernt das andere und nimmt dieses.
Für einen Leser, der Laotse nicht kennt, wirkt der 12. Spruch wie die Nörgelei eines verbitterten, das Leben und seine Genüsse verneinenden Greises. Auf den ersten Blick irritiert der Text auch Freunde des Tao te king. Was, um Himmels willen predigt der taoistische Weise da? Ist der Spruch Originalton Laotse oder hat ihm den jemand aus einer späteren Generation untergeschoben? Chuang tzu stößt zum Thema Sinneserleben quasi ins gleiche Horn: Die fünf Sinne lenken uns von unserem eigentlichen Wesen ab. Es gibt fünf Wege, wie wir unser ursprüngliches Wesen einbüßen. Und dann zählt er wie Laotse auf, was unsere Sinne so alles an unserem Wesen anrichten, wenn sie falsch eingesetzt werden. Eine solche Einstellung passt doch besser zu einem mittelalterlichen Bußprediger. Martin Luther hätte gegen die sündigen Einflüsse wettern könne, welche über unsere Sinne die Seele verunreinigen. Was soll das also? Unser Sinneserleben hat wesentlichen Anteil an der Erfüllung unseres Daseins. Wenn wir uns nicht die Ohren verstopfen, die Augen zubinden, Fausthandschuhe tragen, die Nase zustöpseln und den Gaumen mit Cayenne-Pfeffer außer Betrieb setzen, haben wir doch gar keine andere Wahl, als die äußeren Eindrücke über unsere Sinne auf uns einwirken zu lassen. Was hinterher, nachdem die Eindrücke uns erreicht haben, unser Gehirn damit anstellt, ist allerdings eine andere Sache.
Und von hier an wird die Kritik an Laotse unversehens ein wenig nachdenklich. Was stellen wir mit unserem Sinneserleben an? Wie gehen wir mit den einzelnen Eindrücken um? Wir erleben unsere Außenwelt über die fünf Sinne, soviel steht fest. Ich behaupte nicht zu viel, wenn ich hier vermerke, dass von den in jeder Sekunde unseres Lebens verfügbaren Gerüchen, Geschmäcken, Tönen, Bildern und Oberflächen überhaupt nur Bruchteile unser Bewusstsein erreichen. Und jene, die uns erreichen, verarbeitet unser Gehirn weiter, statt dass es sie erlebt und vergisst und so die Kapazitäten für weiteres Sinnenerleben schafft. Zuerst trennen wir zwischen sympathischen und unsympathischen Eindrücken. Die Unterscheidung besorgt das Denken: „Hier stinkt es wie im alten Affenhaus im Zoo.“ „Dieser Duft – ist das Flieder, oder woher kenne ich ihn?“ „Das muss eine Amsel sein, die dort in der Linde singt.“ „Heute hört man den Verkehr auf der Autobahn wieder, als ob sie direkt am Haus vorbeiführen würde.“ „Schau dir dieses Licht an, fast so strahlend wie am Mittelmeer.“ Während dieser lautlosen Selbstgespräche versucht unser Gehirn ein weiteres: es lehnt die negativen Eindrücke ab und versucht sie zu verdrängen – und die positiven will es für spätere Wiederverwendung speichern. Mein Gehirn kann den Duft von Maiglöckchen ähnlich einem Computer codieren und ihn wieder erkennen, wenn er mir begegnet. Aber es ist niemals in der Lage, meine Geruchsnerven aus der Erinnerung den herrlichen Duft in seiner ganzen Fülle erfahren zu lassen. Töne hingegen kann ich wiederholt erleben, das Gedächtnis vermag in meinem Kopf Melodien abzuspielen, die ich vom vielen Hören auswendig kenne, da brauche ich nicht mal einen CD-Player dazu. Den Löwenanteil der uns berührenden äußeren Eindrücke nehmen unsere Augen auf. Dementsprechend ist unser visuelles Gedächtnis am stärksten aktiv. Alles Material, mit dem unsere Phantasie seine Bilder gestaltet, befand sich einst außerhalb unseres Gehirns in der Welt draußen, und nicht selten vermischen wir reale Anblicke mit Erinnerungen. Da stehen wir zum Beispiel vor dem Rohbau eines Hauses. Aber wir sehen nicht die unverputzten Mauern, wir sehen das alte Fachwerkhaus, das dort stand und vor einigen Monaten erst dem neuen Projekt Platz machen musste. Oder wir erblicken in den Zügen geliebter Menschen das Bild von einst, als wir alle noch jünger waren und übersehen die Sorgenfalten im vertrauten Gesicht.
Mit dem Vorgesagten erzähle ich Ihnen sicher nichts Neues. Das wissen Sie alles aus eigener Erfahrung. Vielleicht nicht so bewusst wie in diesem Moment, wo Sie darauf hingewiesen werden, aber die Arbeitsweise unserer Sinne ist Ihnen vertraut und Sie erkennen nichts Ungewöhnliches in meinen Bemerkungen, jedenfalls nichts, was Laotses oder Chuang tzus Auslassungen rechtfertigen würde. Es ist schwer einsehbar, dass unsere fünf Sinne Einfluss auf unser Wesen nehmen, wie Chuang tzu behauptet, und dass Dinge, die wir sehen oder hören, Veränderungen an unserer Psyche auslösen. Und doch – das wird Sie jetzt überraschen – ist es so. Unsere Psyche bildet sich im Lauf der Entwicklungsjahre heraus. Kindheitserlebnisse, frühe Prägungen und die fundamentalen Lern- und Erfahrungsprozesse der Jugendjahre bilden einen harten, in Zukunft nahezu unveränderlichen Kern. Doch das ist nicht alles. Der nach der Geburt begonnene Prozess der psychischen Entwicklung, des Verständnisses unseres Selbst, ist niemals abgeschlossen. Es waren von Anfang an die Sinneseindrücke, welche dieses Selbst geformt haben. Unser Charakter und unsere individuellen Verhaltensmuster sind das Resultat der von der Welt draußen über die Sinne auf uns eindringenden Einflüsse. Diese ohne Unterlass auf uns einströmenden Wirkkräfte verändern an der Oberfläche Tag für Tag unsere Psyche. Es klingt paradox, ist aber nachweisbar: Am Ende eines Tages bin ich – freilich meist nur mit winzigen Veränderungen – ein anderer als früh am Morgen. Eigentlich zählt diese Wandelbarkeit zu den Schönheiten unserer geistigen Struktur, denn sie zeichnen gleichzeitig ein Abbild unserer Welt in uns nach. Sie, liebe Leserin, lieber Leser sind doch auch nicht ohne Unterbrechung in bester Stimmung. Depressive Zustände, Traurigkeit, Unzufriedenheit erleben Sie im Wechsel mit Hochstimmungen, wenn wieder einmal ein paar Dinge gelungen sind. Diese Stimmungslagen sind Indizien für die kontinuierlichen Veränderungen an der Oberflächenstruktur unseres Selbst. So betrachtet könnten die alten Chinesen doch Recht haben. Laotse sagt die Wahrheit, wenn er äußere Eindrücke beschuldigt, Verschiebungen an unserem Charakter vorzunehmen, so dass wir uns in Sonderfällen gar nicht benehmen wie es unserem vertrauten Wesen entspricht. Wenn Menschen auf längeren Wegstrecken Freude oder Leid erleben, wirkt sich dies auf ihre Psyche aus, ihr Auftreten verändert sich und manchmal erkennen wir gute Bekannte kaum wieder, wenn wir ihnen nach längerer Zeit begegnen.
Wir haben keinen Einfluss auf die Dinge, die tagtäglich auf unsere Sinne einströmen. Aber wir besitzen sehr wohl ein Mitspracherecht darüber, was wir damit anfangen. Laotse warnt voller Güte vor der zerstörerischen, blind und taub machenden Wirkung, welche die Bewegungen der Außenwelt an unserem Wesen anrichten können. „Rennen und Jagen machen der Menschen Herzen toll“, sagt er, und „ Seltene Güter machen der Menschen Wandel wirr.“ Er weist auf die Gier als die Wurzel des Übels hin, unser Verlangen nach dem Mehr, dem Mehrwert eines Lebens, der sich ohne die Jagd nach dem Glück von alleine einstellen würde. Was zu tun, beziehungsweise zu unterlassen ist, damit die Außenwelt keine Spuren in unserem Wesen mehr hinterlässt, lehrt uns die Kunst der taoistischen Lebensart. Es ist die Kunst, alle Dinge so stehen zu lassen, wie sie sich vor unseren Sinnen abspielen. Es ist die Kunst des Beobachters in uns, der verschwindet, weil er sich im Beobachteten auflöst und sich eins mit ihm fühlt. In dieser Geisteshaltung findet die Wahrnehmung des Lebens unmittelbar statt. Wir lassen unsere Sinne ihre Aufgabe erfüllen, der beobachtende Geist bleibt still, ohne sich einzumischen verharrt er im Hintergrund des Geschehens. Diese Art unser Leben wahrzunehmen geschieht aus einer Position des Nichteingreifens ins Sinnenerleben heraus. Wir kümmern uns um unseren Körper, damit er fit und gesund bleibt, wie Laotse es abschließend empfiehlt: „Darum wirkt der Berufene für den Leib und nicht fürs Auge. Er entfernt das andere und nimmt dieses.“ Unter dem Einfluss der Beobachtung verändern sich die Dinge, aber sie zerstören unser Wesen nicht. Der Mensch des Tao strahlt in guten wie in schlechten Tagen jene Gelassenheit, ja Heiterkeit aus, die nicht zuletzt ihre Wurzeln in einem Sinneserleben hat, das seine Spuren im Gehirn nur dann hinterlässt, wenn das Frauchen oder Herrchen dieses Organs es so haben will.